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Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1983 | 325 Seiten | vergriffen
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Krieg und FriedenPolitische Ökonomie des Weltfriedens
Warum entdeckt weder der gesunde noch der gelehrte Menschenverstand am Ost-West-Gegensatz, an der ‚Kriegsgefahr‘ (die alle Politiker hüben wie drüben bannen möchten, so daß man sich fragt, wer sie eigentlich heraufbeschwört!), am Gegensatz von arm und reich im Weltmaßstab, an Gastarbeitern und Ölstaaten, an der New Yorker Börse und an der Welthungerhilfe jenes Geschäft, das einmal bürgerliche wie sozialistische Theoretiker Imperialismus nannten?
Um die Beantwortung solcher Fragen, um die Analyse und Zurückweisung also gewisser ideologischer Gewohnheiten einer aufgeklärten Öffentlichkeit in Sachen Weltpolitik, geht es in Kapitel I dieses Buches - und damit um alles andere als bloße Ideologiekritik. Es sind also keine differenziert konstruierten Probleme, deren Lösungsmöglichkeiten angesichts unerbittlicher Sachzwänge das vorliegende Buch ausloten will, schon gar nicht solche der ‚Konfliktvermeidung‘. Es sind vielmehr ziemlich allgemein bekannte Tatsachen, deren Erklärung die verschiedenen Kapitel gewidmet sind: Wie abhängig die bundesdeutsche Wirtschaft von lauter weltwirtschaftlichen Bedingungen ist – vom Export, aber auch vom Import, von der Stärke ihrer Mark, die aber auch nicht zu stark sein darf, von amerikanischen Zinssätzen und japanischer Konkurrenz; wie sich mit kleinen grünen Schuldzetteln ein ganzes gesellschaftliches Produktionsverhältnis in alle Welt exportieren läßt, vorausgesetzt, alle ‚Machtfragen‘ sind klar und eindeutig beantwortet, von denen der ‚friedliche Austausch zum wechselseitigen Vorteil‘ in der modernen Welt noch allemal seinen Ausgang nimmt und die er folgerichtig auch immer wieder auf die Tagesordnung setzt, und wie die Armut ganzer Nationen beschaffen ist, die der weltweite Einsatz des überschüssigen Reichtums der Geschäftswelt einiger weniger Nationen in all seiner Wucht erzeugt.
Karl Held, geb. 1944 und Theo Ebel, geb. 1942, leben in München.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Von den Leistungen des weltpolitischen Sachverstandes und seinen Grundlagen
- 2. Der Frieden einer Weltwirtschaftsordnung
- 3. Die Weltmächte und ihre unverbrüchliche Feindschaft
- 3.1 Die NATO: Friedensgarantie durch die Vorbereitung des Dritten Weltkriegs
- 3.2 Die Sowjetunion: "Archipel Gulag", "Sozialimperialismus" oder "Weltfriedensmacht" ?
- 3.3 Die "Entspannungsära": Von Vietnam zu Afghanistan
- 3.4 Der Osthandel: zersetzende Geschäfte mit dem Feind
- 3.5 Polen: Eine Fallstudie über die Segnungen von Osthandel und "Entspannung"
- 3.6 Zwei Kriege des Sommers 1982
- 4. Die BRD: Entwicklungen eines Frontstaats
Vorwort
1.
Warum leuchtet es eigentlich sämtlichen meinungsbildenden Instanzen in unseren Breiten ein, daß die USA in Angelegenheiten, die sich in den Staaten dieser Welt und zwischen ihnen so abspielen, ‚Verantwortung‘ tragen? Warum geht jedermann einfach davon aus, daß jede weltpolitische Entwicklung die USA etwas angeht ?
Was läßt eigentlich die deutsche Zuständigkeit - für die ‚Sicherung des Friedens‘, für die politische Herrschaftsform in entlegenen Erdenwinkeln, für Konflikte zwischen kommunistischen Parteien verschiedener Ostblockstaaten usw. - so selbstverständlich erscheinen?
Mit welchem ‚Recht‘ beschließen politische Repräsentanten der Bundesrepublik zusammen mit befreundeten Regierungen über bevorzugte und zu verhindernde Regelungen einer ‚Weltwirtschaftsordnung‘ ?
Unter welchen Gesichtspunkten wird aus der selbstbewußten Beteiligung der Bundesrepublik an der Konkurrenz der Waffen eine Verteidigung der Freiheit, welche sich als unausweichliche ‚Reaktion‘ auf einen Arbeiteraufstand in Polen aufdrängt?
Warum entdeckt weder der gesunde noch der gelehrte Menschenverstand am Ost-West-Gegensatz, an der ‚Kriegsgefahr‘ (die alle Politiker hüben wie drüben bannen möchten, so daß man sich fragt, wer sie eigentlich heraufbeschwört!), am Gegensatz von arm und reich im Weltmaßstab, an Gastarbeitern und Ölstaaten, an der New Yorker Börse und an der Welthungerhilfe jenes Geschäft, das einmal bürgerliche wie sozialistische Theoretiker Imperialismus nannten?
Um die Beantwortung solcher Fragen, um die Analyse und Zurückweisung also gewisser ideologischer Gewohnheiten einer aufgeklärten Öffentlichkeit in Sachen Weltpolitik, geht es in Kapitel I dieses Buches - und damit um alles andere als bloße Ideologiekritik. Als praktisch gültig gemachte, in die Tat umgesetzte Weltanschauungen sind die ideologischen Botschaften, mit denen die Akteure des weltpolitischen Geschehens ihre Entscheidungen bekanntgeben und kommentieren lassen, nicht einfach nur Unwahrheiten, an denen ein maßgebliches Interesse besteht. Sie sind nach der einen Seite hin die Methode, nach der die wirklichen Subjekte der Weltpolitik sich ihre Vorhaben als Aufgaben definieren und entsprechend zu Werk gehen. Nach der anderen Seite hin stellen sie die Methode dar, nach der jene maßgeblich engagierten Statisten, ohne deren gehorsamen Einsatz die Macher des Weltgeschehens aufgeschmissen wären, die nützlichen Staatsbürger der tonangebenden Demokratien, mitmachen, was immer ihre frei gewählten Regenten von ihnen verlangen. So sind die Ideologien der Weltpolitik untrügliches Indiz und Gebrauchsanweisung der selbstherrlichen Freiheit derer, die für diese Welt so gern ‚die Verantwortung tragen‘. Wer daher die Selbstdarstellung der internationalen Politik begreift, der verfügt zugleich über eine Diagnose der bedeutenden Fortschritte eben dieser Freiheit seit den Tagen, die heute im historischen Rückblick ‚Imperialismus‘ heißen, ausgerechnet weil die weltweite Zuständigkeit eines knappen Dutzend demokratischer Regierungen damals noch keineswegs eine ausgemachte Sache war: dafür gab es noch eine Arbeiterbewegung, der und deren Theoretikern die außenpolitischen Manöver ihrer Nation genauso verdächtig waren wie die der anderen.
Sein Material entnimmt das Kapitel I der modernen bundesdeutschen Ideologie, wie sie von den angesehenen Politikern der Nation als die maßgebliche Interpretation ihrer Taten verkündet, von einer kritischen Öffentlichkeit verantwortungsbewußt variiert und ‚vertieft‘ wird. Zu ‚entlarven‘ gibt es hier nämlich genauso wenig wie ‚Hintergründe aufzudecken‘. Nicht, was sich an nationalistischer Geheimbündelei, verdeckten Querverbindungen zwischen gewissen politischen Lagern, Geheimdiensteinflüssen usw. um das Geschäft und die selbstbewußten Methoden demokratischer Weltpolitik herumrankt, gibt die nötigen Aufschlüsse über deren Zwecke und Prinzipien, sondern das, was täglich in Zeitungen und Nachrichten als unskandalöser Normalfall des Weltgeschehens bekanntgemacht wird. Tatsächlich wird ja auch von den paar Skandalen, in deren Aufdeckung findige Journalisten ihren Ehrgeiz und Memoirenschreiber ihren Stolz als ‚Aufklärer‘ setzen, kein Mensch wirklich überrascht, weil sowieso ein jeder in dieser Sphäre mit allem rechnet und sich an nichts stört. Nicht an Informationen über das Weltgeschehen fehlt es dem betroffenen Staatsbürger von heute - das Nötige bekommt sogar der berüchtigte Bild-Zeitungsleser allemal mit -, sondern an der Bereitschaft, daraus andere als die öffentlich beliebten Schlußfolgerungen zu ziehen.
Abwechslung oder gar Abhilfe bietet hier auch die akademische Befassung mit den ‚Phänomenen‘ der Weltpolitik nicht. Beliebt und üblich sind hier auf der einen Seite die Schilderung von Wohlfahrt und Elend auf der Welt, die Dokumentation von wirtschaftlichen Wachstumsraten und terms of trade, die Anfertigung von Statistiken über den weltweiten Hunger und seine Zu- oder Abnahme, die Sammlung von Materialien über den globalen Waffenhandel usw. - gerade so, als fehlte immerzu und gerade noch eine letzte, noch exaktere, noch besser belegte Information für ein sachgerechtes Urteil über den Lauf der Welt. Dieser falschen Ehrfurcht vor den ‚Fakten‘, deren Vielfalt und Veränderlichkeit kein politischer Wissenschaftler heute noch mit einer Erklärung zu nahe treten möchte, entspricht auf der anderen Seite die Ausarbeitung wissenschaftstheoretischer Bedenklichkeiten, des keiner weiteren Begründung bedürftigen abstrakten Zweifels an der Möglichkeit stichhaltiger Erklärungen der Weltlage, zu ‚hochdifferenzierten Forschungsansätzen‘, die nur mehr einem Bedürfnis Genüge tun: dem nach der Demonstration eine unschlagbaren Problembewußtseins. Inwiefern diese theoretische Stellung zur Weltpolitik allein dazu angetan ist, deren harte Banalitäten nach den Kriterien eines modernen wissenschaftlichen Geschmacks in lauter überaus komplizierte, theoretisch kaum und praktisch schon gleich gar nicht zu bewältigende ‚Sachzwänge‘ umzudichten, zeigt der Abschnitt 5 des Kapitels I mit der exemplarischen Klarlegung gewisser in dieser Sphäre gepflogener Denkweisen. Der dort begründete Vorwurf einer die wissenschaftlichen Methoden bestimmenden Parteilichkeit für die Verhältnisse, die da einer wohlwollenden Umdeutung in lauter Probleme unterzogen werden - so als wäre alles Unerfreuliche auf dieser Welt ein Beweis für lauter gute Absichten, denen es leider im Wege steht -, ist durchaus als Absichtserklärung zu verstehen: Die Autoren dieses Buches haben nicht vor, ausgerechnet an den harten Praktiken der Weltpolitik für einen besonderen, originellen Gesichtspunkt Komplimente für die Erfüllung solch lieblicher methodischer Kriterien wie ‚Differenziertheit‘, ‚Seriosität‘, ‚Kenntnisreichtum‘, ‚Durchblick‘, ‚fortgeschrittenes Methodenbewußtsein‘, ‚Problemsicht‘ usw. einzufangen.
Der das Kapitel I abschließende Exkurs zu dem Klassiker der marxistischen Imperialismustheorie, zu Lenins berühmter, kaum gelesener Schrift, rechnet dieser daher auch nicht die Verfehlung gewisser wissenschaftstheoretischer Vorschriften vor, sondern kritisiert die falschen Argumente, mit denen dieser revisionistische Revolutionär gegen die Friedensbewegung innerhalb der damaligen Sozialistischen Internationale zu Felde gezogen ist. Damit wird zugleich umgekehrt klargestellt, inwiefern der Idealismus des Friedens das letzte und härteste Argument gegen jede Erklärung des Imperialismus hergibt, also auch, warum die wieder aktuell gewordene ‚Friedenssehnsucht‘ so gründlich staatsbürgerlich-untertänig ist.
2.
Es sind also keine differenziert konstruierten Probleme, deren Lösungsmöglichkeiten angesichts unerbittlicher Sachzwänge das vorliegende Buch ausloten will, schon gar nicht solche der ‚Konfliktvermeidung‘ , jenes ganz und gar fiktiven Zwecks, an den Politiker ihre Untertanen und Politologen ihre Leser und Hörer so gern als Grundprinzip von Weltpolitik glauben machen möchten. Es sind ziemlich allgemein bekannte, jedenfalls zur Genüge bekanntgemachte Tatsachen, deren Erklärung die Kapitel II, III und IV sich widmen.
Wie abhängig die bundesdeutsche Wirtschaft sei von lauter weltwirtschaftlichen Bedingungen - vom Export, aber auch vom Import, von der Stärke ihrer Mark, die aber auch nicht zu stark sein darf, von amerikanischen Zinssätzen und japanischer Konkurrenz -, bekommt ein Zeitungsleser und Fernsehzuschauer beliebig oft mitgeteilt. Dabei könnte ihm zwar schon bisweilen aufgehen, was für eine schillernde Angelegenheit diese in wechselndem Tenor beschworene ‚Abhängigkeit‘ des Erfolgs der Nation ist: Ist eine ‚starke D-Mark‘ denn nun gut oder schlecht? Wenn US-Zinsen und Japanerfleiß sich auf bundesdeutsche Wachstumsraten auswirken: setzt das nicht bundesdeutsche Geschäftsleute voraus, die sich des Dollar und fernöstlicher Mikroelektronik für ihren, also doch wohl auch für irgendeinen nationalen Geschäftsvorteil bedienen? Hängt Kenia vom bundesdeutschen Kaffeeimport ab, oder der deutsche Kaffeetrinker von der kenianischen Kaffee-Ernte, oder ist dieses Verhältnis womöglich mit der methodischen Vokabel ‚Wechselwirkung‘ auf den Begriff gebracht? Ist es nicht ein Unterschied, ob ein Land Öl verkauft oder ein Großunternehmen Raffinerien?
Selbst mit der ‚Erkenntnis‘, daß die ‚Abhängigkeit‘ der nationalen Ökonomien voneinander sich bisweilen sehr einseitig gestaltet, ist allerdings noch nicht viel gewonnen; schon gar nicht, solange man sich jenes ominöse Ding namens ‚Weltmarkt‘ nach Analogie eines Kaufhauses zu erklären sucht. Wie sich mit kleinen grünen Schuldzetteln ein ganzes gesellschaftliches Produktionsverhältnis in alle Welt exportieren läßt - Abschnitt 3 -, vorausgesetzt, alle ‚Machtfragen‘ sind klar und eindeutig beantwortet - Abschnitt 1 -, von denen der ‚friedliche Austausch zum wechselseitigen Vorteil‘ in der modernen Welt noch allemal seinen Ausgang nimmt und die er folgerichtig auch immer wieder auf die Tagesordnung setzt - Abschnitt 2 -, und zwar gerade dort, wo es den Nationen verboten ist, die ‚Machtfrage‘ untereinander überhaupt mit letzter Konsequenz aufzuwerfen - Abschnitt 4 -; und wie die Armut ganzer Nationen beschaffen ist, die der weltweite Einsatz des überschüssigen Reichtums der Geschäftswelt einiger weniger Nationen in all seiner Wucht nie aufhebt, sondern zu immer neuen Blüten treibt - Abschnitt 5 -: das sind die Themen des Kapitels II. Freunde und Skeptiker des ‚Europagedankens‘ werden da ebenso mit einigen Klarstellungen konfrontiert wie Kritiker einer ‚Weltwirtschaftsordnung‘, an der sie den Goldstandard oder dessen Preisgabe, feste Wechselkurse oder flexible, die Multis oder auch einen zu geringen ‚Kapitaltransfer‘, einen ‚ungerechten Tausch‘ oder ‚strukturelle Ungleichgewichte‘ in den Sachgesetzen der terms of trade, das ‚laissez-faire‘ oder eine ‚Vermachtung der Märkte‘ als Mangel oder Dilemma ausgemacht haben wollen.
Daß imperialistische Politik den Geschäftsinteressen tatkräftiger Kapitale einer Nation dient, heißt alles andere, als daß sie und ihre Macher Knechte des kapitalistischen Schachers wären. Ihrer Gesellschaft nützlich ist eine bürgerliche Staatsgewalt gerade kraft der Souveränität, mit der sie nach außen agiert, ganz jenseits aller Rentabilitätskriterien der Geschäftswelt, der sie damit den Weg bahnt. Damit die Welt zum Markt wird und einer bleibt, haben die Hauptakteure des Weltgeschehens nach dem vorigen Weltkrieg unter der Oberhoheit des großen Siegers nicht zufällig ein schon in Friedenszeiten sehr tatkräftiges Bündnis für den ‚Verteidigungsfall‘ geschlossen und mit Leben erfüllt. Sie rüsten für einen Krieg, der sich ganz bestimmt nie bezahlt macht - dessen Vorbereitung sich aber dennoch lohnt, weil so dafür gesorgt ist, daß die sozialistische Ausnahme von der zum Markt gestalteten und kontrollierten Welt eine unerfreuliche Ausnahme bleibt. Das Kapitel III erklärt in Abschnitt 1 die Logik des imperialistischen Gewaltapparats, den die USA und ihre Verbündeten sich für diesen Zweck zugelegt haben, und in dem Zusammenhang auch, weshalb die seit Beginn der achtziger Jahre offiziell und öffentlich widerrufene trostreiche Illusion, ein Atomkrieg wäre ‚nicht führbar‘, auch schon vor der Erfindung von Neutronenbombe und cruise missile nichts als eine trostreiche Illusion war.
In Abschnitt 2 dieses Kapitels wird endgültig jeder fündig werden, der die republikanische Gesinnungstreue des Buches nach dem hierzulande so beliebten seriösen und hochdifferenzierten Kriterium einer unmißverständlichen Verurteilung der Sowjetunion überprüfen möchte. Denn dort wird weder die weltpolitische Schuldfrage so gerecht aufgerollt, daß per saldo ein Dank an die westlichen Staatsgewalten für den Schutz - trotz allem! - vor östlichem Unmenschentum herausschaut, noch jene zunehmend beliebte Form antisowjetischer Hetze gepflegt, die dem gegnerischen ‚System‘ seine hoffnungslose Ineffizienz vorrechnet und so den Beweis führt, daß es gar nichts anderes mehr als seinen alsbaldigen Untergang verdient. Statt dessen wird die ‚Systemfrage‘ einmal theoretisch ernst genommen und die unerhörte Behauptung begründet, daß der sowjetische Staat in seinem Bemühen um Anerkennung durch die maßgeblichen Mächte, die ihn zum Hauptfeind erklärt haben, nichts als einen falschen defensiven Antiimperialismus praktiziert.
Die - alten oder nachträglichen - Freunde der Entspannungspolitik wird vielleicht noch mehr der in Abschnitt 3 geführte Nachweis ärgern, inwiefern der amerikanische Beschluß, dieses goldene Zeitalter zu beenden, die für imperialistische Politiker unabweisbare Konsequenz aus der Tatsache darstellt, daß sie sich in dieser Ära so erfolgreich um eine für sie günstige Korrektur des weltweiten Kräfteverhältnisses bemüht haben. Schließlich hat der Westen in dem besagten Jahrzehnt nicht bloß neue Maßstäbe für eine moderne Waffentechnik gesetzt. Er hat auch eine der Sowjetunion allenthalben feindliche Sortierung und Ordnung der gesamten Staatenwelt durchgesetzt und zementiert; daß dieser Sachverhalt mit der Aufzählung von ‚imperialistischen Eroberungen‘, durch die sich die Sowjetunion von Afghanistan bis nach Jemen ausgedehnt haben soll, aufs heftigste dementiert wird, kann nur die Zweifel an der ‚Friedensliebe‘ derer bestärken, denen der freie Westen immer noch zu klein ist, weil nicht alles zu ihm gehört. Zur selben Zeit ist außerdem die friedliche Benutzung slawischer Wirtschaftskraft, um die vor allem die bundesdeutsche Friedenspolitik sich so verdient gemacht hat, fortgediehen bis zur ‚naturwüchsigen‘ Zersetzung der Produktionsweise, mit der die revisionistischen Staaten sich einst aus dem kapitalistischen Weltmarkt ausgegliedert haben. Dem imperialistischen Erpressungsgeschäft der freien Welt hat so der Osthandel, der in Abschnitt 4 behandelt wird, ein zusätzliches Arsenal politischer Waffen verschafft, von dem die kalten Krieger ehedem nicht einmal zu träumen wagten. Damit steht, so oder so, die ‚Befreiung‘ des Ostblocks auf der Tagesordnung - für die betroffenen Völker, wie am ‚Fall Polen‘ in Abschnitt 5 des Kapitels III gezeigt wird, kein Glück, sondern ausnahmslos und in jeder Hinsicht ein entschiedenes Pech!
Kapitel IV schließlich widmet sich der Erklärung einiger Tatsachen, die das unmittelbar betroffene Publikum besser nicht wie Selbstverständlichkeiten hinnehmen sollte - z. B. der folgenden: Entgegen allen Regeln diplomatischer Höflichkeit wird die Good-will-Tour des sowjetischen Staatschefs an den Rhein von der besuchten bundesdeutschen Führungsmannschaft zu einer einzigen Demonstration westlicher Intransigenz ausgestaltet; einer Unnachgiebigkeit, an der der Sowjetmensch sogar mit seinem Angebot eines ziemlich einseitigen Rüstungsmoratoriums voll aufläuft. Sein Nachfolger hat es mit einem deutschen Kanzler zu tun, der die von ihm abgelöste Regierung Schmidt bezichtigt, sich als ‚Vermittler‘ zwischen den Weltmächten aufgespielt zu haben und dabei von den unverzichtbaren Prinzipien westdeutscher Außenpolitik abgerückt zu sein. Die Regierung Kohl sieht die Bedingungen für die ‚Nachrüstung‘ allemal für erfüllt an, sie duldet nicht einmal den modisch gewordenen Schein eines Vorbehalts und das heuchlerische ‚leider‘ der Opposition. Vielmehr besteht sie ohne Umschweife auf den Maßnahmen, auf deren öffentliche ‚Begründung‘ die sozialliberale Koalition so viel Mühe verwandt hatte.
Die Vorhaben der Bundesregierung in Sachen Militär werden von allen Parteien als unausweichliche ‚Reaktion‘ auf Afghanistan, Polen und die Existenz sowjetischer Waffen gehandelt. Die SS20-Raketen, die die bundesdeutschen Politiker angeblich um ihre Souveränität fürchten lassen, gelten als erstklassige Argumente für die ohnehin längst beschlossene Herstellung eines strategischen ‚Gleichgewichts‘ ganz speziell zwischen Westeuropa und dem Ostblock. Rüstungsdiplomatie findet nur noch in ultimativer Form statt; der Klartext der ‚Null-Lösung‘ wird offiziell mit ‚einseitiger Abrüstung der Sowjetunion‘ angegeben; die Befürwortung von Verhandlungen, die das und sonst nichts zum Inhalt haben, läuft als diplomatischer Restposten des sozial-liberalen ‚Entspannungswillens‘ - und selbst dieses einst so schöne Etikett unterliegt innenpolitisch wie diplomatisch einem rasanten Kursverfall.
Die Kosten der bundesdeutschen Teilnahme am NATO-Programm der achtziger Jahre, für die die Reagan-Regierung mit ihrem 1500-Milliarden-Dollar-Rüstungsvorhaben gewisse Maßstäbe setzt, werden unter dem Titel ‚Sparhaushalt‘ rücksichtslos eingetrieben. Den entsprechend verschärften Ansprüchen an Leistungskraft und Erfolg des bundesdeutschen Unternehmertums kommt dieses so energisch nach, daß die überflüssig gemachten Arbeitskräfte nach Millionen zählen. Die Konsequenzen, die für auf ‚Verantwortung‘ abonnierte Politiker unter solch mißlichen ‚Umständen‘ - als vorgefundene und zu bewältigende ‚Lage‘, als eine einzige Ansammlung von ‚Krisen‘ definiert ein Staatsmann noch stets das Resultat seiner eigenen Werke - unausweichlich sind, hat zunächst noch die Sozialdemokratie ziehen dürfen. Vom ‚Problem Nr. 1‘, der Arbeitslosigkeit, in ihrer sozialstaatlichen Verantwortung gefordert, hat sie Steuererhöhungen und -erleichterungen, Zuwendungen an die einen und Ersparnisse an den anderen verfügt und die Opfer, die sie den ‚sozial Schwachen‘ auferlegt hat, mit dem Titel ‚Beschäftigungsprogramm‘ versehen. Ihre Politik wird inzwischen fortgeführt von einer neuen Regierung, deren ‚geistige Führung‘ schon immer auf die Anwendung des Glaubensgrundsatzes bedacht war, daß den von ‚der Wirtschaft‘ Abhängigen auch die Rettung der Wirtschaft obliege. Seit dem Machtantritt der christlichen Retter der Nation weiß nun jeder, der es wissen will, daß die alte Regierungspartei und neue Opposition keinen einzigen Einwand gegen den nun schonungslos praktizierten Nationalismus und seine Maßstäbe hat, sondern höchstens Bedenken der Art vorbringt, ob denn die ‚Wende‘ auch den allseits verehrten Zielen der Nation so effektiv zur Durchsetzung verhelfe, wie es ihre Protagonisten behaupten.
Der prinzipiellen Einigkeit aller Demokraten eingedenk, hat sich die professionelle Öffentlichkeit auch gleich heftig auf Methodenfragen des Machtwechsels verlegt und den Sturz der sozial-liberalen Koalition nicht so sehr mit lästiger Kritik am Inhalt der Politik konfrontiert. Wie selbstverständlich rangierten Stilfragen vor der Beurteilung ihrer Vorhaben, die - ausnahmslos dieselben wie die der Vorgänger - nun endgültig als unwidersprechliche Essentials deutschen Strebens an der Seite der USA, und als lauter schwere Aufgaben dazu, anerkannt sind.
Immerhin ist bei der Veranstaltung namens ‚Wende‘ eine Wahrheit unter die Leute gebracht worden. Mit dem Beschluß, Neuwahlen abzuhalten, und den höchstamtlichen Kommentaren zu Sieg und Niederlage ist nämlich der Nutzen von Wahlen klargestellt worden: sie machen eine Regierung ‚stabil‘, weil mit der Abgabe der Stimmen die neuen Amtsträger zu ungestörtem Regieren, zur gewissenhaft-rücksichtslosen ‚Handlungsfreiheit‘ ermächtigt sind.
Und diese Freiheit wird auch kompromißlos genutzt, für eine ‚Politik der Wende‘, der es offenbar nicht schwerfällt, auf den innen- und außenpolitischen Errungenschaften von ‚13 Jahren Sozialismus‘ aufzubauen. Mit ökonomischen und militärischen Mitteln ausgestattet, die weltweit ihre Wirkung tun und alles andere verraten als 'die ‚Erblast‘ eines Verrats an der Sicherheit, den Finanzen und dem Zutrauen der Bürger zur Nation, widmet sich die neue Regierung der Aufstellung von Raketen, hält - ganz im Vertrauen auf im Rahmen der NATO erreichte Weltgeltung - die ‚deutsche Frage nicht nur theoretisch offen‘, benützt die Arbeitslosen als Rechtstitel auf jedes weitere Opfer, das ihr einfällt, und sie erinnert in ihren Anstrengungen zur ‚politischen Willensbildung‘ an die Leistungen, die während der Nachkriegszeit ihren Untertanen das Leben so Opfer-, also sinnvoll und den C-Regierungen das ‚Wirtschaftswunder‘ so erfolgreich gestaltet haben.
Das alles hält die offiziell geachtete Vertretung der Opfer - sowohl des ‚Wirtschaftswunders‘ wie des ‚Modell Deutschland‘ -, die westdeutsche Einheitsgewerkschaft, für notwendig, so daß sie in Tarifrunden die Löhne der Lohnabhängigen der ‚Wirtschaft‘ und dem Fiskus zur Disposition stellt und Verständnis für sämtliche sicherheitspolitischen Ziele von Polen bis Südafrika pflegt.
Das alles hat sogar dahin gerührt, daß eine Friedensbewegung, die in militärischen und ‚Umwelt‘dingen vom Mißtrauen gegen die Regierenden ausgegangen ist, als einzig nennenswerter Repräsentant von Kritik geführt wurde. Nach ihrem Wahlerfolg haben die Grünen den Weg zur konstruktiv-parlamentarischen Sorge um das Wohl der Nation zwar auch der Form nach gefunden, gelten aber anhand der akribisch registrierten Verstöße gegen politische Sitten immer noch als die einzige Störung im ansonsten stabilen Betrieb der NATO-Macht BRD, in dem einige Sicherheitsdienste mit der Überwachung und Unterwanderung der wenig zahlreichen Linken betraut sind.
Das alles ist zwar nicht ohne seine Logik, aber keineswegs ‚nicht anders möglich‘! Und gut, wahr und schön, gar einem historischen ‚Schicksal‘ geschuldet ist das Zusammenspiel von Machern und Mitmachern schon gleich gar nicht.
3.
Gegen den so verbindlich gestalteten Glauben an verordnete und gebilligte ‚Notwendigkeiten‘ findet sich im vorliegenden Buch mancher Einwand. Es führt Überlegungen fort, die in anderer Form in der Reihe RESULTATE publiziert sind, auf die hier verwiesen sei. Insbesondere auf:
- Nr. 1 (Neufassung): Die Bundesrepublik Deutschland 1980 - und was Marxisten in den 80er Jahren an ihr zu ändern haben, München 1980.
- Nr. 4: Imperialismus I: Ableitung mit einem Anhang zur Kritik antiimperialistischer Illusionen über Staat und Revolution, München 1979.
- Nr. 5: Imperialismus II: Die USA - Weltmacht Nr.1, München 1979 (mit Beiträgen zu den Themen ‚Die Weltmacht Nr. 1‘, ‚IMF, GATT und die Weltwirtschaftsordnung‘, ‚Die Militärmacht USA - Kriegslogik im Atomzeitalter‘, ‚Klarstellungen zum Vietnamkrieg‘, ‚Die amerikanische Kultur‘).
- Nr. 6: Imperialismus III: Europa - Osthandel - Afrika - Das Öl - Iran - Brasilien, München 1981.
Der vorliegende Text wurde im Frühjahr 1983 fertiggestellt. Die aktuellen Fortschritte der ‚Weltlage‘, deren Prinzipien hier analysiert werden, sind Gegenstand des von den Autoren mitbetreuten Politischen Magazins MSZ (Marxistische Studenten-Zeitung) sowie der Reihe ‚Abweichende Meinungen‘, von der bisher erschienen sind:
- K. Held, Abweichende Meinungen zu Polen. München 1982.
- Th. Ebel, Abweichende Meinungen zum Falkland-Krieg. München 1982.
- H. L. Fertl, Abweichende Meinungen zu Israel. München 1982.
1. Von den Leistungen des weltpolitischen Sachverstandes und seinen Grundlagen
In Staaten, die demokratisch mit ihren Untertanen verfahren, gehört es zur guten Sitte, daß die Regierungen den Regierten zu den Taten, die sie ihnen bescheren, auch noch eine plausible Deutung liefern und daß die so am politischen Geschäft beteiligten Bürger sich das Ihre dazu vordenken lassen und nachdenken. Das Einverständnis zwischen Staatsmännern und Volk, das sich in ordentlichen Demokratien auf diese Weise einstellt, ist deswegen sehr stabil, weil es nicht von der Überzeugungskraft, geschweige denn von der Wahrheit der von oben nach unten vermittelten Einschätzungen und Lagebeurteilungen abhängt. Es beruht auf der beiden Seiten sehr geläufigen Methode, die Abhängigkeit der Bürger von ihrem Staat als guten Grund für eine Parteinahme für ihn zu behandeln.
1.1 ‚Unsere Interessen‘
Politiker sind ständig damit beschäftigt, sie zu wahren und durchzusetzen. Sie machen sie militärisch aus an Stützpunkten von Freund und Feind, an erhaltenen, in Frage gestellten und zu schaffenden, definieren ihre Unverzichtbarkeit nach Breitengraden und messen den gesamten Globus aus, um nur das eine klarzustellen: wo ist die Präsenz eigener Soldaten samt Gerät unverzichtbar, wo darf die Präsenz von Truppen des anderen Lagers nicht hingenommen werden. Während ein Flugzeugträger mit Sowjetstern am Bug eine ‚Gefahr‘ darstellt, dient das entsprechende Gefährt mit amerikanischem Heimathafen allemal der Verteidigung ‚unserer Interessen‘. Und die reichen nicht nur um die ganze Welt - sie reichen auch als moralischer Ausweis für die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der Anhäufung von Rüstungspotential, dessen Wucht so gerne in Vergleichen mit Dresden und Hiroshima vorstellig gemacht wird. Dazu ist nicht einmal die leiseste Andeutung bezüglich der Beschaffenheit jener Interessen vonnöten: das Argument liegt im ‚unsere‘ und der nachdrücklichen Behauptung, daß es sie gibt. Und daß das, was in jeder Weltgegend zu verteidigen ist, einem russischen Interesse jede moralische Würde abspricht - daß dergleichen also andere zu nichts berechtigt -, ist eben damit auch schon gesagt. Die Ausschließlichkeit ist beschlossene Sache, und als solche wird sie mitgeteilt. Wenn das, was es zu schützen gilt, nicht existent und wichtig und auch für andere von - natürlich zweifelhaftem - Interesse wäre, hätte ja auch die Drohung mit militärischer Gewalt keinen Sinn, oder? - so zumindest lautet die Logik des Strategen. Und er ist auch in dem Punkt skrupellos ehrlich: Wer mehr zu verteidigen hat, braucht auch viel mehr Waffen.
In ihren politisch-diplomatischen Entdeckungsreisen wird dieselbe Logik genauso fündig. ‚Unser Interesse‘ führt da ohne große Umstände zur Anerkennung einer Regierung in fernen Landen, oder auch zur Ächtung eines Regimes. Und ‚Anerkennung‘ ist in der Diplomatie keine theoretische Kategorie - das moralische Verdikt steht da allemal für die Aufnahme von ‚Beziehungen‘, aus denen eine fremde Regierung wie auch immer geartete Vorteile und Nachteile bei der Abwicklung ihrer Herrschaft erfährt. Mit der Aberkennung der Vertragswürdigkeit geht einher, daß auch keine Verträge geschlossen und erfüllt werden - und ein entsprechend geächteter Staat kann weder auf Maschinengewehre rechnen noch auf Kredite oder auf die geregelte Erledigung des Heringsfangs vor seiner Küste. Und weil in der praktischen Beurteilung auswärtiger Herrschaftsgestaltung der Anspruch geltend gemacht wird, das Regieren dortzulande möge entweder ‚unserem Interesse‘ gemäß ablaufen oder es habe mit Schwierigkeiten zu rechnen, pflegt diese Sorte ‚Einflußnahme‘ damit begründet zu werden, daß es sich keineswegs um die Techniken der Erpressung handelt, sondern um die Wahrung des Einflusses, auf den die eigene Nation angewiesen ist. So erscheint die Respektierung eines auswärtigen Souveräns als Folge der Nützlichkeit, die man von ihm aber erwarten darf, weil man von brauchbaren Staaten in der Welt abhängig ist: So ist ‚Abhängigkeit‘ schließlich dasselbe wie ein unverzichtbarer Nutzen, auf dessen Erstattung ein Staat unter Anwendung der ihm zu Gebote stehenden Mittel besteht. Nie käme ein demokratischer Staatsmann der Bundesrepublik darauf, seine Reisen zu gewählten wie ungewählten Staatsoberhäuptern mit dem Verdikt der ‚Einmischung‘ zu belegen, auch wenn er die erwünschten Beziehungen an noch so viele Bedingungen außen- und innenpolitischen Wohlverhaltens knüpft. Einer ‚Einmischung‘ aber machen sich diejenigen schuldig, die nicht einmal den Beweis dafür erbringen können, daß bestehende Interessen vorhanden sind; die also auch zu Recht keine Verletzung derselben monieren können, so daß ihnen gegenüber der Grundsatz der ‚Nicht-Einmischung hochgehalten wird und zur Anwendung gelangt, auf den alle Souveräne dieser Welt ein Recht besitzen.
Die Logik der internationalen Diplomatie steht somit der von Strategen in nichts nach. ‚Unsere Interessen‘ gebieten und rechtfertigen Gewalt, ebensolches gilt für vor-militärische Einflußnahme - überall dort, wo es sich um eine ‚Einflußsphäre‘ handelt. Die ökonomische Besichtigung der Welt, die aller Herren Länder dem Maßstab unterwirft, ob sie über Import und Export zum Partner der heimischen Wirtschaft taugen, ob sie zu einer weitergehenden Zusammenarbeit fähig oder willens sind, die sich lohnt, vervollständigt diese Logik. Auf diesem Gebiet, wo der Materialismus der Nation in Geld beziffert wird, will allerdings die platte Gewinn- und Verlustrechnung noch weniger auf ihre höhere und tiefere Bedeutung verzichten: das internationale Geschäft ist nicht nur nützlich, sondern auch gut. Der eigene Vorteil wird von den Repräsentanten des nationalen Wirtschaftswachstums um so mehr in den gemeinsamen Nutzen der ‚Partner‘ übersetzt, als das Interesse der fremden Nation die Höhe jener Ziffern beschränkt, auf die es ankommt. So steht gerade beim Schacher um Zölle, Lieferbedingungen, Zahlungsweisen, Kredite und Investitionen immer wieder die Klage über die Abhängigkeit an, in der man sich vom ‚Partner‘ befindet; da erscheint ‚unser Interesse‘ umstandslos als ‚Ohnmacht‘, die durch die mächtige Position eines Konkurrenten - der etwas zu verkaufen, zu verzollen, zu importieren und zu investieren hat - schamlos ausgenützt wird. Und die Staatenwelt wird gemäß den Konditionen, die sie sich aufherrschen läßt, sortiert. Ihr Umgang mit Geld, Ware und Kapital im grenzüberschreitenden Verkehr gewinnt da noch allemal die Qualität eines guten Willens zur Zusammenarbeit, einer Störung der üblichen Gepflogenheiten auf dem Weltmarkt oder - eines untragbaren Verstoßes gegen die Freiheit des internationalen Geschäfts, auf das ‚wir alle‘ angewiesen sind. Und auch solche Beurteilungen sind keine Meinung von Beobachtern des modernen Weltgetriebes, sondern die praktizierte Vernunft von Staatenlenkern, die den Weltmarkt durch ihre Entscheidungen gestalten.
Die Methode, nach der moderne Staatsmänner ihre weltpolitischen Aktionen ‚begründen‘ und durchführen, verrät nicht wenig über das Ausmaß an Freiheit, das sie als Souveräne genießen. Niemandem sonst ist es im bürgerlichen Leben gestattet, sein Interesse als Argument für die Anwendung von Gewalt geltend zu machen - den Repräsentanten eines Staates ist dergleichen selbstverständlich. Auch die Drohung mit Gewalt im Namen des Eigennutzes gegenüber anderen, die sich der ‚Einmischung‘ in die eigene ‚Einflußsphäre‘ schuldig machen, ist eine Gepflogenheit, in deren Genuß nur Volksvertreter kommen, ohne in den Verdacht zu geraten, den freien Willen und die Menschenwürde zu mißachten. Was im gesellschaftlichen Leben innerhalb ihres Staates jedem Individuum versagt ist - der Gebrauch von Gewalt zur Erreichung eines Vorteils - und von der öffentlichen Gewalt als Verbrechen verfolgt wird, gilt im Verkehr zwischen Staaten als gute politische Sitte. Und daß sie in der Verfolgung ihres nationalen Interesses, in der Mehrung des Reichtums, pflichtgemäß handeln, also die moralische Legitimation besitzen, die gesamte Staatenwelt samt ihren Völkern in ihre Berechnungen einzubeziehen, unterscheidet sie auch gewaltig von gewöhnlichen Bürgern des 20. Jahrhunderts. Staatsmänner, die jede außenpolitische Maßnahme als Reaktion auf Geschehnisse in der Welt, auf ihnen passende oder unliebsame Werke anderer darstellen, handeln in der Gewißheit, daß sie alles angeht: ihrer Zuständigkeit sind keine Grenzen gesetzt, weil die Welt das Material ihrer Souveränität ist. Deswegen sind sie auch von allem, was andere tun und lassen, betroffen.
1.2 ‚Wir‘
Das alles hat mit privatem Eigennutz nichts zu tun. Wenn die Repräsentanten einer Nation von ‚politischem Gewicht‘ wie Erpresser zu Werke gehen und Gewalt als das ihnen zustehende Mittel handhaben, dann erstreckt sich ihre Zuständigkeit auf den politischen und ökonomischen Erfolg des Staates, dem sie vorstehen; und dasselbe gilt für ihre Betroffenheit im Falle von Mißerfolgen, auch wenn es zur guten Sitte gehört, das persönliche ‚Schicksal‘ mit dem Gelingen auch der außenpolitischen Amtsgeschäfte zu ‚verknüpfen‘. Die Demokratien des freien Westens - und von ihrem Gebaren in der Weltpolitik ist bisher die Rede - haben nun einmal mit den in Diktaturen noch üblichen Bräuchen aufgeräumt, ihre erfolglosen Führer nicht nur aus dem Amt, sondern auch aus dem Leben zu befördern. Wenn ein deutscher Kanzler von Gipfeltreffen aller Art mit unliebsamen Maßnahmen des mehr oder minder befreundeten Auslands zurückkehrt, dann mag schon das demokratische Verlangen nach einem Regierungswechsel laut werden; er wird sich aber bei der Bekanntgabe seiner ‚Reaktion‘ hüten, sein persönliches Wohlergehen zum Maßstab der ‚Lage‘ und der ‚fälligen Entscheidungen‘ zu erheben. Mit dem Plural maiestatis hat es schon eine eigene Bewandtnis.
Angenommen, der führende Mann einer führenden demokratischen Nation beschließt wegen ‚unserer Interessen‘ samt seinem Kabinett, daß wir im Verein mit unseren amerikanischen Freunden aufrüsten müssen, so macht er gar kein großes Geheimnis daraus, daß nach der Verkündung des Beschlusses seine Zuständigkeit erledigt ist und seine Betroffenheit durch die gefährliche Weltlage, die tiefe Sorge, die ihn erfüllt, eine Frage der Selbstdarstellung wird. Er verbreitet sogar öffentlich nicht nur die Gründe für seine Entscheidung, sondern auch deren Konsequenzen: Das Kriegsgerät will erstens bezahlt sein und zweitens bedient. Und damit hat auch das Volk, von dem alle Macht ausgeht, seine Rolle in der Militärpolitik zugewiesen bekommen. Für die Bezahlung steht es im Rahmen eines ‚Sparhaushalts‘ gerade, durch den sich die Regierung einerseits Auslagen in dem Bereich erspart, in dem sie unter dem Titel ‚Sozialstaat‘ die Lohnabhängigen Woche für Woche zum Sparen für die Wechselfälle der Lohnarbeit verpflichtet. Andererseits setzt derselbe ‚Haushalt‘ neue Bedingungen fest, was das Wachstum ‚der Wirtschaft‘ betrifft. Auch hier, bei den wirtschaftspolitischen Richtlinien, ist auf selten der Staatsverantwortlichen nirgends ein Anflug von privater Gewinnsucht zu bemerken. Sie bemühen sich lediglich und ganz besonders wegen ihrer außenpolitischen Aufgaben um den Geschäftsgang innerhalb ihrer Nation. Die Argumente, welche die Herren Minister stündlich in den. Medien vorzubringen Gelegenheit bekommen, sind sehr sachlich: sie bekräftigen nämlich im Namen der Betroffenen das nationale ‚wir‘! Der erste Betroffene ist der Staat selbst - und von dessen Wohlergehen sind gerade und vor allem Rentner, Arbeitslose und Inflationsgeschädigte, die ‚sozial Schwachen‘ eben, abhängig. Beweis: Stünde es um die Staatsfinanzen besser, müßte die Regierung die ‚sozialen Leistungen‘ nicht kürzen. Schöner und demokratischer lassen sich die Interessen der Geschädigten nicht mit den Bedürfnissen der Instanz zusammenschließen, die gerade die Schädigung ins Werk setzt!
Der zweite Betroffene ist ‚die deutsche Wirtschaft‘, von deren Leistungskraft der Staat wiederum abhängig ist. Aber nicht nur das: seine Anstrengungen, der in seinem Hoheitsgebiet kalkulierenden privaten Geschäftswelt zum Erfolg zu verhelfen - und dafür hat der Staat durchaus etwas Geld übrig -, sind im Grunde genommen eine einzige Unterstützung der Bürger, die von ihrer Arbeit in der ‚deutschen Stahl- und Automobilindustrie‘ leben. Die Auswirkungen des ‚Sparprogramms‘ - seit i983gibt es an die drei Millionen Arbeitslose und auch sonst einiges an statistisch erfaßter Armut mehr - läßt niemand als Dementi dieser Botschaft gelten. Im Gegenteil: sie erfreuen sich der öffentlichen Kenntnisnahme als weiteres Problem, dessen der Staat mit seinem Finanzgebaren Herr zu werden hat. Er führt es also fort; und die Erhöhung der Mineralölsteuer, der Mehrwertsteuer, neue Freiheiten für Grundbesitzer, die dem Volk eine neue Heimat vermieten, all das läuft seit 1982 unter dem Titel ‚Beschäftigungsprogramm‘. Ganz gleich, ob die einschlägigen Meldungen über aus dem Ausland kommende Geschäftsschädigung noch erwähnt werden oder nicht - die bundesrepublikanische Liste ist in ihrer Eintönigkeit jedem Bild-Leser genauso vertraut wie den Kennern seriöser Wirtschaftsteile —, ‚wir‘ müssen alles in unserer Macht Stehende tun, damit die Kalkulationen deutscher Unternehmen wieder aufgehen. Mit dieser Sorte Logik lassen sich aus ‚Sachzwängen‘, die den Widrigkeiten des Weltmarktes locker zu entnehmen sind, die Opfer ableiten, die ‚wir alle‘ im eigenen Interesse auf uns nehmen müssen.
Der dritte Betroffene ist die arbeitende Mehrheit der Nation. Sie ist unter dem Titel ‚Lohnabhängige‘ ebenso zuständig für die Weltpolitik wie als ‚Verbraucher‘, ‚Sparer‘, ‚Sozialpartner‘, ‚Nutznießer des sozialen Netzes‘ und als Soldat. Wenn ‚uns‘ die Russen zu verstärkten Verteidigungsanstrengungen herausfordern, wenn ‚uns‘ die Japaner den Automobilmarkt streitig machen, die Franzosen das Stahlgeschäft verhindern, die Scheichs das öl verteuern oder die US-Regierung die Zinsen hochhält - es gibt nichts im internationalen Hin und Her, was nicht durch die Leistungen des gewöhnlichen Volkes und seine Bereitschaft zur Minderung seiner Ansprüche geregelt werden könnte und müßte. In seiner ganzen Ohnmacht gegenüber den Machenschaften des Auslands verfällt deswegen ein regierender Anhänger der Demokratie auf den einzig vernünftigen Gebrauch seiner Macht: er hält sein Volk zum Arbeiten und Sparen an, verleiht seinem Appell die Kraft eines gültigen Gesetzes, dem sich niemand entziehen kann - und pflegt öffentlich seine Betroffenheit über die Entwicklungen in der Weltpolitik wie auf dem Weltmarkt. Er benennt Schuldige und wirft sich in die Pose eines Kenners der weltpolitischen Szenerie, an deren Verhängnissen er nie mitwirkt, wiewohl er an ihren Resultaten laboriert...
An der Offenheit, mit der Politiker das außenpolitische ‚wir‘ nach innen durchsetzen - die vorstehenden Zeilen sind schließlich fast wörtlich in jeder Stellungnahme und in jedem Kommentar aufzufinden -, ist freilich nicht die Weisheit interessant, die in einer funktionierenden Demokratie des freien Westens als Inbegriff der Kritik gefeiert wird. Daß der ‚kleine Mann‘ alles ausbaden müsse, ist eine wohlfeile Ideologie, die dem Verhältnis von Staat und Volk in der Bundesrepublik ebensowenig seine Wahrheit vorrechnet wie in einer anderen ‚Wirtschaftsmacht‘ diesseits und jenseits des Atlantik. Die Differenzierungen, die das nationale ‚wir‘ erfährt, sooft eine Regierung nach innen auf ihm besteht und die Weltlage, also das Vorgehen anderer Nationen, als unwidersprochenen Grund heranzieht, zeugen von etwas ganz anderem. Im internationalen politischen Gewerbe spielt das gewöhnliche Volk daheim nie eine andere Rolle als die eines Mittels, auf das ein Staatsmann schon beim Antritt seiner Reisen in ferne Länder setzt, weil es verfügbar ' ist und ihm seine diplomatische Handlungsfreiheit im Umgang mit Freund und Feind verschafft hat. Eine politische Herrschaft, die sich ihrer Basis nicht sicher ist, die keine ‚leistungsfähige Wirtschaft‘ hinter sich weiß, die im Innern ihrer Nation die Abhängigkeit von Millionen von ihrem Arbeitsplatz nicht so effizient geregelt hat, daß sich das in ökonomischem, politischem und militärischem Gewicht niederschlägt - eine solche politische Führung würde sich Jedenfalls mit ihrem Nationalismus auf jedem Wirtschaftsgipfel blamieren. Und schon gar nicht könnte sie den Zweck ihrer weltweiten Erpressungskunststücke hinterher als gemeinschaftliches Interesse der Nation verkaufen, indem sie dem Volk seine Opfer in Fabrik und Kaserne als traurige Wirkung ausländischer Machenschaften verschreibt. Denn die Argumente, mit denen ein deutscher Kanzler die Notwendigkeit vom sparsamen Umgang mit ihnen, von mehr Leistung (‚Die Deutschen sind verwöhnt!‘) und vom abzustellenden Mißbrauch eingezahlter Versicherungsgelder mehr ein- als ableitet, taugen nicht zur Überzeugung - geglaubt werden sie nur dann, wenn die Abhängigkeit vom Staat und von denen, die ‚die Wirtschaft‘ heißen, praktisch akzeptiert ist. Nur wenn der diesbezügliche Dienst eines Volkes unabhängig davon, ob er sich für die Betroffenen lohnt, in der schönsten Regelmäßigkeit abgewickelt wird und die politischen Vertreter des Volkes mit dem Reichtum als Verhandlungsmasse ausstattet, der ihnen die Freiheit gibt, auf die Brauchbarkeit jeder erdenklichen Sorte Ausland zu dringen; nur wenn die Zuständigkeit einer Regierung für alle Regungen auf dem Erdball in einer heimatlichen Manövriermasse gründet, kann sich ein Politiker die Unverschämtheit zulegen, die Schädigung der deutschen Interessen — ‚Export- und 01-abhängigkeit‘, ‚Polen‘, ‚Afghanistan‘, ‚amerikanische Zinsen‘, ‚französische Stahlsubventionen‘ usw. usw. - als guten Grund für die Schädigung seiner Untertanen zu propagieren, und letztere umstandslos als Weg des nationalen Erfolgs per ‚wir‘ mit politischem Sachverstand ins Werk setzen.
Es ist die Gewohnheit der Souveränität, die Politiker so ehrlich werden läßt, den Gegensatz zwischen dem außenpolitischen Erfolg der Nation und dem Interesse der ihr untergeordneten Mehrheit von Leuten, die eine leichtere Arbeit und ein besseres Leben durchaus brauchen können, auszusprechen - als schönsten Beweis für ihre Fähigkeit in der Kunst des Regierens.
1.3 Moderner Nationalismus
Das nationale ‚wir‘ ist klassenlos. Es vereint Staat und Volk, indem es die schiere Tatsache, daß sämtliche Bürger einer Nation ihrem Staat unterworfen sind und dieser sie seinen Erfolgskriterien gemäß behandelt, sie also auch den Konjunkturen seiner außenpolitischen Bewährung aussetzt, in einer unausweichlichen Identität der Interessen von Staat und Bürgern geltend macht. Dabei werden die Unterschiede und Gegensätze innerhalb der Nation keineswegs geleugnet, sondern immerzu hervorgehoben — allerdings nicht in der Form kritischer Stellungnahmen zur modernen Klassengesellschaft. Vielmehr in lauter affirmativen ‚Folgerungen‘ bezüglich der speziellen Dienste und Leistungen, welche die Nation wegen des Gelingens ihrer außenpolitischen Vorhaben den einen erweist und den anderen mit Recht abverlangen kann. Für die Geschäftswelt gehört sich eine Investitionsneigung und das dafür passende Klima, andere sind fürs Arbeiten, Kaufen und Sparen da.
Dieser Standpunkt des nationalen Interesses stützt sich weniger auf die Logik denn auf die Praxis der staatlichen Souveränität. Der ihm eigentümliche Zynismus erfüllt die demokratische Diskussion, in der sich die Parteien mit Unterstützung der ihnen zu- bzw. abgeneigten Medien um die Macht streiten, mit Leben. So streiten sich die Konkurrenten um die Staatsführung nicht nur zu Wahlkampfzeiten darum, wer mehr ‚politische Stärke‘ an den Tag legt. Der Vorwurf der ‚Führungsschwäche‘ wird erhoben, und damit ist gemeint, ein tauglicher Staatsmann dürfe sich von niemandem in der Welt etwas gefallen lassen und müsse seinem Volk alle Unannehmlichkeiten zeitig ins Gesicht sagen, die er ihm bereitet. Und der prinzipielle Gesichtspunkt, daß gut ist, was uns nützt, wird auf alle Regierungen und Völker dieser Welt ohne den leisesten Anflug moralischer Bedenken angewandt.
Aus der schlichten Tatsache, daß die nationale Währung an den Devisenbörsen hoch gehandelt wurde, ist in einem Jahr des Wahlkampfs für den seinerzeit regierenden Kanzler ein Argument für seine Wiederwahl verfertigt worden. In der ‚Härte der D-Mark‘ durfte die gesamte Nation das anschauliche Verdienst eines Mannes bestaunen, der ‚unser‘ Geld etwas wert sein läßt. Der Nachweis, daß diese Tüchtigkeit in Währungsangelegenheiten den Nutzen des gemeinen Volkes mehre, wurde über den Auslandsurlaub geführt, ganz als ob mit den fünf Pfennigen ‚Gewinn‘ beim Umtausch einer Mark in Lire die Ferien im Süden in Saus und Braus abliefen und keiner die Preissteigerungen bemerken würde. Nachdem nun aber der währungspolitische Sachverstand für das nationale Eigenlob zuständig ist, eröffnete derselbe Kanzler mit Hilfe einer verantwortungsbewußten Öffentlichkeit auch noch eine solide Kampagne der Kritik an anderen Nationen. Das Argument hieß ‚unsere Wirtschaft‘: diese ist extrem ‚exportabhängig‘, und gerade eine teure D-Mark mache ‚unseren‘ ausländischen Kunden das Kaufen schwer. Also schritt der Kanzler im Namen aller Deutschen, auch derer, die ganz bestimmt nicht vom Außenhandel leben, aber eben von ihm abhängig sind, zur Besichtigung der Versager in Währungsdingen. Urplötzlich war die harte Währung eine Gefahr, freilich in Gestalt der weichen ausländischen Gelder. Die amerikanischen Freunde wurden fachmännisch er mahnt, ihre Freiheitswährung nicht verfallen zu lassen. Den Kollegen in England wurde mitgeteilt, daß sie sich die schlechte Wirtschaftslage samt Verfall des Pfundes selbst zuzuschreiben hätten:
Kein Investitionsklima würden sie schaffen, solange sie den sozialen Frieden nicht in den Griff bekämen; weder die ‚disziplinlosen‘ Gewerkschaften noch die englischen Arbeiter mit ihren maßlosen Teepausen kamen an der deutschen Schelte vorbei. Den italienischen Proleten, ansonsten als Vergleichsmaßstab für deutsche Bedürfnisse sehr willkommen - ‚wie gut es uns geht!‘ -, wurden ihre Streiktage vorgerechnet. Und niemand hat in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit die Unverschämtheit angegriffen, mit der da im Namen der deutschen Wirtschaft eine stattliche Liste ihrer Schädlinge erstellt wurde und sich der nationale Standpunkt gleich noch zum Richter über die Bedürfnisse und das Wohlverhalten anderer Arbeitsvölker aufschwang. Als die ‚Folgerungen‘ des offiziellen Deutschland präsentiert wurden, die aus den ‚Gefahren‘ für unsere Wirtschaft wohl fällig wären - niedrige Lohnabschlüsse als vernünftige Reaktion auf die von Dollar, zerrütteten Partnern und steigenden Ölpreisen hervorgerufene Arbeitslosigkeit -, wollte dieser ‚Notwendigkeit‘ auch niemand widersprechen. Und schon gleich gar nicht ist einem Kenner der Wirtschaft angesichts der Ungereimtheiten in der wirtschaftspolitischen Diagnose der Zuständigen aufgefallen, was sich ein von seinem Volk anerkannter und bedienter Souverän leisten kann: einerseits den kommunismusverdächtigen Hinweis darauf, daß das Gedeihen ‚unserer Wirtschaft‘ im Gegensatz steht zum Wohlergehen derer, die mit ihrer Hände Arbeit alles in Gang halten - andererseits die Propaganda der Konkurrenz zu anderen Nationen, in der das gewöhnliche Volk sich bewähren darf.
2. Noch selbstverständlicher wird das Recht des Staates, den auswärtige Souveräne behindern, auf die Opfer seines Volkes in Sachen ‚Öl‘ vorgetragen. Jahrelang floriert nun schon die Hetze gegen die Ölscheichs, die ‚unsere‘ Energiekosten ins Unermeßliche steigern. Zwar weiß längst jeder Zeitungsleser, daß sich der Benzinpreis an der Zapfsäule unter heftiger Anteilnahme seines Fiskus erhöht; aber der eigenen Nation blieb der Vorwurf bisher erspart, aus den Lohntüten der deutschen Autofahrer einen Selbstbedienungsladen gemacht zu haben. Schließlich gesteht kein anständiger Deutscher einem arabischen Souverän das zu, worauf sonst eine am Welthandel beteiligte Nation ein unverbrüchliches Recht hat: für das, was man zu verkaufen hat, zu verlangen, was man kriegt. Zusätzlich lassen sich auch noch die ‚Multis‘ als Schuldige benennen, und das sind - wie der Name schon sagt - weniger Kapitalisten als keine einheimischen Geschäftsleute. Daß die ölexportierenden Länder mit ihren gestiegenen Anteilen am Verkaufspreis von Rohöl ihr Geschäft machen, ist aber seit einiger Zeit nicht mehr der Skandal: so widersprüchlich der Nationalismus in der Verurteilung anderer Teilnehmer am Weltmarkt vorgeht, so . frei ist er auch in seinen Konjunkturen. Erstens haben die USA auf ihre Weise auf ‚unseren‘ Kanzler reagiert und ‚ihren‘ Dollar wieder teurer gemacht, so daß eine Zeitlang beim steigenden Dollar der Grund lag für die Benzinpreise (umgekehrt hat zuvor das Argument nichts hergegeben!). Zweitens ist im Zuge der weltpolitischen Konfrontation die Aufrüstung aller befreundeten Nationen modern geworden - und ausgerechnet Saudi-Arabien, wo ‚unser öl‘ lagert, gehört zu den Freunden, die mit Waffen beliefert werden müssen. Also gebietet der weltwirtschaftliche Sachverstand, . die Verurteilung der in bezug auf den Olpreis längst vernünftig gewordenen Saudis zu relativieren. Rüstungsexporte für Arbeitsplätze zu erklären, zumal dasselbe auch schon längst für die Atomkraftwerke gilt, um die wir aus energiepolitischen Gründen - ‚öl knapp‘ - nicht herumkommen. Ganz gleich, wie die Unterabteilungen der nationalen Begutachtung in Sachen öl ausfallen - immer rechtfertigt die Anklage nach außen den Anspruch auf Dienste und Zumutungen daheim.
3. In einer Demokratie gehört es sich, daß das Volk, welches für die Wünsche des eigenen Staates und seiner Wirtschaft gegenüber dem Ausland geradezustehen hat, auch eine wesentliche Freiheit genießt: Es darf sich in den Machenschaften fremder Staaten lauter Grunde dafür zusammensuchen, daß es in der Gefolgschaft daheim richtig liegt. Die diesbezüglichen Angebote derer, die die Meinungsbildung zu ihrer vornehmen Pflicht erkoren haben, sind frei von Skrupeln aller Art; in der Kritik am Ausland, insbesondere an dem, mit dem solide und rentierliche Beziehungen unterhalten werden, sind Töne an der Tagesordnung, die man auf ‚uns‘ nie und nimmer anwenden lassen möchte. So sind im Falle Japans Urteile eingebürgert worden, in denen Verachtung und Respekt in ebenbürtiger Weise für das deutsche ‚wir‘ tauglich sind. Die Einwände gegen Japaner‘ richten sich sowohl gegen ihre Durchschlagskraft auf diversen Märkten, die ‚uns‘ genauso wichtig sind, als auch gegen die schlechte Behandlung, die sie ihrem Volk angedeihen lassen - viel mehr Arbeitstage als hierzulande, kein DGB und viel weniger Lohn. Das Kompliment an dieselbe Nation und dieselben Untertanen liest sich in deutschen Landen haargenauso: Bewundernswert das japanische Wirtschaftswunder, zumal die dahinten auch sehr viel fürs Öl ausgeben müssen, und noch bewundernswerter die Leistungs- und Verzichtsbereitschaft dieses Volkes, an dem sich - ginge es nach dem Grafen Lambsdorff - die ‚verwöhnten‘ Deutschen auf der Stelle ein Beispiel nehmen sollten. Inzwischen haben verschiedene Regierungen in trauter Eintracht mit dem DGB dafür gesorgt, daß sich gewisse Annäherungen an japanische Standards vollziehen: faktische Null-Tarif runden, Preise und Abgaben jeder Art senken den deutschen Lohn, während die Umgestaltung von Arbeitsplätzen die Leistung hebt. VW investiert dazu noch ein wenig in Japan...
4. Als Deutscher weiß man selbstverständlich auch, was den Polen gefällt und gut für sie ist. Der Kommunismus auf alle Fälle nicht, wenngleich sich im zwischenstaatlichen Verkehr durchaus gute Geschäfte mit Leuten abschließen lassen, die ihrem Volk weder einen Lebensstandard gönnen, der hierzulande als reine ‚Verwöhnung‘ angeprangert werden muß, noch eine Freiheit. Während bei uns das Zusammenfallen von Interessen des Volkes mit dem seiner Führer eine ausgemachte Sache ist, insbesondere dann, wenn Opfer anstehen, sieht es auswärts, östlich vor allem, oft sehr anders aus. Zunächst einmal unterliegt eine polnische Regierung der Klassifizierung ‚Unrechtsstaat‘ ohne ‚Selbstbestimmungsrecht‘ des Volkes; und ein anständiger Deutscher wird an den Fakten der bundesrepublikanischen Staatsgründung ebensowenig irre in seinem Antikommunismus, den er aus dem Schatzkästlein des vorangegangenen Nationalismus bewahren durfte, wie er jedem Kritiker hierzulande die Methoden des Gehorsams und seiner Erzeugung ans Herz legt, die drüben üblich sind. Wenn dann eine Bundesregierung samt der westdeutschen Geschäftswelt eine regelrechte Polen-Politik zuwege bringt, wenn dadurch die Grenzen für Waren und Kapital geöffnet werden, so dient dies allemal einer guten Sache. Mißtrauen ist nicht der Zusammenarbeit mit diesem ‚Regime‘ entgegenzubringen, sondern ihrer Wirkung: Wird auch genug verlangt, wenn ‚wir‘ mit denen handeln? Und dürfen auch genug ausreisen in die Freiheit?
Die feste Überzeugung, daß die Schädigung eines kommunistischeen Staates in der entgegenkommenden Berücksichtigung seiner Außenhandelswünsche Inbegriffen zu sein hat, duldet keine Erschütterung. Schon gleich gar nicht dadurch, daß das polnische Volk vom Ost-West-Handel überhaupt nichts hat. Das bekannte Ergebnis, das die von der polnischen Regierung vollzogene Unterordnung ihrer gesamten Volkswirtschaft unter die Notwendigkeiten des Westhandels zeitigte: die zehntgrößte Wirtschaftsmacht ist pleite, das Volk leidet Not jeder Größenordnung und veranstaltet einen christlich-gewerkschaftlichen Aufstand, mit dem die Staatsmacht vorübergehend in Frage gestellt wurde und auch durch ein Jahr Kriegsrecht nicht fertig geworden ist - dieses Ergebnis wird mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Es zeigt sich für einen deutschen Beobachter nur eines: Wir sind auf dem richtigen Weg und müssen Polen die ‚Chance‘ geben, sich ganz und gar dem Westen anzuschließen, sich den Kreditlinien des IWF (Internationaler Währungsfonds) anzuvertrauen - denn das wäre der leichteste Weg zur ‚Hilfe‘, die bis dahin der caritativen Gesinnung der westdeutschen Bevölkerung überlassen bleibt. Mitleid mit den Opfern, die die eigene Regierung auswärts schafft, ist hier genauso wie im Falle der ‚Entwicklungsländer‘ erlaubt. Der Außenminister ergänzt die Hungermeldungen mit diplomatischen Kampfansagen gegen die Sowjetunion, deren Bemühungen, Polen im eigenen Block zu behalten, einerseits eine ‚rasche Hilfe‘ erschweren, andererseits den ‚Weltfrieden‘ gefährden. Die vorläufige ‚Rettung Polens‘ durch den Einsatz des Militärs kann - da sie dem nicht stattgefundenen russischen Einmarsch gleichzusetzen ist - nicht hingenommen werden. Schließlich heißen die Rechtsanwälte des polnischen Volkes Genscher und Reagan, und ihre Kanzlei führt den Streit um die Rechte der östlichen Mandanten konsequent mit einem Aufrüstungsprogramm, das ganz gut auch ohne den Schein auskommt, es gehe um so labile und heikle Dinge wie das ‚Gleichgewicht‘. Das Recht fordert seine Rechtsmittel, Belehrungen über deren Gebrauch gehen unterdessen täglich an die Adresse Moskaus.
Wo der national beseelte Blick über die Grenzen den Gegensatz zwischen Herrschaft und Untertanen ausmacht, geht es also keineswegs um die Beurteilung des Zwecks, den so ein Staat verfolgt - und schon gar nicht um die Gründe für den dortigen Modus der Benützung eines Volkes und um deren Verlaufsformen, zu denen die Kooperation mit dem eigenen Staat zählt. Dem bedingungslosen Bekenntnis zu den Interessen ‚der‘ Deutschen ist nur eine Sorte von Kritik zuträglich - die zweifelnde Frage nach ihrer ordentlichen Durchsetzung. So ist ausgerechnet in Sachen Polen der erfolgreiche Umgang mit einem Ostblockstaat, der den Ruin eines Volkes schneller hervorbrachte, als das die ‚Regimes‘ drüben, auf sich selbst gestellt und nicht in den menschenfreundlichen Außenhandel des Westens einbezogen, je vermocht hätten, auch unter die Rubrik ‚Verrat an deutschen Ansprüchen‘ eingeordnet worden. Und damit waren auch nicht die Ansprüche jener Mehrheit gemeint, die Woche für Woche ihre Lohntüte einteilen darf und als ‚Entschädigung‘ für ihre wenig lohnende Brauchbarkeit theoretisch über die weltpolitischen Vorzüge des Vaterlandes mitbefinden, dem sie zufällig angehört. Das Verdienst, ein Deutscher zu sein und ideell an der Geltung der Nation in der Welt zu partizipieren, scheint viel wichtiger zu sein als der Verdienst, den man für ein Leben in Freiheit - für die meisten ein Arbeitstag nach dem anderen, nebst den dazugehörigen Risiken und kompensatorischen Anstrengungen und Abgaben für einen Sozialstaat, der das Geld auch besser verwenden kann — so erhält. Dabei sind die in Umlauf gesetzten Unverschämtheiten des heutigen Nationalbewußtseins, die kosmopolitischen Begutachtungen aller Herren Länder nie um die Auskunft verlegen, daß die universale Zuständigkeit der Nation für die gewöhnlichen Bürger - sobald sie über die theoretische und wohlfeile Anmaßung hinausgeht - immer im Dienst besteht. Denn diePraxis des Vergleichs, der da ständig zugunsten der eigenen Nationalität ausfällt, besteht in der Durchsetzung des einen Staates gegen den anderen. Und an diesem Geschäft ist die Mehrheit so beteiligt, daß sie in der Bereitstellung des Reichtums ihre erste und in der Relativierung ihrer Genüsse, dessen, ‚was man vom Leben hat‘, ihre zweite Pflicht erfüllt. Und wenn im Konkurrenzkampf der Nationen, die sich und ihre Manövriermasse an Land und Leuten gegenseitig ausnutzen wollen, für die eine Seite die Bedingungen der anderen unerträglich sind - und wer entscheidet das wohl? -, dann steht die Erledigung der letzten Pflicht an.
5. Aus den Verlautbarungen der deutschen Politiker und ihrer öffentlichen Interpreten, denen am Erfolg der ersteren sehr viel liegt - ‚Schaffen Sie denn das auch, Herr Minister?‘ ist die kritischste Frage -, geht hervor, daß es herzlich gleichgültig ist, ob jemand daran glaubt, daß in Afghanistan und Polen ‚unsere Freiheit‘ auf dem Spiel steht. Und angesichts des höchstoffiziellen Gerüchts, daß Lang- und Mineistreckenraketen nebst Neutronenbombe denFrieden sichern und auch tatsächlich zu keinem anderen Zweck je benötigt werden, ist die Frage, wer daran glaubt, schon längst lächerlich. Schließlich wird ständig mit strategischen Argumenten für das Zeug votiert; und daß strategische Überlegungen denSieg im Auge haben, also die Überlegenheit imKrieg - den man sich also als ‚Fall‘ denken darf-.weiß ein jeder. Erkann sich freilich den Vorkriegstest auf die Nachgiebigkeit des Gegners, der sich, weil unterlegen, der Unterle-genheit anbequemt, auch in ‚Friedenssicherung‘ übersetzen: Der Feind braucht in diesem Gedankenexperiment ja nur nachzugeben.
In der Versorgung einer Nation mit strategischen ‚Informationen‘, mit Zahlenmaterial über Panzer, U-Boote und Raketen, die Freund und Feind zur Verfügung stehen, kommt zum Vorschein, wozu der Standpunkt ‚unseres Interesses‘ taugt, wenn er zur Selbstverständlichkeit geworden ist. In der westdeutschen Rüstungsdebatte, wo Argumente über die militärischen Mittel zur Sicherung besagter nationaler Interessen fallen, hat man sich längst von der Notwendigkeit emanzipiert anzugeben, was denn eigentlich geschützt wird durch Bundeswehr und NATO-Sprengköpfe. Daß dergleichen notwendig ist, will niemand bezweifeln — und wer im Verdacht steht, es zu tun, wird konsequent als Staatsfeind oder ‚Gegner der Freiheit‘ geführt. Auf der Grundlage eines allgemeinen Konsensus über das Militär als das unverzichtbare Mittel der Außenpolitik spielen sich jene demokratischen Gefechte um das Wann, Wieviel und Wozu der Aufrüstungsmaßnahmen ab, in denen sich eine Nation daran gewöhnt, ‚ihre Interessen‘ allein unter dem Gesichtspunkt deren gewaltsamer Durchsetzung ständig neu definieren zu lassen.
Die Beiträge zur Diskussion sehen entsprechend aus. Als durchaus sachlich gilt in der Bundesrepublik die Feststellung, daß ‚wir fest an der Seite der USA‘ und ‚im Bündnis‘ stehen; als zeitlos gültiger Kommentar paßt diese Mitteilung auf jedes neu eingeführte Waffensystem. Mit der Erinnerung daran, daß es diesen ‚unseren‘ Staat nur gibt, weil er den maßgeblichen Männern der USA nach dem zweiten Weltkrieg so recht war, entledigen sich deutsche Politiker ihrer nationalen Pflicht, sich gute Gründe für ihre Beteiligung an der politischen Linie der befreundeten Großmacht auszudenken. Anderen eröffnen sie damit die großartige Alternative eines besseren Nationalismus, der ‚zwar‘ auch die Zusammenarbeit mit Amerika für einen ‚Grundpfeiler unserer Sicherheit‘ hält, aber ‚unsere speziellen Sicherheitsinteressen‘ zur Geltung bringen möchte. Für ‚amerikafeindlich‘ und ‚unrealistisch‘ erachten die beiden für den demokratischen Konkurrenzkampf wirkungsvoll inszenierten Bonner Positionen den moralischen Nationalismus kritischer Demokraten, die zu einer Friedensbewegung angetreten sind. Diese Bewegung hat sich das Verdienst erworben, die Empörung der Betroffenen (‚Wir haben Angst!‘) gegen die Zuständigen der deutschen Politik zu richten; sie hat die Beteiligung der BRD an der europäischen Abteilung der NATO-Aufrüstung für einen Fehler deutscher Politik erklärt, den sie mit dem Stichwort vom ‚Kriegsschauplatz Deutschland‘ kennzeichnen wollte. Und ihr Anliegen, deutsche Weltpolitik ohne die absehbaren Härten militärischen Engagements, also echte Friedenspolitik zu verlangen, ist den linken Kritikern der SPD ausgerechnet an Polen suspekt geworden. Ihr Anspruch auf mehr Unabhängigkeit deutscher Politik, das Beklagen der beschränkten deutschen Souveränität ist der Befürwortung konsequenter Einmischung gewichen. Die vielbeschworene Angst der ‚Menschen‘ um den ‚Frieden‘ hat sich in die ganz banale Angst der ‚Deutschen‘ vor den Russen aufgelöst; die ‚alternative Sicherheitspolitik‘ lehnt die letzte Konsequenz des nationalen ‚wir‘ nur noch bedingt ab-nämlich mit dem Verdacht, das in Bonn verwaltete ‚wir‘ wäre nicht autonom genug für die freie Entscheidung über den ‚Ernstfall‘.
Der Entschluß der US-Regierung, die Konkurrenz der Waffen vor ihrer Abwicklung schon weitgehend zu entscheiden und den Osten ‚totzurüsten‘, erfreut sich hierzulande heftiger Zustimmung. ‚Die Moskauer Funktionäre spüren, daß im Umgang mit Reagan die Dinge ihren Preis haben‘ - frohlockt eine angesehene Tageszeitung und bemüht zum hundertsten Male die Theorie von Gleichgewicht und Abschreckung. Ganz nebenbei wird die ‚ständige Produktion papierner Abrüstungsappelle‘ seitens der Sowjetunion verhöhnt und ‚der freie Westen‘ dazu aufgefordert, erst einmal ‚nach‘zurüsten statt zu verhandeln, also die russischen Angebote zu Makulatur zu erklären. Das wiederum gibt anderen, die ebenso genau wissen, wo ‚unsere Interessen‘ liegen, und daß die Nachrüstung sein muß, Gelegenheit, auf anschließenden Verhandlungen zu bestehen. Diese Abteilung wertet prinzipiell jeden Panzer und jede Rakete bis hin zur Neutronenbombe erst einmal als ‚Verhandlungsposition‘ statt als Kriegsgerät. Rüstungsdiplomatie in erpresserischer Absicht wird da ohne weiteres als Kritik an den USA verkauft, und auf alle Fälle bestehen westdeutsche Fachleute der Politik auf einer geschmackvollen Präsentation der letzten Entscheidungen von jenseits des Teiches. Den ganzen August 1981 hindurch erwies sich die Neutronenbombe als glanzvoller Anlaß, diese ‚Gefechtsfeldwaffe‘ für den Kriegsschauplatz Europa in tiefstem Ernst vor allem in folgender Hinsicht bedenklich zu finden: i. Sind ‚wir‘ konsultiert worden? 2. Hat es für die Bekanntgabe des Produktionsbeschlusses denn kein besseres Datum gegeben als den Jahrestag der Hiroshima-Bombe? 3. Könnte dieser Beschluß jetzt nicht den Anti-Amerikanismus in der BRD verstärken und die offizielle Verkaufsstrategie der ‚Friedenspolitik‘ unglaubwürdig machen?
Das alles geht als ‚kritische Diskussion‘ durch und wird in einem wochenlangen Hin und Her ‚geklärt‘. Nein, wir sind nicht konsultiert worden; dies ist aber auch gar nicht nötig gewesen, da es eine interne Angelegenheit der USA ist... Im übrigen weiß doch ein jeder von uns, daß die Produktion der Neutronenwaffe, was eine bessere Bezeichnung als ‚-bombe‘ wäre, längst betrieben wird. Darüber hinaus wird sie jetzt nicht herübergeschafft - im Ernstfall dauert es aber nur wenige Stunden. Der 6. August war in der Tat ein unglückliches Datum, jedoch dem Anti-Amerikanismus ist nur durch sachliche Information beizukommen... Aus einem Schritt der Kriegs Vorbereitung, der sich bereits auf Details der Gefechtsplanung positiv bezieht, wird so eine muntere Übung in Methodenfragen nationaler Politik. Eher werfen sich die um die Macht konkurrierenden und koalierenden Parteien vor, ‚die deutsch-amerikanischen Beziehungen‘ zu verschlechtern oder ‚die Finanzierung des Verteidigungsbeitrags der BRD‘ zu gefährden, als daß einer der hohen Herren einen einzigen wahren Satz über den Zweck der Neutronenbombe und die Vorhaben des Bündnisses verlauten ließe.
Und doch geben sie in ihren nationalistischen Interpretationen Ständig von den Fortschritten Rechenschaft, die sie in ihrer Handlungsfreiheit erzielt haben. Von der ‚tiefen Sorge‘ um die ‚Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen‘ über die kundig errechneten Gleichgewichte der Waffenarsenale gelangen sie - im ; Streit darüber, wer die ‚nötigen Schritte‘ konsequenter vertritt und deswegen zum Regieren befugt sei - zu immer eindeutigeren Bekenntnissen. Was immer auch die Sowjetunion unternimmt, es gilt mittlerweile als Beleg dafür, daß ‚Entspannung‘ und ‚Sicherheit‘, ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘ letztlich nur durch militärische Überlegenheit zu haben sind. Das bekam Leonid Breschnew bei seinem Besuch in Bonn im November 1981 zu spüren. Es nützte ihm gar nichts, daß er die Bereitschaft zum teilweisen Abbau der vermeintlich im Mittelpunkt westlicher Sorgen stehenden SS 20 mitbrachte. Er mußte erfahren, daß es seinen Gastgebern so ernst mit der Furcht vor dieser ‚Bedrohung‘ gar nicht ist. Als diplomatische Botschaft durfte er die Mitteilung mit nach Hause nehmen, daß die westliche Aufrüstung sich unabhängig von den vorhandenen wie unterlassenen Fortschritten östlicher Rüstung abspielt. Um dieselbe Botschaft erneut klarzustellen, hat 6 Monate darauf der amerikanische Präsident seinen Vize auf eine Werbetournee durch Europa geschickt. Dieser hat die Zurückweisung jedes sowjetischen Versuchs, mit den USA in ein diplomatisches (Ab-)Rüstungsgeschäft zu kommen, einfach als prinzipielle ‚Verhandlungsbereitschaft‘ verkauft und sie als erfreuliche ‚Beweglichkeit‘ ins Europäische übersetzen lassen. Reagan selbst kommentierte vom Weißen Haus aus die aufgeregten Anfragen nach etwaigen Kursänderungen damit, daß es sich bei den ‚Vorschlägen‘ um eine längst fällige Propagandakampagne handle und sonst nichts. Sämtliche deutschen Zeitungen haben dies tags darauf korrekt und ohne jede Empörung vermeldet. Offenbar lag den Medien der demokratischen Öffentlichkeit sehr viel daran, im Gefolge der staatlichen Beschlußfassung Abschied zu nehmen von dem so ‚emotional‘ ausgetragenen Streit um die ‚Nachrüstung‘ - um die Bürger künftig nur noch mit der Frage zu traktieren, ob in Genf ‚ernsthaft verhandelt‘ würde. In ihrer Gleichgültigkeit gegen die verhandelten Positionen ist diese Frage geeignet, jeden Fortschritt in Sachen Rüstung in ein Problem des unstreitigen guten Willens der Politiker zu übersetzen, die inzwischen das eine oder andere Gerät dislozieren und ein ‚Weltraumprogramm‘ in Aussicht stellen, natürlich zur Friedenssicherung.
Die nach innen notwendige Rücksichtslosigkeit, wie sie in den USA seit Reagan offizielles Programm ist, gilt deshalb auch als das Ideal der Politik in den ‚schwierigen achtziger Jahren‘, vor dem sich jedermann blamiert, der ein gutes Leben dem Nationalismus mit seinen Pflichten vorzieht. Wo die Anwendung staatlicher Gewalt zur unerläßlichen Grundlage all dessen deklariert wird, was sich die Bürger leisten dürfen, zählen das gute Leben und dergleichen Ansprüche nicht mehr - da geht es ums ‚Überleben‘, und zwar nicht um das des Volkes mit seinen kleinlichen Sorgen, sondern um das des Staates. Dessen Repräsentanten und Liebhaber erzählen zweifelnden Christen inzwischen, daß die Bergpredigt zwar für Gehorsam und Opfersinn von Untertanen tauge, keineswegs aber eine zweckmäßige Gesinnung für antisowjetische Strategie vermitteln könne. Pazifisten erfahren von allerhöchster Stelle, daß ihresgleichen den zweiten Weltkrieg provoziert hätten - Hitler hätte sich durch die Friedensliebe auswärtiger Völker hinreißen lassen. Und auch angesichts der täglich aus Übersee eintreffenden Meldungen über MX, Trident und B I nähern sich die dem deutschen Nationalismus verpflichteten Übersetzungen der westlichen Aufrüstung, an der man sich beteiligt, immer mehr dem Klartext, den man so lange wie möglich zu vermeiden suchte: Die Kriegsvorbereitung ist eine ausgemachte Sache, also wird bereits jetzt von allen Bürgern die Konsequenz des Nationalismus eingeklagt, die in allen vormilitärischen Formen der Auseinandersetzung mit dem Ausland angelegt ist. Daß die weltpolitischen Unternehmungen ‚der Russen‘ für uns untragbar sind, rechtfertigt inzwischen auch die westdeutsche Innenpolitik, von einer Wirtschaftspolitik neuen Typs - alle ‚sparen‘ fürs Militär- bis zu Vereidigungen von Rekruten im Fackelschein. Über den Fortschritt der ‚weltpolitischen Konfrontation‘, auf die wir nur reagieren, unterrichten währenddessen die regelmäßig von Kanzleramt und Außenministerium in der Tagesschau verlautbarten Rundblicke auf alle Konflikte in der Welt, die immer dasselbe beweisen: daß deutsche Friedenspolitik eine immer ernstere Sache wird und - nach und nach - wegen der anderen zum Scheitern verurteilt sei, was dann die vorweggenommene Klärung der Schuldfrage für den Dritten Weltkrieg darstellt. Auch die noch wird sich von der amerikanischen Lesart unterscheiden: wir können den Wunsch der ‚Amerikaner‘ nach Überlegenheit verstehen, angesichts der Weigerung der Sowjetunion, wesentliche Positionen kampflos zu räumen. Die Interessen des deutschen Volkes liegen...
1.4 Vom Imperialismus der Bundesrepublik
Wie eine Nation die Einordnung aller Herren Länder vollzieht, wie sie das gesamte Ausland in eine Skala zwischen den Extremen Freund und Feind, in bequeme, verläßliche und mißliebige Partner sortiert, verrät einiges über die Stellung dieses Staates in der Welt. Das Verfahren besteht nämlich darin, daß sämtliche Beziehungen, die mit dem Ausland unterhalten werden, eine Prüfung erfahren -und deren unerschütterlicher Maßstab ist ein sehr praktisch er: das ökonomische, politische und militärische Interesse wird je nach dem, wie ihm auswärtige Souveräne und Völker entsprechen, in deren gute und schlechte Eigenart übersetzt. Insofern gibt das bundesrepublikanische Weltbild, das alle außenpolitischen Aktionen der Regierung begleitet, sehr zuverlässig Auskunft über den Erfolg des Bemühens, andere Nationen brauchbar zu machen.
1. Ökonomisch zählt sich die BRD zu den ‚Wirtschafts-‘ oder ‚Industrienationen‘, die sich erstens ihresgleichen, zweitens ‚unterentwickelten Ländern‘ gegenübersehen; mit den anderen Industrienationen verbindet sie ein reger Handel, der sich auf Waren aller Art erstreckt, also auch auf die Ware Kapital. Deutsche Geschäftsleute und Banken kalkulieren mit Produkten und ihren Preisen, die andere Nationalökonomien offerieren, und ziehen umgekehrt mit der größten Selbstverständlichkeit andere Länder als Käufer wie als Anlagesphäre in Betracht. Deutsche Politiker leiten daraus seit längerem das Recht ab, unter dem Titel ‚Europa‘ auf die Entscheidungen einiger Souveräne ‚Einfluß zu nehmen‘ - und in Konfliktfällen, wo diese Einflußnahme nicht reibungslos klappt, warten sie mit dem Fingerzeig auf, daß ihnen in der Ablehnung gewisser finanzieller Verpflichtungen und auch sonst Mittel zu Gebote stehen, deren Einsatz den Partnern nicht recht sein kann. Kein Monat verstreicht, ohne daß im Namen Europas irgendeiner befreundeten Nation die Rechnung aufgemacht wird darüber, was ‚für uns‘ tragbar ist und was nicht. Kaum zu übersehen, worin das flotte Auftreten der Repräsentanten dieser Republik gründet: Da ergreifen die Vertreter eines begehrten Handelspartners, eines potenten Kreditgebers und Anlegers das Wort, die wissen, daß sie Abhängigkeiten mit dem Ausland geschaffen haben, über die sich kaum ein Partner ohne Schaden hinwegsetzen kann. Stets wird in der Kundgabe all dessen, wovon ‚wir‘ abhängig sind - vom Export, von der europäischen Währungspolitik, von der Einhaltung der zu produzierenden Stahlkontingente etc. -, die banale Wahrheit offenbar, daß der unter Verwaltung bundesdeutscher Regierungen geschaffene Reichtum ein sehr wirksames Mittel darstellt, um Bedingungen für andere zu setzen. So schämt man sich auch nicht, in ‚Informationen zur Entwicklungspolitik‘ sowie in der täglich den Globus besichtigenden freien Presse den Ländern der ‚Dritten Welt‘ eine Diagnose auszustellen, die es in sich hat:
Weil ein Volk in seiner Mehrheit arm ist, kann niemand sparen. Dadurch ist kein Kapital für Investitionen vorhanden. Die Folge: Es gibt zu wenig Produktionsstätten, die Produktivität ist zu gering. Dadurch gibt es zu wenig Arbeitsplätze, zu wenig Verdienstmöglichkeiten. Wo nicht verdient wird, kann der Staat keine Steuern erheben. Leere Staatskassen bedeuten: keine staatlichen Angebote an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, mangelhafte Gesundheitsfürsorge...
Solches meinen selbstbewußte Wortführer einer ‚Industrienation‘ allen Ernstes in den Elendsgegenden des Weltmarktes vorzufinden. Aus der nützlichen Armut hierzulande, die zur fest einkalkulierten Grundlage für das Prosperieren von Kapital und Staat gemacht worden ist, entnehmen sie die Entstehung von Kapital durch das Sparen - und das Nicht-Vorhandensein dieser Mär scheint ihnen der Grund für das Fehlen all der menschenfreundlichen Entwicklungen, auf die sie ihrem Land soviel zugute halten. Mit der Logik des Vergleichs von ‚entwickelt‘-‚unterentwickelt‘, der sie zu der Einsicht führt, daß die Armut der Entwicklungsländer eine schlechte Geschäftsgrundlage für die dortige Staatskasse darstellt, so daß aus dieser auch nicht die nötigen Vorkehrungen zur Beseitigung des Elends getroffen werden können, beschwören sie Am ‚Teufelskreis der Armut‘, der ‚uns‘ zur Entwicklungshilfe verpflichtet. Ganz, als ob je eine Mark Entwicklungshilfe an die notleidenden Völker adressiert worden wäre! Bei der Darlegung dieses Zweiges ‚unseres‘ weltweiten Wirkens wird dann aber schnell offenbar, daß auch Neigung mit im Spiel ist. Die Entwicklungshilfe liegt nämlich auch im Interesse der Industrienationen,
nicht nur wirtschaftlich, weil ein Viertel unserer Exporte in Entwicklungsländer geht und wir einen Großteil unserer Rohstoffe von dort beziehen. Ein Ausgleich der politischen und wirtschaftlichen Interessen mit allen Entwicklungsländern dient vor allem der Sicherung des Friedens.
Auch hier gibt die Ideologie durchaus darüber Aufschluß, was an ‚Beziehungen‘ so stattfindet. Erstens wird die Sache mit dem ‚Teufelskreis der Armut‘ dahingehend korrigiert, daß der Schein entfällt, mit einem Volk, das ‚in seiner Mehrheit arm ist‘, sei kein Geschäft zu machen. Die betreffenden Länder sind sehr wohl in den Weltmarkt einbezogen, und das nicht erst seit gestern: wie sollten ‚wir‘ sonst auf einen Großteil ‚unserer Rohstoffe‘ von dort angewiesen sein? Mit diesem Hinweis, der sicher nicht als Verdacht bezüglich des Grundes für die Armut gemeint ist, wird zugleich der ‚Ausgleich‘ als Zweck der ‚Zusammenarbeit‘ sehr offenherzig dementiert. Immerhin bleibt ‚unser Interesse‘ als guter Grund für die Entwicklungshilfe stehen: als zuständig für die Betreuung von ‚Entwicklungsländern‘ dürfen sich ‚Industrienationen‘ allemal ausweisen, und wer wollte ihnen angesichts ihrer Abhängigkeit von Rohstoffen, welche die armen Völker partout nicht selbst anwenden können, die Entscheidungsbefugnis absprechen über alle Modalitäten des Welthandels, die sie auf ihren Wirtschaftsgipfeln aushandeln. Da gibt es in Währungsdingen und Kreditvergabe an Regierungen der ‚Dritten Welt‘ - die es ja ohne die ‚erste‘ gar nicht gäbe - manches festzulegen und zu erstreiten; der Frieden, der bei solchen Geschäftspraktiken gesichert werden soll, hat nämlich einen Inhalt, d. h. er erschöpft sich keineswegs in der Abwesenheit von Krieg. Die universale Nutznießung sämtlicher Weltgegenden bedarf einer entsprechend gelungenen Herrschaft vor Ort; und sowenig der ‚Frieden‘ durch die Unbotmäßigkeit darbender Analphabeten gefährdet ist, so ‚heikel‘ wird für die Veranstalter eines ‚Nord-Süd-Dialogs‘ die Lage, wenn sich in den politischen Garantien etwas ändert. Während ‚wir‘ unsere bisweiligen ‚lebenswichtigen Interessen‘ dort haben, stellt die ‚Einmischung‘ anderer Nationen ganz leicht eine ‚Gefährdung des Weltfriedens‘ dar—und dabei kommt es noch nicht einmal darauf an, was andere ‚Industrienationen‘ dort wollen.
Kein Wunder, daß sich der Ostblock sowohl ökonomisch wie politisch einer besonderen Betrachtungs- und Behandlungsweise erfreut. Aus der Sicht einer ‚Industrienation‘, die bei ihren Produktionen so ‚exportabhängig‘ ist, die andererseits selbst so arm an Rohstoffen dasteht wie die BRD, daß sie ohne diesbezügliche gesicherte Importe nicht leben kann, gerät die Sowjetunion samt realsozialistischem Anhang in ein schiefes Licht: Keiner der üblichen Verkehrsformen der ‚Weltwirtschaft‘ gegenüber zeigt sie sich aufgeschlossen; in ihrem staatlichen Außenhandelsmonopol behält sie sich alle erdenklichen Handelshindernisse vor, an der Konvertibilität ihrer Währung lag ihr seit den ersten Tagen des GATT nichts mehr - und wenn sie - aus welchen Gründen auch immer - doch einmal ein Geschäft mit sich machen läßt, so nur unter ganz speziellen Bedingungen, die vermuten lassen, daß es nur ihrem einseitigen Vorteil gilt. Zwar sind diese Geschäfte inzwischen in Milliardenhöhe üblich und als ‚Osthandel‘ in die Geschichte der Entspannungspolitik eingegangen - diejenigen, die die dafür notwendigen Kredite vergeben, entscheiden sogar recht handfest über die Geschicke der polnischen und anderer Volkswirtschaften mit -, doch leiden sie allesamt an einem Mangel. Weder handelt es sich bei den abgewickelten Geschäften um Zugeständnisse von gefügigen Staatswesen, die ihren äußeren Abhängigkeiten entsprechend Dienste verrichten, wie bei den Abkommen von ‚armen Ländern‘ mit ‚uns‘, in denen eine souveräne Staatsmacht ihre Grenzen ‚erkennt‘, sich mit dem Ausland arrangiert und dies im Umgang mit den eigenen Untertanen beweist - am besten durch die stete Verkündigung nationalen Aufbaus und der Demokratie als Endziel. Noch bewährt sich der Osten als gleichgesinnter und den gleichen Maximen gehorchender ‚Partner‘, der ‚berechenbar‘ - das ist die Chiffre für ‚ein mit seinen eigenen Kalkulationen zu überzeugender und zu erpressender Souverän‘ - bleibt in seinen Aktionen. Nicht einmal im Angewiesensein auf regelmäßige Deviseneinkünfte aus dem Westen will sich eine Sowjetunion zu ihrer ‚Abhängigkeit‘ bekennen; im Gegenteil, sie beharrt darauf, daß in ihrem Fall geschäftliche Kalkulation und nationales Interesse nicht in eins fallen, daß sie auch in ihren außenpolitischen Entscheidungen einem anderen Kriterium verpflichtet sei als dem Erfolg des privaten Reichtums von Bürgern, in dem jeder bürgerliche, also ordentliche Staat seine Existenzgrundlage besitzt. Kurz: die Systemfrage wird von diesen Störenfrieden eines geregelten internationalen Verkehrs ständig aufgeworfen - und wenn sie per Diplomatie und militärischem Engagement auch noch um Unterstützung durch instabile Staaten werben, also Fuß fassen wollen in der Weltpolitik, dann kann ihnen gemäß H. D. Genscher, Außenminister der BRD, ein ‚maßvolles weltpolitisches Verhalten‘ keinesfalls attestiert werden. Also ist vom Boykott der olympischen Spiele über die Aufkündigung von Handelsbeziehungen bis zur Demonstration und Herstellung militärischer Überlegenheit alles geboten, um die Zuständigkeit des Systems zu wahren, dessen Interessen in jeder Hinsicht ein Faktum sind.
2. Ein politischer Zwerg ist die Bundesrepublik schon lange nicht mehr. Mag sein, daß dieser selbstverliehene Titel in den Gründungstagen des westdeutschen Staates etwas von Wahrheit an sich gehabt hat - aber schon die ersten Tage der Adenauer-Diplomatie bestanden in sehr speziellen Kampfansagen an den Osten (‚Alleinvertretungsanspruch‘, Wiedervereinigung, Hallstein-Doktrin), die sich für eine ‚kleine Nation‘, die einer Front von Siegermächten gegenübersteht, ziemlich seltsam ausnehmen. Aber zu dem Zeitpunkt, an dem die ‚politisch Verantwortlichen‘ den Schein bundesdeutscher Ohnmacht in die innenpolitische Selbstbespiege-lungsdebatte warfen, ging es schon längst um die Bemäntelung all dessen, was diese Nation in der Welt anrichtet und wozu sie die rückhaltlose Unterstützung ihres Volkes reklamiert.
Die inzwischen erreichte Stellung der Bundesrepublik auf dem Weltmarkt, ihr faktischer Umgang mit allen Staaten, die Nützliches und Preiswertes zu verkaufen haben oder umgekehrt erstehen wollen, läßt in einer Hinsicht keinen Zweifel offen: aus der Entscheidung der USA, diesen Staat zu errichten und seine Geschäfte florieren zu lassen, haben die politischen Veranstalter einiges zu machen verstanden. Unter dem tatkräftigen Einsatz des arbeitenden Teils ihres Volkes haben sie aus dem Schutz ihrer Souveränität durch die westliche Weltmacht das ‚Kapital geschlagen‘ - und zwar im wahren Sinne des Wortes -, das heute als Basis für einen schlagkräftigen politischen Überbau fungiert.
Die Bundesrepublik Deutschland ist mit ihren ökonomischen Interessen eine weltweit anerkannte Macht, so daß es niemand für anstößig befindet, wenn sie auf Wirtschaftsgipfeln die Konditionen künftigen Welthandels mitbestimmt. Daran, daß sie als NATO-Frontstaat tatkräftig an der jeweils aktuellen Variante der Feindschaftserklärung gegen die östliche Weltmacht mitwirkt, hat sich die übrige Staatenwelt längst gewöhnt- ebenso wie daran, daß befreundete Staaten der BRD mit westdeutschem Kriegsgerät - natürlich nach im Bundestag demokratisch beschlossenen Kriterien und unter gleichzeitiger Kritik an den armen Ländern, sie würden zuviel für Waffen ausgeben - versorgt werden. Und dennoch: in der öffentlichen wie gelehrten Beurteilung dieser Nation, die den gesamten Globus als brauchbares Betätigungsfeld für ‚unsere Interessen‘ behandelt, die sogar in der Benützung des anderen Systems erhebliche Erfolge verbuchen konnte und jetzt ein extra militärisches Gleichgewicht zwischen ‚Europa‘ und der UdSSR reklamiert, will niemand vom Charakter dieser universalen Zuständigkeit auch terminologisch Notiz nehmen.
3. Imperialismus also soll man das alles nicht nennen, was da unter der gar nicht bescheidenen Parole ‚Verantwortung für den Weltfrieden‘ seit Jahrzehnten vollzogen wird. Denn soviel will auch heute noch jedermann mit diesem Terminus verbinden: Streben nach Herrschaft in aller Welt, Ausbeutung fremder Völker, Anwendung von Gewalt gegen andere Souveräne- also lauter Verstöße gegen den moralischen Kodex menschenrechtlich wie völkerrechtlich informierter Demokraten. Also kann nicht sein, was nicht sein darf. Wer schlicht darauf verweist,
- daß der BRD-Staat im Innern eine Klassengesellschaft unterhält, in der keine Leistung und kein Opfer der arbeitenden Mehrheit groß genug ist, um die Mehrung privaten Reichtums zu befördern,
- daß der Staat diesen Reichtum auswärts als Hebel einsetzt, um seiner Vermehrung auch die außerhalb seines Hoheitsgebietes verfügbaren Quellen zu erschließen,
- daß diese Nation auch über die dazu nötigen Gewaltmittel verfügt und - für den Fall, daß sie als politische Drohung oder in ihrer amerikanischen Anwendung den Erfolg nicht gewährleisten - mit Krieg kalkuliert,
sieht sich mit entschuldigenden Dementis konfrontiert, die die Tatsachen des Imperialismus für dessen Überwindung erachten und die aufgeteilte und benützte Welt zum Zeugen für die Harmlosigkeit ihres Nutznießers anrufen.
1.5 Die theoretische Überwindung des Imperialismus
Aufgeklärten Weltbürgern sind die Tatsachen der Weltpolitik sehr gut bekannt. Sie haben sich längst daran gewöhnt, daß jede Erdgegend mit ihren Naturschätzen erschlossen ist, daß jeder Staat mit seinem Volk einen Gegenstand geschäftlicher Kalkulation darstellt. Auch wissen sie, daß ihre demokratischen Regierungen - die der Bundesrepublik hält sich da im Rahmen des Bündnisses keineswegs vornehm zurück - mit einem weltweiten Einsatz von Gewalt Sorge für das Gelingen dieser Kalkulation tragen, daß die politischen Garanten des Geschäfts also ständig mit dem Krieg rechnen. Vertraut sind ihnen auch die Opfer, welche politische und ökonomische Interessen in der großen Politik des 20. Jahrhunderts fordern. Die einschlägigen Klagen sind fester Bestandteil der öffentlichen Meinungsbildung, die Produktion von Leichen entzieht sich - in welchen Ecken der Welt sie auch gerade wieder auf einen Höhepunkt zusteuert — nur selten den TV-Kameras und den stilvollen Schilderungen der Kommentatoren. Und doch ist es mit den Kampfansagen gegen den Imperialismus, die einmal von links seine Durchsetzung begleiteten, vorbei. Der bürgerliche Wissenschaftsbetrieb liefert zwar meterweise Statistiken und Studien über die Ordnung in der Welt und ihre Krisen - aber von den Notwendigkeiten, d. h. den ehernen Gesetzen einer durch staatliche Gewalt weltweit inszenierten Kapitalverwertung wollen Theoretiker heute bei aller wohlwollenden, klagenden und kritischen Beschäftigung mit ihren Verlaufsformen nichts wissen. Wer heute wie weiland Lenin bei der Abfassung seines Klassikers das von Brotgelehrten verfaßte Schrifttum heranzieht, findet sich bei dem Bemühen, Klarheit über den Zusammenhang von arm und reich, Krieg und Frieden im Weltmaßstab zu gewinnen, mit wissenschaftlichen Meinungen konfrontiert, die kaum mehr als Ideologie zu bezeichnen sind. Wenn in einem Lehrbuch der Volkswirtschaft zu lesen ist:
Internationaler Handel wird getrieben, wenn ein Land durch Außenhandel eine größere Güterversorgung erreichen kann als ohne Handel
so handelt es sich längst nicht mehr um eine Formulierung der ‚Theorie der komparativen Kosten‘, als die dergleichen verkauft wird. Weder von Kosten und Gewinn, und schon gar nicht von Kapital und Staat ist da die Rede, wenn die von Ricardo vertretene Lehre derzufolge im internationalen Tausch, für den sich verschiedene Nationen spezialisieren, beide Nationen (!) gewinnen können - an modernen Universitäten verballhornt wird, und zwar zu Lügen. Denn soviel geht tatsächlich aus der bloßen Anschauung der Realität von Armut und Elend in armen wie reichen Nationen, die alle flott am Weltmarkt partizipieren, hervor: daß die Güterversorgung ganz sicher nicht den Grund und Zweck des Weltmarkts abgibt.
In der Erfindung von nicht existenten Zwecken sind die sich sehr sachkundig gebenden Nationalökonomen bei ihrer Betrachtung des Weltmarkts wirklich nicht faul. Getrennt von allen wirklichen Bewegungen, die Gold und Dollar, Mark und Kreuzer durchmachen, diskutieren sie die fiktive Alternative zwischen festen und flexiblen Wechselkursen, um dann - bisweilen aus dem sehr konjunkturbedingten Anlaß eines nationalen Geschäftsrückgangs, eines Nachteils in Exportdingen etc. - der einen Möglichkeit die Leistung zuzusprechen, auf die es doch wohl ankäme: die Versorgung mit Liquidität. Und in ihrer expertenhaften Besichtigung von Zahlungsströmen und Wechselkursen, Zinsniveaus und Auslandsanlagen daraufhin, ob die beobachteten Bewegungen eine ausgeglichene Handels-, Zahlungs- oder Leistungsbilanz zuwege bringen oder irgendein unerträgliches, folgenreiches und ‚gefährliches‘ Ungleichgewicht, gestehen sie ihre Methode ein. Unabhängig davon, daß keine der auf dem Weltmarkt maßgeblichen Instanzen eine wie immer geartete Bilanz und ihren Ausgleich zum Ziel hat, unbeschadet der banalen Einsicht, daß die diversen Gleichgewichte nicht einmal miteinander vereinbar wären, ginge es jemandem um sie, ergreifen sie Partei für das Funktionieren der Weltwirtschaft. Alle Ideologien, mit denen Staatsmänner gerne ihre gelungenen oder gescheiterten Geschäfte rechtfertigen und verdolmetschen, nehmen sie bitter ernst, machen sich das konstruierte Problem zum theoretischen Anliegen, um zur Suche nach Faktoren überzugehen, die seiner Lösung entgegenstehen. Dieses Verfahren allein bürgt für das Zustandekommen von ökonomischen Diagnosen, die in konsequenter Demonstration der Sorge um den reibungslosen Ablauf des Waren-, Geld- und Kapitalverkehrs in der medizinischen Metaphorik den für die Nationalökonomie passenden Jargon gefunden haben. Aus den Konkurrenzkämpfen um den Ölpreis, den OPEC-Staaten, Ölkonzerne, die Regierungen der westlichen Länder und die Verkäufer der Endprodukte vom Benzin bis zum Plastiktütchen im Supermarkt zu ihrem Geschäftsmittel zu machen streben, ist bei allem Erfolg der beteiligten Hauptakteure in der wissenschaftlichen wie populären Publizistik eine veritable ‚Energiekrise‘ geworden. Sooft sich in Fragen des Dollarkurses eine oder mehrere europäische Zentralbanken über Nachteile der von ihnen repräsentierten Geschäftsinteressen beklagen, sind die Fachleute zur Stelle und beschwören eine ‚Weltwährungskrise‘ - selbstverständlich nicht ohne (leider nicht zu realisierende) Vorschläge zur Wiederherstellung der ‚Funktionsfähigkeit‘ des darniederliegenden IWF mit seinem empfindlichen System von Sonderziehungsrechten. Vor dem Idealismus des Gelingens schlechthin, den die beteiligten Staaten, Banken und Börsenjobber in wohlkalkulierter bis erpresserischer Absicht in die Welt setzen, geraten einem Ökonomen die Konkurrenzinteressen samt den Mitteln ihrer Durchsetzung - also das, worum es geht - zu einer einzigen Ansammlung von unvernünftigen Entscheidungen, die den liebgewonnenen ‚subtilen Mechanismus‘ in all seiner ‚Komplexität‘ außer Betrieb setzen und die ‚Selbstheilungskräfte‘ des Marktes nicht zum Zuge kommen lassen. Mit all ihrer prätendierten Kennerschaft meldet die heutige Nationalökonomie lieber ein theoretisches Sorgerecht auf den internationalen Kapitalmarkt an, als ihn zu erklären; das Bewußtsein von der ‚Komplexität‘ der Sache und den Schwierigkeiten mit Begriffen und Definitionen läßt sie als einzige sachliche und sachkundige Art und Weise gelten, über die staatlich vermittelten Geschäftspraktiken, den Umgang mit Geld, Ware, Kredit, Kapital und Menschenmaterial zu reden.
Was den Ökonomen recht ist, erachten Fachleute der internationalen Politik nur für billig. Auch ihnen ist die Verwandlung von vorgefundenen Ideologien in wissenschaftliche ‚Ansätze‘ geläufig - so sehr, daß sie aus der offiziellen Bezeichnung gewisser Kreditpraktiken als ‚Entwicklungshilfe‘ den Zweck der Hilfe und das Ziel der ‚Entwicklung‘ als gesicherte Grundlage für allerlei Räsonnements über effektivere Hilfe und Alternativen der Entwicklung akzeptieren, Modelle entwerfen und die Realität des politischen Verkehrs zwischen ‚Industrienationen‘ und ‚Dritter Welt‘ keines Blickes mehr würdigen. Nach allen Regeln der Kunst, die moderne Sozialwissenschaften zur Perfektion gebracht haben - die Rede ist von der Kunst, etwas zu behaupten, den getroffenen Aussagen hypothetischen Charakter zuzusprechen und sich zu fragen, ob sich in der Realität etwas findet, das den Hypothesen entspricht-, wird da ‚Imperialismustheorie‘ betrieben. In dem Aufsatz Eine strukturelle Theorie des Imperialismus (Imperialismus und strukturelle Gewalt, hg. v. D. Senghaas, Frankfurt 1972, es 563, S. 29-104) zeigt J. Galtung in nicht endenwollenden ‚Reflexionen‘ auf, ‚daß zwischen der Zentralnation als ganzer und der Peripherienation als ganzer Disharmonie der Interessen besteht‘ (S. 38). Aber nicht etwa, um die Gegensätze zwischen den ökonomischen Bedürfnissen einer schwarzafrikanischen Regierung und bundesdeutschen Krediten auszumachen; auch nicht, um den Widerspruch zwischen den Waffenlieferungen und den Überlebensnotwendigkeiten des Volkes zu kennzeichnen, dessen Staat das Tötungsgerät in Empfang nimmt! Hier gibt sich ein engagierter Wissenschaftler seriös, indem er sich die Frage vorlegt, ob er denn nun etwas Brauchbares aufgezeigt habe. So schreitet er zu einem Dementi:
Aber diese Art von Feststellung, auf die häufig rekurriert wird, ist äußerst irreführend, weil sie die Interessenharmonie zwischen den beiden Zentren verschleiert...
Er zermartert sich sein Hirn mit einer ‚komplexen Definition‘ des Imperialismus:
In unserer Zwei-Nationen-Welt kann (!) Imperialismus jetzt bestimmt werden als eine Möglichkeit (!) der Machtausübung der Nation im Zentrum über die Nation an der Peripherie...
und bemerkt keineswegs, daß er nur noch über lauter Abstraktionen von der Welt verhandelt und das wirkliche Geschehen zu einem Gefüge von ‚Interaktionsstrukturen‘ und ‚Interaktionsbeziehungen‘ verfabelt, die in ihrer Inhaltslosigkeit nur das Bedürfnis nach der Erstellung eines Modells befriedigen, das schließlich mit Pfeilen und Kästchen vor dem Leser ersteht. Es ist eben etwas anderes, die Weltwirtschaft zur Kenntnis zu nehmen und die Gründe zu erschließen, die ihre maßgeblichen Subjekte dazu bringen, ein fröhliches Nebeneinander von Armut und Reichtum zu erzeugen, als die ökonomischen und politischen Benutzungs- und Erpressungspraktiken in die Idee einer Struktur zu übersetzen. Nur wer letzteres mit Wissenschaft verwechselt, ist in der Lage, über Beobachtungen im Irrealis Belege für die Existenz des Imperialismus finden zu wollen und sich wegen des absehbaren Scheiterns dieses Bemühens einen Auftrag für Faktenstudien zu erteilen:
Angenommen, wir gingen nun vom entgegengesetzten Ende aus und entdeckten, daß manche Nationen im Laufe der Zeit ihre Lebensbedingungen stärker verbessern als andere und daß dieser Prozeß eine bestimmte Struktur hat, eine bestimmte Invarianz. Wie gesagt, ist das an sich noch kein Beweis für die Existenz von Imperialismus; es sollte aber den Forscher dazu veranlassen, in dieser Richtung nach Faktenmaterial zu suchen.
Die Ergänzung einer Welt, die aus ‚Strukturen‘, ‚Prozessen‘ und ‚Beziehungen‘ besteht (denen immerzu das Attribut ‚bestimmt‘ beigelegt wird, ganz als ob dadurch die Bestimmungslosigkeit der soziologischen Worthülsen getilgt wäre!), um Statistiken des Pro-Kopf-Einkommens aller Weltgegenden ist allerdings keine Hinwendung zur Realität, sondern deren Vortäuschung. Denn i den Dollarbetrag, der da ideell einem Pakistan! oder Schwarzafrikaner zum Verzehr in die Hand gedrückt wird, sieht der gute Mann sein Leben lang nicht. Und der verschämte Hinweis darauf, den moderne Theoretiker der ‚Unterentwicklung‘ stets zur Hand haben, daß die Verteilung des Bruttosozialprodukts eben eine äußerst ungleiche wäre, nimmt ihrem Konstrukt nichts von seiner Absurdität. Man muß eben erst einmal das Ziel einer Versorgung der Welt mit Lebensmitteln und -chancen als existent unterstellen, um seine Nicht-Realisierung zu beklagen und diese Klage dann als Erklärung des Imperialismus auszugeben - die wohlmeinenden Korrekturvorschläge in Sachen ‚Veränderung der Strukturen‘ erweisen sich dann ausgerechnet deshalb als undurchführbar, weil die ‚Realität‘ sie nicht zuläßt. Diejenigen Forscher, die sich als Imperialismustheoretiker an den modernen Universitäten einen Namen machen, haben im übrigen längst die ‚Schwierigkeit‘ der Veränderung mit ihren theoretischen Drangsalen und Unzulänglichkeiten zusammengebracht: auch eine Weise, die Macher des Imperialismus zu entschuldigen, indem man die eigenen, auf ‚Überwindung‘ von Ungerechtigkeiten aller Art zielenden Analysen zwar nicht der Falschheit, wohl aber der Vorläufigkeit und Unausgegorenheit bezichtigt. Darauf versteht sich D. Senghaas, der als langjähriger Leiter der Hessischen Stiftung für Friedensund Konfliktforschung mit der Rede von ‚struktureller Gewalt‘ und ‚organisierter Friedlosigkeit‘ die imperialistischen Praktiken und ihre Wirkungen in soziologischen Mechanismen, die walten, Verdanken hat, sehr gut:
[...] doch gilt es, zuerst einmal das Fundament für die analytische Erfassung gegebener Tatbestände zu legen, ehe Veränderungsstrategien entwickelt werden, die, wenn sie auf unzulänglichen Analysen beruhen, sich kaum in praktisches Handeln übersetzen lassen. (Editorisches Vorwort zu Imperialismus und strukturelle Gewalt, S. 25)
So mag sich mancher verhungernde oder in einen mit europäischen und amerikanischen Waffen angezettelten Bürgerkrieg verwickelte Afrikaner damit abfinden, daß sein Schicksal sich nicht den Taten und Leistungen gewisser Außenpolitiker verdankt, sondern dem bislang noch fehlenden ‚Konzept‘ für ‚symmetrisch strukturierte Hilfeleistung‘!
Nie wird modernen Wissenschaftlern, die in der Befassung mit den verheerenden Wirkungen des ‚Weltmarkts‘ und der ‚Entwicklungspolitik‘ ihre Karriere machen, die offiziell angegebene Zielsetzung verdächtig. Lautet sie ‚Hilfe‘, warnen sie vor falscher Hilfe und ersinnen Hilfsmodelle; lautet sie ‚Frieden‘, so eröffnen sie sich das weite Feld der Friedensforschung und unterstellen den berufsmäßigen Rüstungsdiplomaten den ungebrochenen Willen zur Vermeidung von Kriegen, freilich mit gewissen Erkenntnislücken in Sachen ‚Kriegsgefahr‘, die sie dann schließen. Dem strategischen Zynismus, der die Waffen des Feindes als Beleg für die schlechten Aussichten auf einen Sieg und damit schon auch einmal für die Überholtheit des Krieges wertet, verschaffen die Männer der Friedensforscherzunft wissenschaftliche Reputierlichkeit, indem sie die Mittel des Krieges als Grund für seine Unbrauchbarkeit ebenso in Druck geben wie als Gefahr für sein Zustandekommen. Was soll man eigentlich von Intellektuellen wie Senghaas halten, die sich fragen, ‚ob das Atomzeitalter das Zustandekommen einer (!) Beziehung zwischen Politik und Gewalt zuläßt‘, die aber auch Gewalt ‚strukturell‘ und ‚den Unfrieden institutionell verankert‘ wissen wollen? Kann man ihnen wirklich ihren Idealismus des Friedens, an dem sie so unermüdlich herumschriftstellern, zugute halten? Oder darf man ihnen ganz ungeniert bescheinigen, daß sie mit großkalibrigen und geschichtsträchtigen Sätzen wie:
Der Krieg als Fortsetzung der Politik ist weithin (!) sinnlos (!) geworden... Das Größenwachstum seiner Mittel führte den Ruin (!) des Krieges nach rein militärischen Begriffen schon vor Jahrzehnten herbei.
auf ihre Weise den Politikern zur Seite stehen, die immerzu aus der Tatsache, daß Kriege nicht Zweck, wohl aber kalkuliertes Mittel sind, ihre Friedenspolitik begründen? Die zielt nämlich auf die Nachgiebigkeit des Gegners, den heutzutage jeder kennt, beruht auf seiner Erpressung mit den militärischen Mitteln, die den Sieg garantieren - und rechtfertigt sich gerne mit den furchtbaren Wirkungen, die ein Krieg ‚heute‘ habe! Vielleicht darf man einem Friedensforscher gegenüber auch einmal klarstellen, daß er immerzu die Subjekte von Krieg und Frieden entschuldigt und als Opfer ihrer eigenen Taten hinstellt, wenn er ihnen mit wissenschaftlichem Gestus die enormen Schwierigkeiten nachempfindet, die ihrem geheuchelten Abrüstungswillen entgegenstehen:
Rüstungskontrollpolitik mit dem Ziel einer Verminderung von Rüstungsanstrengungen kann in einem Gebilde, das konfigurativ (!) verursacht ist, nur dann erfolgreich sein, wenn sie auf eine Kombination von einer Vielfalt geplanter Maßnahmen und einer Vielzahl praktischer Schritte angelegt ist. (D. Senghaas)
Aber auch auf die alles klärende Frage an Theoretiker, was denn eine von ihnen sämtlichen freien Regierungen unterstellten Absicht entgegenstehe, Frieden zu halten und der darbenden Bevölkerung der ‚Dritten Welt‘ zu helfen, die polnischen Arbeiter eingeschlossen; welche Sachzwänge und vertrackten Tücken des Objekts denn eigentlich dem guten Willen, der ansonsten das Kommando zur Mondfahrt, zum Bau von Atomkraftwerken und zu den komplizierten Techniken weltweiter Ausbeutung zuwege bringt, im Wege seien - auch auf solche banalen Erinnerungen an den wirklichen Lauf der Welt hat die moderne Wissenschaft schon ihre ausweichenden Antworten und tiefsinnigen, weltanschaulichen Spekulationen parat. Wenn sie einmal nicht den offiziellen Ideologien des Imperialismus die Würde eines Problems zuspricht, das in vielen ‚Ansätzen‘ einer ‚Lösung‘ zugeführt werden muß, so gibt sich die Zunft der heutigen Dichter und Denker ganz ‚realistisch‘ -und verweist auf Naturnotwendigkeiten der Geschichte - auch ein schönes Subjekt! - und des Menschen. Von Augstein und einem Psychologen der ersten Garnitur können sich bundesdeutsche Zeitungsleser gehobenen Anspruchs mitteilen lassen, daß ‚Aggression‘ und ‚Todestrieb‘ den 3. Weltkrieg langsam aber sicher heraufbeschwören. Selbst auf diese Weise ist Zustimmung zu ‚problematischen‘ Entscheidungen erlaubt und gefragt. Philosophisch-anthropologisch läßt sich der Imperialismus eben auch leugnen. Statt seiner gibt es wieder einmal ein Schicksal, und in der Ökologie die Philosophie des Überlebens. Kriegsspielzeug gehört verboten!
1.6 Lenins Imperialismusschrift: Ein aktueller, aber falscher Klassiker
Ganz anders als die akademische Wirtschaftswissenschaft und Lehre von der internationalen Politik verfährt Lenin in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. (Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 765 ff.) Weder macht er sich zum Anwalt der Probleme, der wirklichen wie denkbaren, die den internationalen Handel und die immerzu auf Friedenserhaltung abzielende Weltpolitik heimsuchen, noch entschuldigt er die Subjekte der weltweiten Symbiose von Geschäft und Gewalt damit, daß er ihnen Unkenntnis und Versäumnisse zur Last legt bei der Bewältigung ihrer seriösen Vorhaben, für ‚Entwicklung‘ und ‚Frieden‘ zu sorgen. Er tritt von vornherein als Ankläger auf, der von guten Zwecken nichts bemerkt haben will, deren Scheitern ein Anlaß wäre zur Erfindung besserer Alternativen. Kompromißlos verurteilt er die Geschäftspraktiken, die den Weltmarkt bestimmen -und er läßt an der Vorstellung, daß die ökonomischen Sitten der Marktwirtschaft ohne Krieg zu haben seien, kein gutes Haar. Ob sich diese Kompromißlosigkeit freilich auf richtige Einsichten stützt, muß bezweifelt werden - auch wenn der russische Revolutionär nicht auf den Fehler verfallen ist, mit allen Instanzen der Weltpolitik in einen Dialog über die Erhaltung des Friedens einzutreten.
Lenin hat seine am weitesten verbreitete Schrift mitten im Ersten Weltkrieg verfaßt. Angesichts dieser Tatsache mutet sein Beweisziel einigermaßen seltsam an. Er wollte zeigen,
daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind. (S. 770)
Zu einem Zeitpunkt, als das Völkerschlachten in vollem Gange war, die Notwendigkeit des Krieges in einer theoretischen Kampfschrift darzutun, die imperialistische Gewaltanwendung mit Hilfe und auf Kosten von Millionen national- und pflichtbewußter Menschen aus dem Privateigentum zu begründen - das ist für einen Revolutionär ein gar nicht selbstverständliches Unternehmen. Denn ein solcher Nachweis wendet sich auf keinen Fall an die Betroffenen, die sich gerade sehr praktisch mit dem Töten und Sterben befassen. Er ist keine Agitation, die den Opfern des Imperialismus zeigt, was sie an verkehrtem Zeug denken und was sie zu ihrem eigenen Schaden treiben, also keine theoretische Mitteilung, die auf die Veränderung der praktischen Stellung der Klasse zielte, deren Interessen die Kommunisten durchsetzen wollen. Wie sollten auch Erörterungen darüber, wie enorm sich unter der Herrschaft des Finanzkapitals die Widersprüche des Imperialismus verschärfen, zur praktischen Anleitung eines Aufstands bei denen taugen, die jene Widersprüche gerade ausbaden?
Lenins Imperialismustheorie ist eine Streitschrift anderer Art. Sie sollte eine begründete Abrechnung mit der Politik von Parteien sein, die als Organisationen der Arbeiterbewegung ihren Frieden mit dem Klassenstaat geschlossen haben und zur Durchsetzung von dessen außenpolitischen Anliegen selbst für den Krieg eingetreten sind. Sozialdemokratische Politiker, die noch den Baseler Beschlüssen zugestimmt hatten, erwiesen sich als eifrige Verfechter der Vorhaben ihrer Nation, so daß Lenin ‚mit dem Gefühl tiefster Bitterkeit‘ 1914 schrieb:
Die einflußreichsten sozialistischen Führer und die einflußreichsten sozialistischen Presseorgane im heutigen Europa vertreten den chauvinistisch-bürgerlichen und liberalen, keineswegs aber den sozialistischen Standpunkt. (S. 747)
Mit seiner Analyse, die ‚das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen‘ darstellen sollte, hat er sich gegen die offensichtliche Entwicklung von ehemals kommunistischen Parteien hin zu den heute üblichen Sozialdemokratien gewandt, zu Parteien, die mit Reformalternativen um die Regierung des Klassenstaats konkurrieren. Nachdem maßgebliche Theoretiker der II. Internationale ebenso wie Wissenschaftler aus dem bürgerlichen Lager die Ideologien für den linken Nationalismus bereitgestellt hatten, kam es Lenin auf die grundsätzliche Widerlegung dieser Parteigänger des Klassenstaats und seines außenpolitischen Wirkens an. Mit einer richtigen Theorie des Imperialismus wollte er klarstellen, womit es sozialistische Parteien da zu tun, was sie zu vertreten hatten und welche illusionären Zielsetzungen sie korrigieren mußten:
Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der politischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen. (S. 774)
In solchen methodischen Bemerkungen, die sich nicht nur in den Vorworten häufen, besteht Lenin immerhin darauf, daß Kommunisten schon wissen müssen, wogegen sie antreten; daß politische Entscheidungen aus der Einsicht in die Gründe und Zwecke des imperialistischen Treibens zu folgen haben und nicht aus Hoffnungen und Friedensidealen. So polemisiert er gegen das Kautsky-sche Kompliment an die Politik kapitalistischer Nationen, sie berge die Möglichkeit friedlichen Umgangs mit dem Rest der Welt in sich; er geißelt den Abschied vom Klassenkampf und die Sorge um die bessere politische Alternative in der Außenpolitik, die für eine Partei nur konsequent ist, wenn sie die Sicherung des Friedens für einen staatlichen Auftrag hält:
Wesentlich ist, daß Kautsky die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomie trennt, indem er von Annexionen als einer vom Finanzkapital >bevorzugten< Politik spricht und ihr eine angeblich mögliche andere bürgerliche Politik auf derselben Basis des Finanzkapitals gegenüberstellt. (S. 842)
Darüber hinaus spricht hier Lenin auch den inhaltlichen Beweis an, den er für die Notwendigkeit gewaltsamer Übergriffe kapitalistischer Staaten rühren will. Sie liegt für ihn in den ökonomischen Bewegungsgesetzen, den entscheidenden Geschäftsinteressen des ‚Finanzkapitals‘. Diese Interessen und ihre Verlaufsformen bestimmen den Gang der internationalen Auseinandersetzungen -das Finanzkapital wirft ‚im buchstäblichen Sinne des Wortes seine Netze über alle Länder der Welt aus‘, und es ‚führte auch zur direkten Aufteilung der Welt‘.
Lenins Einwand gegen die Theoretiker des Opportunismus in der II. Internationale, sie würden die Politik von ihrer ökonomischen Grundlage trennen, ist der Auftakt für die Analyse des Kapitals und seines Geschäftsgebarens, in der die Politik mit ihren Zwecken erst einmal gar nicht vorkommt. Lenin verzichtet großzügig auf die Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik, und das aus der ‚orthodoxen‘ Sicherheit heraus, daß letztere ohnehin in nichts anderem besteht als in der Exekution der Geschäftsinteressen des Kapitals. Insofern gehört seine Schrift zu jener Abteilung marxistischer Theorie, die mit dem Bekenntnis zur ‚ökonomischen Basis‘, welche alles übrige ‚bestimmt‘, dem speziellen Gegenstand sehr konsequent aus dem Weg geht und eine verkehrte ‚Bestimmung‘ der Politik vornimmt. Wie der Zusammenhang von Profitinteresse von Kapitalisten und Außenpolitik des ideellen Gesamtkapitalisten für Lenin aussieht, geht aus den wenigen Bemerkungen über das Verhältnis von Staat und Kapital im Imperialismus hervor:
Die Rettung liegt im Monopol - sagten die Kapitalisten und gründeten Kartelle, Syndikate und Trusts; die Rettung liegt im Monopol - sekundierten [!] die politischen Führer der Bourgeoisie und beeilten sich, die noch unverteilten Gebiete der Welt an sich zu reißen. (S. 830)
Und auf dieser Grundlage ist das selbstkritische Bedauern im Vorwort ziemlich überflüssig - ‚Auf die nichtökonomische Seite der Frage werden wir nicht so eingehen können, wie sie es verdienen würde‘ -, denn mit der Deduktion des Imperialismus aus Monopol- und Finanzkapital ist Lenin der große Wurf gelungen, die Notwendigkeit von Annexionen und Kriegen zwischen imperialistischen Staaten als Abwicklung des Geschäfts darzustellen - und umgekehrt das internationale Geschäft für die jenseits aller staatlichen Aktionen und Mittel vollzogene Fortführung kapitalistischer Bereicherung auszugeben. Lenin behandelt den Weltmarkt samt den Verlaufsformen auswärtiger Politik auch gar nicht als Konsequenzen des kapitalistischen Privateigentums und seiner Beförderung durch den Klassenstaat, sondern als Veränderung des Kapitalismus; und der unbestreitbare Dienst des Klassenstaats für den nationalen Reichtum, den es nun einmal als Kapital gibt, erledigt sich für ihn - entsprechend dem Titel: der Imperialismus als Stadium -mit den Neuerungen, die er dem Kapital zuschreibt. Ironischerweise mündet das methodische Credo zum Marxismus - ‚die ökonomischen Wurzeln‘ hätte man zu begreifen, die ‚Trennung‘ des politischen Überbaus von der ökonomischen Grundlage sei der Fehler irriger Auffassungen - in eine handfeste Revision gerade der Marxschen Erklärung der Ökonomie. Diese Revision beginnt bei Lenin mit der Entdeckung der Monopole. Das sind ökonomische Gebilde, die sich der Konkurrenz entziehen, was ihnen durch ihr gewaltiges Ausmaß gestattet wird. Lenin beruft sich zum Zwecke der Demonstration seiner Entdeckung, daß sich der Kapitalismus grundsätzlich geändert habe - ‚Die Konkurrenz wandelt sich zum Monopol‘ -, einerseits auf Äußerungen von Marx über Konzentration und Zentralisation, andererseits zieht er durchaus ungewöhnliche Schlüsse aus der Feststellung, daß die Größe des Kapitals ein Mittel des Geschäfts darstellt. Die Bewährung in der Konkurrenz ist nämlich etwas ganz anderes als ihre Abschaffung, und daß das Monopol zum Ideal eines jeden Unternehmers wird, heißt noch lange nicht, daß dieses Ideal mit Preis- und Marktabsprachen erreicht wäre. Oder, um Lenin selbst dementieren zu lassen: die Konkurrenz (für andere, die es immerhin auch noch gibt!) wird erschwert und ‚das Monopol‘ ist eine Tendenz:
Fast die Hälfte der Gesamtproduktion aller Betriebe des Landes liegt in den Händen eines Hundertstels der Gesamtzahl der Betriebe! Und diese dreitausend Riesenbetriebe umfassen 258 Industriezweige. Daraus erhellt, daß die Konzentration auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung sozusagen [!] von selbst dicht [!] an das Monopol heranführt. Denn einigen Dutzend Riesenbetrieben fällt es leicht, sich untereinander zu verständigen, während andererseits gerade durch das Riesenausmaß der Betriebe die Konkurrenz erschwert [!] und die Tendenz [!] zum Monopol erzeugt wird. Diese Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol ist eine der wichtigsten Erscheinungen - wenn nicht die wichtigste — in der Ökonomik des modernen Kapitalismus [....](S. 777)
Weder die Statistiken über die Größe von Unternehmen noch die über die Anzahl von an der Konkurrenz beteiligten Firmen beweisen den Übergang zu ihrer Abwesenheit; und noch viel weniger ist dieser Beweis mit Absprachen zwischen Konkurrenten zu führen, die sie als zeitweiliges Mittel für ihren Gewinn benützen. Das scheint auch Lenin zu wissen, weshalb er den Gegensatz von ‚vorübergehend‘ und ‚Grundlage‘ aufmacht: ‚Statt einer vorübergehenden Erscheinung werden die Kartelle eine der Grundlagen des gesamten Wirtschaftslebens.‘ (S. 780)
Aber auch noch so viele, gezählte und beim Namen genannte ‚monopolistische Unternehmensverbände [?], Kartelle, Syndikate‘ belegen die ‚Ablösung der kapitalistisch freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole‘ nicht, und wenn einmal die Industrieschutzzölle, das andere Mal der Freihandel als Motor der Kartellbildung herhalten müssen (S. 778), so ist explizit von einem Mittel der Konkurrenz die Rede, dem Lenin freilich wieder die ‚monopolistische Tendenz‘ entlockt. Eisern hält er an dieser Tendenz fest, und daß ihn nicht die Logik dazu beflügelt, das Zeitalter des Monopols - ‚der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz‘ (S. 838) - für angebrochen zu erklären, sondern eine eigenartige Sorte Moral, zeigen die Leistungen, die er den Monopolen nachsagt: ‚Riesengewinne‘ erzielen sie, und wenn dann doch lästige Konkurrenten das ‚direkte Gegenteil‘ hintertreiben, bedient das Monopol sich sogar des Verzichts auf Gewinn, geht zum Dumping über, durch das es ‚alle diejenigen abwürgt, die sich dem Monopol, seiner Willkür [!] nicht unterwerfen.‘ (S. 785) Immer wieder gelingt es Lenin, aus Daten der Konkurrenz die Wucht der von keinerlei zahlungsfähiger Nachfrage, von keinerlei Marktschranken behinderten Monster vor Augen zu führen: Willkür und Allmacht sind schließlich die recht unökonomischen Charakteristika der Monopole, ihre Rücksichtslosigkeit kennt keine Grenzen, Gewalt heißt ihr Motto - ganz als ob der liebe, auf ‚freier Konkurrenz‘ beruhende ‚Frühkapitalismus‘ mit seiner alten Ökonomie eine Ansammlung von Respektbezeugungen für die Menschheit gewesen wäre:
Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt - das ist das Typische für die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger [!] wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegangen ist. (S. 786)
Dabei rühmt Lenin einen sehr bürgerlichen Menschen für den Terminus ‚Herrschaftsverhältnis‘, den er ihm abnimmt, obgleich der zitierte Mann von Herrschaft einer Industrie (!) über eine andere spricht. Und diese Manier, andauernd bürgerliche Kronzeugen für seine Entdeckung des tiefgreifenden Wandels zum Monopol heranzuziehen, entspricht durchaus dem bürgerlichen und gar nicht revolutionären Gerede von den Großen, die machen, was sie wollen, dem sich ein Marxist besser nicht anschließt. Doch Lenin versteht es sehr gut, die moralische Verurteilung auf ‚marxistisch‘ vorzutragen. Nachdem er noch einmal die Konkurrenz bemüht hat, um die Gemeinheit der Monopole zu geißeln - ‚Um die Konkurrenz aus einer derart einträglichen Industrie auszuschalten, wenden die Monopolinhaber sogar allerlei Tricks an [...]‘ (S. 786) -, schreitet er zum Schaden, den die Monopole anrichten, und zwar für die ganze Gesellschaft. Er nimmt die Ideologie der ‚Ausschaltung der Krisen durch die Kartelle‘ zum Anlaß, um den ‚chaotischen Charakter‘ des Kapitalismus zu verurteilen und den Hauptfeind Monopol verschärfend wirken zu lassen:
Im Gegenteil, das Monopol, das meinigen [!] Industriezweigen entsteht, verstärkt und verschärft den chaotischen Charakter, der der ganzen kapitalistischen Produktion in ihrer Gesamtheit eigen ist. (S. 787)
Und wer hat von diesem Schaden den Nutzen? Die Monopole selbstverständlich, zumindest wenn Konzentration dasselbe ist wie Zentralisation und die wiederum dasselbe wie Monopol: ‚Die Krisen - jeder Art, am häufigsten ökonomische Krisen, aber nicht diese allein - verstärken aber ihrerseits in ungeheurem Maße die Tendenz zur Konzentration und zum Monopol.‘ (S. 787)
So richtig verkommen deucht einen Marxisten freilich der Kapitalismus der Monopole erst dann, wenn er die historischen Pluspunkte des Kapitalismus mehrt, aber schließlich doch scheitert. Die Folge des Monopols ist
ein gigantischer Fortschritt in der Vergesellschaftung der Produktion. Im besonderen wird auch der Prozeß der technischen Erfindungen und Vervollkommnungen vergesellschaftet. Das ist schon etwas ganz anderes als die alte freie Konkurrenz zersplitterter Unternehmer, die nichts voneinander wissen [...] annähernde Berechnung der Größe des Marktes [...] Die qualifizierten Arbeitskräfte werden monopolisiert, die besten Ingenieure angestellt [...](S. 784)
Aber so richtig in den Genuß der Vergesellschaftungsfortschritte kommt die Menschheit dennoch nicht, trotz der Überwindung der Konkurrenz, die Lenin für einen Mangel des Kapitals hält und nicht für den Motor der Akkumulation und die Klage von Kapitalisten, die gerade rationalisieren! Schließlich wird zwar die Produktion vergesellschaftet, die Aneignung jedoch bleibt privat (S. 784) - und so stehen dem ‚gigantischen technischen Fortschritt‘ durchaus ‚Stagnation und Fäulnis‘ gegenüber:
In dem Maße, wie Monopolpreise, sei es auch nur vorübergehend [!] eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade [!] der Antrieb zu technischem Fortschritt, [...] entsteht die ökonomische Möglichkeit [!!], den technischen Fortschritt künstlich [!!!] aufzuhalten. (S. 848)
So vollbringen die Monopole die Kunst, den Fortschritt, den sie selber organisieren, doch noch zu bremsen, laden auf die ‚übrige Bevölkerung‘ jede Menge Druck ab (S. 784), und die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus ist für die Epigonen schon zur Hälfte fertig. Jetzt ist nur noch der Vorwurf nötig, der Staat würde sich für die Monopole stark machen - statt, wie es für einen echten Klassenstaat ziemlich wäre, für die Geschundenen, sprich ‚Unterprivilegierten‘ -, und schon geht die ‚soziale Revolution‘ im Namen der ‚Mehrheit‘ als Weg zur ‚antimonopolitistischen Demokratie‘ über die Ideenbühne.
So ist zwar der Imperialismus noch gar nicht vorgekommen, aber dafür wurde eine neue Kapitalismuskritik im Namen von Marx aus der Taufe gehoben. Hilfestellung leistete die seit Engels immer wieder gerne aufgelegte Platte vom gesellschaftlichen Produzieren (gut!) und vom privaten Aneignen (schlecht!). Dieser beliebte Widerspruch, der mit dem in der Warenanalyse bezeichneten Gegensatz von privater und gesellschaftlicher Arbeit herzlich wenig zu tun hat, beruht schon in seiner Urfassung auf einer hohen Meinung vom gesellschaftlichen Charakter der Produktion, für den der Kapitalismus ein dickes Plus erntet, obwohl er diese Qualität mit jeder Produktionsweise teilt. Seine gesellschaftliche Form der Produktion, die Sache mit dem Privateigentum, das den Reichtum seinen Produzenten als Kapital gegenüberstellt und sie für sich arbeiten läßt, gerät dann zur schlechten Seite des Kapitalismus, der ja wie alles vergänglich Ding zwei Seiten braucht. Bei Lenin wächst sich .diese Dialektik - die parteilich umgedreht übrigens Soziologie heißt: ‚Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft‘, lautet da Lehrsatz Nr. 1, ‚Alles ist gesellschaftlich‘, der Lehrsatz Nr. 2, und die fortschrittlichen Soziologen wähnen sich mit dem Anliegen, alles ‚gesellschaftlich betrachten zu wollen‘, auch noch auf Marx' Spuren - zu einem neuen Stadium aus. Das Monopol, das angestrebt wird, um privaten Reichtum ausschließend gegen andere zu vermehren, macht alles gesellschaftlicher - schließlich findet immer mehr Eigentum auch noch anderer für die gemeinsamen Zwecke Verwendung -, so daß die private Aneignung erst richtig zum Himmel schreit.
So ähnlich sieht es auch im Verhältnis von Unternehmer und Bankier aus. Jeder für sich ist ja schon nicht übermäßig schön; wenn sie aber verschmelzen und der eine des anderen Knecht wird - zumindest in der Ansicht eines Marxisten -, tritt der Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium. Zumindest gemäß Lenins berühmtem zweiten Merkmal, dem Finanzkapital.
Im bürgerlichen Kreditwesen entdeckt der Imperialismustheoretiker Lenin zwar auch nicht den Imperialismus, dafür aber Gelegenheiten genug, der kapitalistischen Produktionsweise eine weitere Tendenz zum Verwerflichen nachzusagen. Wie in der Abteilung ‚Monopol‘ taugen die richtigen und bisweilen explizit dem Marxschen ‚Kapital‘ entnommenen Aussagen über ökonomische Vorgänge dazu nicht: So wenig, wie sich mit Bestimmungen über Konzentration und Zentralisation die Ablösung der Konkurrenz und die neue Qualität des monopolistischen Kapitalismus dartun lassen, so schwer fällt es, mit Mitteln der Logik aus den Erklärungen des Verhältnisses von Industrie- und Geldkapital eine Epoche des Finanzkapitals anbrechen zu lassen. Deshalb kommt der Fortschritt in der moralischen Verurteilung des Kapitalismus auch über andere, eben die bekannten Beweismittel zustande:
Die Trennung des Kapitaleigentums von der Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. (S. 813)
Für eine neue Rolle des Bankkapitalisten und seiner ‚parasitären‘ Existenz sowie der von ‚Couponschneidern‘ gibt eine Wiedergabe von Bemerkungen zur Trennung von Geld- und Industriekapital nichts her; bei Marx ist in diesem Zusammenhang im übrigen von der Notwendigkeit der Trennung die Rede, deswegen auch von ihrer ökonomischen Funktion: durch den Kreditüberbau, der eben im Aktienkapital die Größe des Kapitals als Konkurrenzmittel erst so richtig zum Einsatz kommen läßt, erhält das Kapital die Freiheit, sich von seiner Anlage in einer besonderen Sphäre unabhängig zu machen, womit auch seine Bindung an besondere Personen und seine Verwurzelung in einem speziellen Gewerbe abgestreift ist.
Daß Bankiers und Aktionäre von ihrem Geldkapital leben, war dagegen Marx ziemlich gleichgültig; eher schon schien ihm interessant, daß sie dies auf Kosten der Arbeiterklasse tun - und sich darin von ihren industriellen Kollegen keineswegs unterscheiden. Den moralischen Maßstab guter, weil nützlicher, ‚die Produktion‘ besorgender Kapitalisten anzulegen und damit den neuesten Stand der Ausbeutung zu kritisieren, ist nur dem Theoretiker geläufig, der den Fortschritt des Kapitalismus am ‚Niedergang‘ seiner herrschenden Klasse belegen will!
Dabei besteht die ‚Neuerung‘, wie gesagt, erst einmal im Ausmaß einer für den Kapitalismus üblichen Sache. Lenin, der immer wieder mit dem ‚tiefen‘ und ‚tiefsten‘ Wesen des Imperialismus daherkommt, entdeckt selbiges in Statistiken und Schaubildern, die dem Leser angesichts gewaltiger Bankaktiva und der Unmengen von zirkulierenden Wertpapieren die neue Ära vor Augen führen. Das fehlende Argument für eine Bestimmung des Imperialismus gibt er, seinem Anspruch als Marxist treu, in einer dialektischen Lesehilfe: Wir habenausführlich statistische Daten angeführt, die zeigen, bis zu welchem Grade das Bankkapital angewachsen ist usw. und worin eben das Umschlagen von Quantität in Qualität, das Umschlagen des hochentwickelten Kapitalismus in Imperialismus seinen Ausdruck gefunden hat.
(S. 839)
Den dritten Schlag landet er mit Stellungnahmen bürgerlicher Ökonomen, die sich die Sorgen eines Teils der Geschäftswelt zu eigen machen und ungesunde Entwicklungen beklagen - wodurch er sich mit seinen ‚Schlußfolgerungen‘ in den Besitz unumstößlicher Tatsachen gesetzt haben möchte:
Um dem Leser eine möglichst gut fundierte Vorstellung vom Imperialismus zu geben, waren wir absichtlich bestrebt, möglichst viele Äußerungen bürgerlicher Ökonomen zu zitieren, die sich gezwungen sehen, besonders unstreitbar feststehende Tatsachen aus der neuesten Ökonomik des Kapitalismus anzuerkennen. (S. 839)
Unter Anwendung dieser Hilfsmittel gelangt man freilich zu erstaunlichen Einsichten über Herren und Knechte innerhalb der herrschenden Klasse. Banken sind etwas anderes, als sie scheinen; und zwar sind sie das, was sie sind, recht überdimensional, woran sich ihre Macht ablesen läßt:
Die Bank, die das Kontokorrent für bestimmte Kapitalisten führt, übt scheinbar eine rein technische, eine bloße Hilfsoperation aus [...] [Nun kommt nicht etwa, wie bei Marx, der Begriff der Bank, nein:] Sobald aber diese Operation Riesendimensionen annimmt, zeigt sich, daß eine Handvoll Monopolisten sich die Handels- und Industrieoperationen der ganzen kapitalistischen Gesellschaft unterwirft, indem sie - durch die Bankverbindungen, Kontokorrente und andere Finanzoperationen - die Möglichkeit erhält, sich zunächst über die Geschäftslage der einzelnen Kapitalisten genau zu informieren, dann sie zu kontrollieren, sie durch Erweiterung oder Schmälerung, Erleichterung oder Erschwerung der Kredite zu beeinflussen und schließlich ihr Schicksal restlos zu bestimmen. (S. 792)
Ohne den geringsten Hinweis darauf, worum es zwischen Bank und industriellem Kapital geht, wenn Kapital verliehen und mit Wertpapieren gehandelt wird, kommt die Suche nach dem Subjekt, das alles beherrscht und in seiner Allmacht für den Imperialismus verantwortlich ist, ans Ziel. Fast kriegt man Mitleid mit den netten Herren Industriellen angesichts des Molochs Finanzkapital. Die armen Burschen müssen ihre Bücher herzeigen, wenn sie ihre Kreditwürdigkeit unter Beweis stellen wollen - und nicht ihr Geschäftsgang wird mit Hilfe des Kredits befördert, sondern ihr Schicksal wird restlos bestimmt! Nicht einmal der simple Gedanke, daß auch die Bank von der Nachfrage nach Kredit ‚abhängig‘ ist und diese vom Geschäftsgang der Industrie, daß in der Konkurrenz zwischen Geld- und Industriekapital also zwei Abteilungen der herrschenden Klasse ihren ökonomischen Erfolg bewirken und um den Anteil des produzierten Gewinns streiten, kommt da auf! Der anständigen industriellen Ausbeutung von einst stehen ‚dunkle und schmutzige‘ Machenschaften der Banken von heute gegenüber, statt eines ehrbaren Zinses gibt es wieder ‚Wucher‘, womit die ökonomische Rolle des Kredits für die kapitalistische Produktion in seine moralische Niedertracht aufgelöst wäre.
Zeitweise fragt man sich bei der Lektüre der Schrift, ob es überhaupt noch Industrielle gibt - denn die Konkurrenz zwischen Geld- und produktivem Kapital, die beiden recht gut bekommt, existiert für Lenin eigentlich gar nicht: ‚Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses Finanzkapitals‘ (S. 839). Womöglich würde er die Personalidentität von Banker und Industriellen auch als Beleg dafür nehmen, daß es die neueste Ökonomie zum Verschwinden von Kredit und Fabrik gebracht hat, und wie seine Epigonen darauf bestehen, daß sogar der arme Klassenstaat ‚unter der Fuchtel‘ des Finanzkapitals steht und sich verschulden ‚muß‘! Aber die Beschwörung einer herrschenden Instanz, die mit ihrer Allmacht dem Rest der Gesellschaft einen fürchterlichen Tribut auferlegt, erfordert auch die Existenz von Opfern. Also gibt es ein ‚Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals‘, eine ‚Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie‘ - ein kleiner Hinweis darauf, daß noch die häßlichsten Schmarotzer auf Opfer angewiesen sind, ebenso wie die betrügerischen Spekulanten etwas brauchen, worauf sie spekulieren können. Womit auch die Albernheit des Lehrsatzes bestätigt wäre, der den Kapitalismus nicht durch seine Produktionsweise kennzeichnet: ‚Für den Imperialismus ist ja gerade nicht das Industrie-, sondern das Finanzkapital charakteristisch.‘
Imperialismus ist für Lenin das Geschäft der Monopole. Finanz -kapitalisten haben alles unter Kontrolle, im Innern der Nation -‚Deutschland wird von 300 Kapitalmagnaten regiert‘ - ebenso wie auswärts, wo sie sich allerdings begegnen und einen ‚imperialistischen Kampf zwischen den größten Monopolen um die Teilung der Welt‘ (S. 82$) veranstalten. Also gilt der Lehrsatz, daß jedes Phänomen internationalen Handels, jeder Vertrag zwischen Staaten, jeder Krieg nur ein Beispiel für die Machenschaften der Monopole, nur ein ‚Kettenglied‘ der ‚Operationen des Weltfinanzkapitals‘ ist. Nachdem Lenin die Subjekte des Imperialismus gefunden hat, gibt er sich betont sachlich und nennt Zwecke und Mittel ihrer Taten:
Die Kapitalisten teilen die Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit unter sich auf, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profite zu erzielen; dabei wird die Teilung >nach dem Kapitals mach der Macht< vorgenommen- eine andere Methode der Teilung kann es im System der Warenproduktion und des Kapitalismus nicht geben. (S. 827)
Auf dieses Weise stellt der Imperialismus-Theoretiker klar, da er zwar ständig mit ökonomischen und politischen Prozeduren eigner Art zu tun hat - ‚Kapital‘ und ‚Macht‘ -, jedoch die Klärung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik angesichts'! der für ihn offenkundigen Sachlage für pure Haarspalterei erachtet:
Die Macht aber wechselt mit der ökonomischen und politischen Entwicklung [eine feine Entdeckung!]; um zu begreifen, was vor sich geht, muß ', man wissen, welche Fragen durch Machtverschiebungen entschieden werden; ob diese Verschiebungen nun ‚rein‘ ökonomischer Natur oder außerökonomischer (z. B. militärischer) Art sind, ist eine nebensächliche Frage, die an den grundlegenden Anschauungen über die jüngste Epoche des Kapitalismus nichts zu ändern vermag. Die Frage nach dem Inhalt des Kampfes und der Vereinbarungen zwischen den Kapitalistenverbänden durch die Frage nach der Form des Kampfes und der Vereinbarungen [heute friedlich, morgen nicht friedlich, übermorgen wieder nicht friedlich] ersetzen, heißt zum Sophisten herabsinken. (S. 827)
Zwar verhalten sich Geschäft, Ausbeutung und Krieg keineswegs zueinander wie Inhalt und Form, zwar sind beim Profitmachen und Kriegführen ganz andere Subjekte am Werk - doch was interessiert das schon! Dabei taugen noch nicht einmal die kolonialistischen Belege für die Gleichung Politik = Geschäft der Monopole; wenn sich Frankreich und England um die Besetzung der südlichen Sahara streiten und Deutschland die namibische Wüste als Deutsch-Südwest ergattert, wenn der englische Staat mit dem portugiesischen gute Beziehungen hat, wenn England mit Argentinien oder Ägypten Handelsbeziehungen unterhält, wenn Frankreich an Serbien Kriegsmaterial liefert - ‚letztlich‘ ist alles ein und dasselbe. Lenin läßt die Monopole nach außen ihre Geschäfte noch mitten im Krieg machen, ganz als ob ein Finanzkapital eine Eroberung ‚eventuell noch zu erschließender Rohstoffquellen‘ als Investitionsgelegenheit betrachtet und nicht der Staat die Mobilmachung verordnet! Weshalb aufrechten Verfechtern Lenins immer dann, wenn die Gleichung Krieg = Profit angegriffen wird, auch immer die Spekulation auf die fiktive Akkumulation einfällt, die ein auf Waffengänge bedachter Staat ins Werk setzt - wenn nicht gleich die Rüstungsindustrie.
Was zeigt also ‚die Epoche des jüngsten Kapitalismus‘ einem, der das Finanzkapital am Werke weiß und die politischen Führer als Sekundanten entlarvt hat? Eben dies,
daß sich unter den Kapitalistenverbänden bestimmte Beziehungen herausbilden [das ist sehr bestimmt!] auf dem Boden der ökonomischen Aufteilung der Welt, daß sich aber [!] daneben [!!] und im Zusammenhang [welchem denn?] damit zwischen den politischen Verbänden, den Staaten, bestimmte Beziehungen [schon wieder!] herausbilden auf dem Boden der territorialen Aufteilung der Welt, des Kampfes um Kolonien, des Kampfes um das Wirtschaftsgebiet. (S. 827)
Wer so viel Bestimmtheit als Witz des Imperialismus akzeptiert und sich die Aufteilung der Welt gleich zweimal und im Zusammenhang vorstellen kann, dem leuchten auch die historischen Vergleiche ein, die Lenin für sein Stadium anstellt:
Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus [. . .] der Export von Kapital [. . .](S. 845)
An dieser gewichtigen historischen Entwicklung interessiert der Export, also die Tatsache, daß Waren und Kapital die Grenzen überschreiten zwischen Staaten, die sich um das Geschäft kümmern, es durch ihre Gewalt eröffnen, fördern oder behindern, am allerwenigsten. Die englische Kolonialgeschichte, die nun wirklich kein Tausch von Fertigfabrikaten gegen Rohstoffe war (wer hat mit welchen Mitteln diese Rohstoffe ab- und anbauen lassen; wie hießen denn die indischen Investoren, womit wurde bezahlt!), passiert da lässig als Handel, und für die Herrschaft der Monopole erfindet Lenin Anlagekriterien, die aus ‚rückständigen Ländern‘ kapitalistische Märkte mit niedrigen Preisen werden lassen:
In diesen rückständigen Ländern ist der Profit gewöhnlich hoch, denn es gibt dort wenig Kapital, die Bodenpreise sind verhältnismäßig nicht hoch, die Löhne niedrig und die Rohstoffe billig. (S. 816)
Unerfindlich bei dieser Ökonomie auf dem Weltmarkt, wieso es zu sogenannten ‚unterentwickelten Ländern‘ gekommen ist, warum Kapitalisten ihre Mutterländer mit Industrie vollstellen und die billigen Arbeitskräfte Afrikas, die für 20 Pfennig pro Woche zu haben sind, noch heute nicht benützen wollen und lieber verrecken lassen! Daß die erwähnten Länder es wegen der politischen und ökonomischen Benützung durch kapitalistische Nationen gar nicht zu einem ‚Markt‘ bringen, daß mit der Zerstörung der überkommenen Produktionsweise aus einem südamerikanischen oder asiatischen Volk noch lange keine Ansammlung brauchbarer Arbeitskräfte wird!, daß der Export von Kapital auch nicht ‚bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung in den exportierenden [!] Ländern zu hemmen geeignet ist‘ (S. 818) - das alles hätte Lenin auch merken können, ohne zu erleben, wie die Konkurrenz der Monopole um die herrlichen Anlageplätze um die Konkurrenz von -zig Nationen ergänzt wird, die um Kapital- und Entwicklungshilfe nachsuchen.
Nur hätte die simple Analyse der Gepflogenheiten, die den Weltmarkt, auf dem die Nationen für die Konkurrenz des Kapitals Sorge tragen, auszeichnen, die Perspektive ziemlich vermasselt. Lenins Einfall, die auswärtigen Geschäfte des Kapitals erstens für dasselbe wie Anlagen daheim vorstellig zu machen, und zweitens für besonders günstig in der Kalkulation auszugeben, ist ja nur die Fortsetzung seiner Lieblingsidee, daß der Monopolkapitalismus längst in Widerspruch zu seinen eigenen Prinzipien geraten ist. Einige seiner Grundeigenschaften schlagen längst in ihr Gegenteil um, so daß man nur noch von einem ‚parasitären‘, ‚faulenden und sterbenden‘ Kapitalismus reden kann usw. - in jedem Kapitel bemüht sich Lenin, die Verkommenheit und Überfälligkeit des Imperialismus glaubhaft zu machen. Hier, beim Kapitalexport, schafft er es, die Freiheit der imperialistischen Nationen, aufgrund der gelungenen Akkumulation von Reichtum - die auch den Staat mit den nötigen Mitteln ausstattet! - die ganze Welt auf ihre ökonomische, politische und militärische Benützbarkeit hin abzuklopfen, in pure Not zu verwandeln:
Die Notwendigkeit der Kapitalausfuhr wird dadurch geschaffen, daß in einigen Ländern der Kapitalismus >iiberreif< geworden ist und dem Kapital (unter der Voraussetzung der Unterentwickeltheit der Landwirtschaft und der Armut der Massen) ein Spielraum für >rentable< Betätigung fehlt. (S. 816)
Ausgerechnet die Phase des Kolonialismus, die Lenin erlebte, soll auf die Hilflosigkeit, auf einen Engpaß in der Akkumulation verweisen. Der ‚Drang nach Gewalt und Reaktion‘, der definitionsgemäß dem Finanzkapital eigen ist, soll Zeichen des Niedergangs sein - und jede Eroberung ein neuer Ausdruck der Widersprüche, die sich verschärfen und verstärken. Wie alt doch die Theorie vom Papiertiger schon ist! In der Streitfrage der Arbeiterbewegung, in der Sache >Krieg & Frieden< wird Lenin auch nicht wegen seiner ‚tiefen‘ Einsichten in die politische Ökonomie des Imperialismus zum Gegner des Reformismus und der bürgerlichen Friedensillusionen. Im Gegenteil: Seine Überzeugung, daß Finanz- und Monopolkapital einerseits den Niedergang des Kapitalismus repräsentieren, andererseits deshalb aggressiv, eroberungssüchtig und weltherrschaftlich auftreten, um sich alles unter den Nagel zu reißen, bringt ihn auf seine Theorie von der Notwendigkeit des Krieges. Seine Fehler in der Erklärung des Weltmarkts machen für die - ziemlich blöde - Frage: ‚Ist Frieden möglich?‘ sogar jede Kenntnis der Gründe für Kriege, der Verlaufsformen des internationalen Geschäfts mit seinem spezifischen Dienst der Staaten fürs Kapital überflüssig. Krieg und Frieden gelten ihm beide als Mittel für dieselbe Strategie der Eroberung, der Gier nach Beute; ja er geht sogar soweit, dabei den Frieden für den uneigentlichen Modus der Konkurrenz zu halten und die Konkurrenz der Waffen als den der monopolistischen Profitmacherei angemessenen Weg zu bestimmen, zu dessen Charakterisierung er nicht einmal das Verhältnis von Staat und Kapital bemüht. Auch die Besetzung irgendwelcher Wüsteneien rangiert unter der Rubrik des Extraprofits, im Zweifelsfall eines ‚möglichen‘ - und diese Irrtümer sind keineswegs mit den Fakten der kolonialen Eroberung zu entschuldigen. Der i. Weltkrieg jedenfalls drehte sich nicht um die Eroberung neuer Ländereien ...
Daß ein moderner Krieg zwischen imperialistischen Staaten - und die bestreiten sich gegenseitig zunächst die Mittel ihrer Souveränität und dann, in der Konkurrenz der Waffen, wo nur noch militärisch ‚kalkuliert‘ wird und nicht kaufmännisch, die Souveränität selbst - materiellen Zugewinn bringen oder wenigstens verheißen müsse, ist die revisionistische Manier, den ökonomischen Grund der staatlichen Gewalttätigkeit zu behaupten. Daß ein Klassenstaat bei seinen Diensten fürs Kapital, bei denen das Militär auch in Friedenszeiten eine gewichtige Waffe der Konkurrenz darstellt, auf die Schranke eines anderen Souveräns trifft, der sich eine wechselseitige >Abhängigkeit< und >Benützung< nicht mehr leisten kann und will - diese schlichte Wahrheit, die den Frieden bisweilen so aufrüstungsträchtig macht, wollen Anhänger der Leninschen Imperialismustheorie auch heute noch nicht wahrhaben. In genauer Umkehrung des Dogmas, ausgerechnet der Krieg müsse die Konten von Geschäftsleuten bereinigen, vermißt ein solchermaßen aufgeklärter Mensch mit seinem Dogma gleich jeden Nutzen des Kriegs, leugnet den Materialismus des Staates und weist den ‚Wahnsinn‘ des Waffenganges bereits an den Kosten der Rüstung nach - freilich nicht ohne Hinweis auf die Einnahmen der Rüstungsmonopole.
Die Rede vom Un- und Wahnsinn des Krieges, seine Stilisierung als grund- und zwecklose Sache, von der niemand, am allerwenigsten die ‚Menschheit‘, etwas hat, mißt den Völkermord an demselben Maßstab der ökonomischen Einträglichkeit, der ‚den Frieden‘ bestimmt und der laut revisionistischer Lehre selbst im Kriege noch gilt. Insofern handelt es sich bei den Epigonen Lenins, die ein Jahrzehnt seine Imperialismusschrift in Schulungen gelernt haben und nun einer Friedensinitiative angehören, durchaus um konsequente Bürger, jedoch um bekehrte Revisionisten. Denn bürgerlich ist eine Ideologie allemal, die den staatlichen Kriegszweck. ausgerechnet mit der Überlegung konfrontiert, was denn dabei herausspringe und für wen...
Ein Dokument der revisionistischen Weltanschauung und damit auch ein Schatzkästlein des ‚bürgerlichen Moralismus‘, welcher der Welt von Kapital und Staat die gerechtesten und reaktionärsten Vorwürfe entgegenschleudert, ist Lenins Imperialismus-Schrift freilich nicht nur in dieser Hinsicht. Und ihr Erfolg in Jahrzehnten staatstreuer Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt beruht einzig auf der Methode dieser Weltanschauung, die kein objektives Urteil zuläßt: So haben die Epigonen auch nach der faschistischen Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital nicht davon abgelassen, die von Lenin erfundenen Finanzmonopolisten für ganz verwerflich zu halten, und ihnen zur Last gelegt, daß sie als unnütze Couponschneider die braven Industriellen einseifen und die ganze Gesellschaft schröpfen.
Noch weniger ist den Nachbetern der Leninschen Theorie eingefallen, die Berufung auf die >Fäulnis<, den parasitären Charakter des Monopolkapitalismus einzustellen. Sie haben also ausgerechnet als Oppositionelle ihren politischen Willen, ihre Kritik am bürgerlichen Arbeiten, Kaufen, Sparen und Soldat Spielen, mit der Übereinstimmung legitimiert, in der sie sich - von Lenin unterrichtet - mit der Tendenz der Weltenläufte befinden. Der überfällige Kapitalismus rechtfertigt die antimonopolistische Demokratie, den echten Volksstaat; Haupttendenz = Revolution... (Kein Wunder, daß die schleppende Gangart der Tendenz solche Leute grün und Schlimmeres werden läßt!)
Genauso beliebt blieb die Verheißung, daß schlechte Erfahrungen, auf die man nur noch deuten muß, wenn sie die ‚friedliebenden‘ Menschen schon gemacht haben, Wunder wirken:
Dutzende Millionen von Leichen und Krüppeln, die der Krieg hinterließ [. . .] und dann diese beiden >Friedensverträge< öffnen mit einer bisher ungeahnten Schnelligkeit Millionen und aber Millionen durch die Bourgeoisie eingeschüchterter, niedergehaltener, betrogener und betörter Menschen die Augen. (S. 771)
Als ob ein Klassenstaat solchen Friedensfreunden durch die friedenspolitische Vorbereitung und Führung von Kriegen nicht beweist, wie weit er es in der Zurichtung seiner Opfer für die gelungene Fortsetzung seiner Herrschaft bringt! Als ob eine Schrift über den Charakter des Imperialismus und Anti-Kriegsagitation überhaupt notwendig wären, wenn Leichen und Kriegsfilme so augenöffnend wirken würden!
Und die reaktionäre Wendung Lenins bei der Erklärung der Erfahrung, daß sich ‚ausgerechnet‘ die Arbeiterklasse für den Dienst in monopolkapitalistischen Fabriken und Kasernen und Feldzügen hergibt, erfreut sich in den Resten der linken Bewegung auch heute noch größter Beliebtheit in der Leninschen Fassung des Volksspruches ‚Den Leuten geht's zu gut!‘, der Bestechungsthese:
Dadurch, daß die Kapitalisten eines Industriezweiges... hohe Monopolprofite herausschlagen, bekommen sie ökonomisch die Möglichkeit, einzelne Schichten der Arbeiter, vorübergehend sogar eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter zu bestechen...
Tatsächlich geschieht die Vorbereitung eines imperialistischen Krieges nicht in Form von Lohnerhöhungen, um das Proletariat mindestens ‚teilweise‘ auf die Seite der Bundesregierung zu ziehen, sondern mit Lohnsenkungen und der Ideologie, die da heißt:
‚Uns geht's verhältnismäßig gut!‘ oder aus dem Munde Helmut Schmidts: ‚Das deutsche Volk ist verwöhnt!‘
2. Der Frieden einer Weltwirtschaftsordnung
2.1 Der ‚freie Westen‘
Der ‚freie Westen‘ ist alles andere als eine Fiktion. Wie offenkundig ideologisch auch immer der in dieser Bezeichnung behauptete Idealismus einer ganzen Hemisphäre verwendet wird und wie ehrenrührig so manches Zerwürfnis zwischen ihren maßgeblichen Führern ausgetragen werden mag: was da als kollektives Subjekt der Freiheit in der Staatenwelt verstanden sein will, ist ein Staatenbündnis von bemerkenswerter Wucht und Stabilität.
1. Bekanntlich handelt es sich dabei auf der einen Seite um ein Kriegsbündnis, das seine Anstrengungen, weltweit jeden erdenklichen Waffengang siegreich bestehen zu können, auf die Annahme einer permanenten Angriffsdrohung der Sowjetunion und ihrer Verbündeten gegen alle anderen wichtigen Staaten, insbesondere eben die des ‚freien Westens‘, gründet. Laut NATO-Vertrag, dem wichtigsten Gründungsdokument des ‚freien Westens‘, relativiert sich der eigens betonte ‚Wunsch‘ der beteiligten Staaten, ‚mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben‘, an ihrer >Entschlossenheit<, ‚die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten‘; in deren Namen sagen sie sich wechselseitig nicht bloß Unterstützung im Ernstfall, sondern auch gemeinschaftliche Vorbereitung des Ernstfalls zu. Es ist also erklärtermaßen eine ‚Systemfrage‘, politische Herrschaft nämlich gemäß den rechtlichen Formen und den Prinzipien der Demokratie, um derentwillen die Bündnisstaaten sich verpflichten, gemeinschaftlich Krieg zu führen. Klargestellt ist damit quasi nebenher, daß es sich bei den ominösen demokratischen Prinzipien westlicher Zivilisation und der hier gemeinten ‚Freiheit der Person‘ um staatliche Anliegen von solchem Rang handelt, daß dafür durchaus das Leben der Bürger ins Kalkül zu ziehen und in die Pflicht zu nehmen ist - also nur sehr bedingt um freudenerregende Begleitumstände des Erdendaseins. Bemerkenswerter ist hier allerdings der Umstand, daß der Vertrag nicht die nationale Souveränität der Partnerstaaten als solche zu dem höchsten Zweck erklärt, zu dessen Verteidigung die Bündnispartner einander beistehen wollen -wie in ‚normalen‘, ‚klassischen‘ Defensivallianzen, die daher auch im Unterschied zur NATO den Streit um die Definition des Bündnisfalls sowie um Garantien für die Hilfe der Partner immerzu zum Inhalt haben. Als der Kriegsgrund schlechthin und damit als höchster und letzter nationaler Zweck der Partner gelten vielmehr Abstraktionen, die scheinbar bloß die Form und die inneren Ideale einer nationalen Staatsgewalt betreffen - dem Anschein nach ein offener Widerspruch zu der allgemein bekannten, in Notstandsgesetzen jedenfalls bekanntgemachten und kodifizierten Selbstverständlichkeit, mit der eine nationale Staatsgewalt spätestens im Ernstfall die Prinzipien von Recht, Demokratie und ‚Freiheit der Person‘ ihrer Selbstbehauptung und -durchsetzung unterordnet. (Von den für die Zwecke der NATO brauchbaren und ihr befreundeten Diktaturen soll hier bewußt nicht die Rede sein!) Bei allem offensichtlichen Idealismus der diplomatischen Redeweise stellt der Bündnisvertrag damit doch eines klar: die Verpflichtung der Kriegspartner auf einen Supranationalismus, der sich keineswegs erst nach Eintritt des Ernstfalls, bedingt also, geltend machen soll, sondern schon vorher den beteiligten Souveränen als Richtschnur ihrer äußeren wie sogar ihrer inneren Politik gelten will. In diesem Sinne nimmt der Artikel 2 ausdrücklich von den nationalen Sonderinteressen und der fortdauernden Konkurrenz der Partnerstaaten Notiz, um deren Belanglosigkeit zu dekretieren: ‚Sie [sc. die Vertragspartner] werden bestrebt sein, Gegensätze in ihrer nationalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen einzelnen oder allen Vertragspartnern zu fördern.‘ In Artikel 3 räumen die Beteiligten einander explizit die Freiheit ein, sich im Interesse des Bündniszwecks in die inneren Angelegenheiten der anderen einzumischen:
Um die Ziele dieses Vertrages besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.
Und Artikel 8 erklärt das NATO-Bündnis zum verpflichtenden Kriterium für alle anderweitigen außenpolitischen Aktivitäten der Partner: ‚Jeder vertragschließende Staat erklärt, daß keine der internationalen Verpflichtungen, die gegenwärtig zwischen ihm und einem anderen Vertragsstaat oder einem dritten Staat bestehen, den Bestimmungen dieses Vertrags widersprechen, und verpflichtet sich, keine diesem Vertrag widersprechende internationale Verpflichtungen einzugehen.‘
Mit der wechselseitigen Zusage, im Ernstfall gemeinsam gegen die Sowjetunion anzutreten, erlegen die Staaten des ‚freien Westens‘ sich in diesem Vertrag also wechselseitig die Pflicht auf, schon vorweg und überhaupt, nicht bloß militärisch, sondern auch wirtschaftspolitisch zu kooperieren und den Gebrauch ihrer nationalen Souveränität einem supranationalen Kriterium unterzuordnen: dem weltweiten Erfolg der westlichen Demokratie.
2. Welcher nationale Materialismus sich mit diesem militanten Supranationalismus im Namen der Freiheit verbindet, darauf gibt schon der zitierte Artikel 2 des NATO-Vertrags einen Hinweis -und erst recht das rege ‚politische Leben‘, mit dem der ‚freie Westen‘ dessen Intentionen erfüllt hat. Die westliche Staatengemeinde stellt sich nämlich — zweitens - dar als eine internationale Wirtschaftsgemeinschaft. Die Staats- bzw. Regierungschefs der sechs wichtigsten NATO-Partner sowie des fernöstlichen Vorpostens des ‚freien Westens‘, der Ministerpräsident von Japan, haben jedenfalls ihre periodischen Zusammenkünfte unter dem Titel ‚Weltwirtschaftsgipfel‘ institutionalisiert und über die Aufgabe, deren Bewältigung sie sich dort widmen, nach ihrem Treffen vom Juli 1981 in Ottawa folgende grundsätzliche Auskunft gegeben:
1. Wir sind in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und großer Herausforderungen für den wirtschaftlichen Fortschritt und den Frieden in der Welt zusammengetroffen ... Wir wissen, daß Wirtschaftsfragen die politischen Zielsetzungen, die wir teilen, sowohl widerspiegeln als auch beeinflussen. In einer Welt gegenseitiger Abhängigkeit bekräftigen wir erneut unsere gemeinsamen Ziele und die Anerkennung der Notwendigkeit, dabei die Auswirkungen der von uns verfolgten Politik auf andere zu berücksichtigen. Wir vertrauen in unsere gemeinsame Entschlossenheit und Fähigkeit, unsere Probleme im Geiste gemeinsamer Verantwortung sowohl zwischen uns als auch mit unseren Partnern in aller Welt in Angriff zu nehmen. 2. Die Hauptaufgabe, der wir uns auf diesem Treffen zuwandten, war die Notwendigkeit, die Volkswirtschaften der Demokratien unter den Industrieländern wieder zu beleben, um die Bedürfnisse unserer eigenen Völker zu befriedigen und den Wohlstand in der Welt zu festigen.
Was immer man sich sonst noch als außenpolitischen Zweck eines Staates denken mag: sei es ‚Völkerfreundschaft‘ oder ‚Macht‘, z. B. über einen Nachbarn, sei es die Sicherung spezieller Handelsprivilegien oder die Vergrößerung des nationalen Territoriums, sei es schließlich sogar die Ölversorgung oder ‚die Weltrevolution‘ - das alles sieht ziemlich provinziell oder reichlich idealistisch aus neben dem Materialismus jener weltweiten ‚Verantwortung‘, zu der die Teilnehmer des ‚Gipfels von Ottawa‘ sich da bekennen. ‚Die Weltwirtschaft‘ ist tatsächlich eine Frage ihrer Entscheidungen, und sie setzen die maßgeblichen Bedingungen für den ‚Wohlstand in der Welt‘; die wirtschaftspolitischen Maßnahmen eines jeden der versammelten Souveräne betreffen die Volkswirtschaften der anderen wie überhaupt die ‚Partner in aller Welt‘ wesentlich, weil von den Erfolgen ihrer nationalen Ökonomien ‚die Weltwirtschaft‘ ihrerseits abhängt; füreinander wie für den Rest der Welt haben ihre Beschlüsse folglich die Wucht und Unwidersprechlichkeit ökonomischer ‚Sachzwänge‘: das sind die Tatbestände, um deren Durchsetzung die politischen Führer der sieben wichtigsten ‚Demokratien unter den Industrieländern‘ sich nicht etwa erst kümmern müßten, von denen sie vielmehr als völlig selbstverständlichen Gegebenheiten ausgehen.
Daß sie dabei immerzu weltwirtschaftlichen Behinderungen oder gar Gefährdungen ihrer nationalen Ökonomien entgegenzutreten hätten, wie es insbesondere von deutscher Seite für den demokratischen Hausgebrauch dargestellt zu werden pflegt, kann nicht die Wahrheit über die weitreichende ‚Verantwortung‘ der Gipfelteilnehmer sein. Denn schließlich setzt die Behinderung oder Gefährdung einer nationalen Ökonomie durch die Wirtschaft anderer Länder ja allemal Aktivisten dieses Verhältnisses voraus, die ein reges positives Interesse an den Produkten und Produktionsprozessen auswärtiger Volkswirtschaften haben und auf deren Benutzung abonniert sind. Und darüber, daß dieser weltweit ausgreifende ‚Unternehmungsgeist‘ in ihren Ländern zu Hause ist, lassen die Führungsfiguren der ‚freien Welt‘ keinen Zweifel. Über deren heimische Ökonomien ist damit auch schon klargestellt, daß sie als Basis ihres weltweiten Engagements auch die Mittel für eine schrankenlose Benutzung der ökonomischen Potenzen anderer Staaten und Ökonomien hervorbringen und reproduzieren. Um mit dem eigenen Interesse an ihr der ganzen Welt ihre ökonomischen Bedingungen zu setzen, um sie nicht bloß ideell, sondern praktisch in die ‚Welt gegenseitiger Abhängigkeit‘ einzubeziehen, bedarf es eines nicht bloß zeitweilig überschüssigen Reichtums, eines dauerhaften Erfolgs bei der zunehmenden Ansammlung von nationaler ‚Wirtschaftskraft‘. Es können also auch nicht — wie ausgerechnet linke Imperialismustheorien gern vermuten -Schwierigkeiten, gar zunehmende, mit dem einheimischen Wirtschaftskreislauf der großen, maßgeblichen Demokratien oder sogar dessen Krisen sein, durch die ein nationales Unternehmertum auf die Benutzung der Ökonomien fremder Staaten verwiesen würde. Wenn es denn schon ein ‚Problem‘ sein soll, aus dem das praktizierte Interesse an allem erwächst, was sich ökonomisch auf dem Globus tut, so handelt es sich um das süße Problem einer fortdauernden Akkumulation wachsenden produktiven Reichtums, dem die Schranken der eigenen Nation zu eng werden und der die Freiheit des Vergleichs eröffnet - und damit, wenn man so will, erzwingt -, ob seine Verwendung im Verkehr mit einem Ausland nicht viel mehr lohnen könnte als daheim. Die Sorge um das lohnende Wachstum des produktiv verwendbaren Reichtums ihrer Volkswirtschaften ist der materielle Inhalt jener weltweiten ökonomischen ‚Verantwortung‘, aus der die Führungsmächte der ‚freien Welt‘ ihre selbstverständliche politische Zuständigkeit für die Geschicke der gesamten Staatenwelt ableiten.
3. Die Freiheit der politischen Souveräne hinsichtlich der materiellen Grundlage und Zwecksetzung ihrer Weltpolitik ist also nicht zu übersehen. Schließlich sind Regierungschefs oder Staatspräsidenten keine Geschäftsleute; auf ihren Weltwirtschaftsgipfeln wird weder Handel getrieben noch über Produktion und Verteilung nützlicher Güter befunden, geschweige denn der materielle ‚Wohlstand der Welt‘ in die Wege geleitet. Sie kehren nicht mit einem weltumfassenden Produktionsplan heim, sondern mit Absprachen über die Beeinflussung von Zinssätzen und Inflation, über die ‚Erholung des Arbeitsmarkts‘ und die Perspektiven des Wirtschaftswachstums, über die staatlichen Haushaltsdefizite und das internationale Bankensystem; Absprachen, die durchaus auch geschäftsschädigende Elemente enthalten. Nicht als einfache Geschäftsleute, sondern als Repräsentanten jener höchsten Gewalt, mit der sie wirtschattspolitische Bedingungen setzen, treten sie gegeneinander an und verhandeln um die Freiheiten, die sie dem Unternehmungsgeist ihrer einschlägig interessierten und engagierten Bürger verschaffen wollen bzw. dem der auswärtigen Geschäftsleute einräumen sollen, sowie um die vor- und nachteiligen Konsequenzen, die sich daraus für die nationalen wie internationalen Aktivitäten ihrer Geschäftsleute ergeben. Gerade wo sie ganz souverän über die Bedingungen allen Wirtschaftens in der Welt befinden, beziehen die Chefs der westlichen Demokratien sich auf die Interessen und Forderungen des nationalen Wirtschaftslebens und, seiner Macher wie auf ein Ensemble von Aufträgen und Sachgesetzen, an denen sie sich orientieren müssen; und umgekehrt: gerade wo sie als bloße Exekutoren gewisser ökonomischer Erfordernisse auftreten, wahren und praktizieren sie die souveräne Freiheit der höchsten politischen Gewalt, die der heimischen und auswärtigen Geschäftswelt ihre ‚Orientierungsdaten‘ setzt.
Mit diesem Begriff eines freien Materialismus der demokratischen Staatsgewalt, auch in ihrem weltpolitischen Agieren, löst sich auf der einen Seite in einer ersten Hinsicht die in Punkt 1 angemerkte Paradoxie auf, daß diese Staaten in den Gründungsurkunden ihrer Bündnisse die Prinzipien ihres Regierungssystems zum obersten Zweck ihrer Weltpolitik deklarieren. Mit ‚Recht‘, ‚Freiheit der Person‘ usw. ist eben insoweit kein bloßer diplomatischer Idealismus ausgedrückt, sondern die Eigenart des souveränen Materialismus dieser Staatsgewalten angedeutet, wie diese Abstraktionen die tatsächliche Anerkennung der volkswirtschaftlich maßgeblichen Interessen einer nationalen Gesellschaft durch ihre politischen Gewalthaber oder umgekehrt: den Status der staatlichen Herrschaft apolitischer Sachwalter und damit als ideelles Subjekt der Summe der ökonomischen Unternehmungen ihrer Bürger meinen und darin ihren materiellen Inhalt haben. Indem sie sich selbst voreinander und sich wechselseitig auf die ‚Prinzipien der Demokratie‘ verpflichten, bekennen die Souveräne der westlichen Welt sich zu einem Staatsmaterialismus, der seine Grundlage im weltweiten Erfolg derjenigen unter ihren Bürgern hat, von denen ihre Volkswirtschaft unmittelbar praktisch abhängt; und zwar auch in ihren Beziehungen untereinander und zum Rest der Staatenwelt. Eben damit ist auf der anderen Seite klargestellt, daß der Standpunkt der staatlichen Souveränität mit dem jener Geschäfte, auf die ihr Materialismus sich gründet, nicht zusammenfällt. Wenn es ihr um die Grundlagen auswärtiger Geschäftemacherei geht, dann muß sie sich eben nicht um die praktische Benutzung der fremden Volkswirtschaft kümmern, sondern um die Zustimmung der auswärtigen souveränen Gewalt dazu; ihr ‚Geschäft‘ ist die Sicherstellung der ‚Kooperationswilligkeit‘ fremder Souveräne, die prinzipielle Garantie der Benutzbarkeit ihrer hoheitlichen Gewalt im eigenen Interesse. Und dieser Zweck, die Willensbildung einer fremden Staatsgewalt entscheidend ‚beeinflussen‘ zu können, macht den praktischen Idealismus demokratischer Außenpolitik und Diplomatie aus, einen Idealismus, der eine sehr materielle Rücksichtslosigkeit gegen den ökonomischen Inhalt und Zweck des so hergestellten Weltzusammenhangs einschließt. Vom Standpunkt des staatlichen Souveräns aus geht die demokratische ‚Dienstbarkeit‘ der politischen Gewalt für ihre ökonomische Basis einher mit ihrer selbstverständlichen Freiheit, die hergestellten ökonomischen Beziehungen in dieser ‚Welt gegenseitiger Abhängigkeit‘ für die Gewinnung und diplomatische Erpressung auswärtiger Souveräne zu benutzen, auch wenn das auf Kosten der hergestellten Geschäftsbeziehungen geht.
4. In hier noch sehr allgemeiner Form zeigt sich damit die weltpolitische Logik, kraft derer die beiden Aktionsbereiche des ‚freien Westens‘, die Regelung der militärischen und der ökonomischen Beziehungen der beteiligten Staaten untereinander und zum Rest der Welt, zusammengehören. Es erscheint paradox, daß die Bündnispartner dieser Hemisphäre ihre Sorgen um die ‚Freiheit der Person‘ etc. offiziell und verbindlich zum gemeinsamen Kriegsgrund erklären; und zwar nicht bloß vom Standpunkt der Illusion, diese Freiheit als Beitrag zum wirklichen individuellen Wohlergehen aufzufassen - so betrachtet wäre diesbezügliche Kriegsbereitschaft ein Paradox! -, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des dazugehörigen Materialismus des weltweiten Geschäfts. Dessen Unterordnung unter die gewaltsame Gewährleistung seiner Freiheit ist aber erstens eine Notwendigkeit des ökonomischen Internationalismus: Wo fremde Gewalt die Schrankenlosigkeit nationaler Reichtumsvermehrung beschränkt, muß die politische Gewalt die Freiheit besitzen, die eigene Gesellschaft und deren Reichtum für ihre Durchsetzung gegen die fremde Gewalt zu benutzen. Und wo der Nutzen einer erfolgreichen Volkswirtschaft somit immer auch eine Gewaltfrage ist, da ist die Freiheit der Staatsgewalt nicht bloß ein notwendiges Erfordernis, sondern - zweitens - die Wahrheit des weltweit ausgreifenden Geschäftsgangs : Eben weil die souveräne Gewalt die Stärkung ihrer materiellen Basis durch den nützlichen Zugriff der eigenen Volkswirtschaft auf alle auswärtigen Ökonomien als ihren bestimmenden Zweck verfolgt, deswegen hat das nationale Wirtschaftswachstum sein maßgebliches letztes Kriterium in der weltweiten Durchschlagskraft der politischen Herrschaft, die darauf beruht. Es ist also kein Zufall, daß der Verein von Staaten, der mit seinen Entscheidungen die Weltwirtschaft regelt, sich auf der Grundlage eines Weltkrieges mit eindeutigem Ausgang als ein von der Hauptsiegermacht gegründetes Kriegsbündnis konstituiert hat, das bereits in Friedenszeiten intern immerzu den Bündnisfall praktiziert: Weltwirtschaft in einer Welt von Staaten ist ohne eindeutige Antworten auf die täglich fälligen Gewalt‚fragen‘ nun einmal nicht zu haben. Sozialdemokratische Idylliker des friedlichen und harmlosen Handels und Wandels liegen da ebenso schief wie alle Hoffnungen auf die Unmöglichkeit bedeutender Kriege wegen deren unverantwortbarer Kosten: wofür hätten die maßgeblichen Souveräne dieser Welt denn ‚Verantwortung‘ zu tragen, worum sich zu sorgen und zu streiten, wenn ihr nationaler Materialismus eine selbstgenügsame Angelegenheit wäre? Ebenso irren sich ‚Stamokap‘- Theoretiker, die den außenpolitisch agierenden Staat als Gefangenen seines nationalen Handels-, Finanz-, Rüstungs- oder sonstigen Kapitals und der einschlägigen Lobbies vorstellen: wie könnte eine demokratische Staatsgewalt ihrer weltweit engagierten Ökonomie den politischen ‚Dienst‘ leisten, mit dem sie ihren Eigennutz befördert, ohne Souveränität, und zwar bis hin zur zeitweiligen Rücksichtslosigkeit auch gegenüber den herrschenden Interessen in ihrer Gesellschaft?
Umgekehrt ist es auch kein Zufall, daß die Demokratien des Westens, die sich zur Verteidigung der ‚Freiheit der Person‘ etc. zu einem schon im Frieden aktiven Kriegsführungs- und -vorbereitungsbündnis zusammengetan haben, die Kontrolle der Weltwirtschaft zum erstklassigen Gegenstand ihrer weltweiten ‚Verantwortung‘, nämlich zu ihrem Hauptziel neben dem Weltfrieden erklärt und gemacht haben: Politische Maßgeblichkeit in der ganzen Welt wäre auch für die kräftigste Militärallianz ein leerer Zweck und daher auch nicht wirklich zu haben, bliebe vielmehr ein bloßer gewalttätiger Idealismus, wenn die maßgeblichen Demokratien nicht ein materielles Interesse an der Benutzung fremder Länder zu vollstrecken hätten und wenn sie nicht auf dieser Grundlage dem ökonomischen Materialismus der restlichen Souveräne seine ‚sachgesetzlichen‘ Bedingungen setzen könnten. Falsch ist daher auch der übliche, in populären Länderkunden wie in politologischen Lageanalysen beliebte ‚Pluralismus‘ in Sachen internationaler Politik, der in der ‚komplexen Vielfalt‘ weltpolitisch relevanter "‚Bedingungs-‘ und ‚Einflußfaktoren‘ sowie des ‚Ringens‘ der Staaten um ‚Macht‘, ‚Einfluß‘ und die große Völkerfamilie den Materialismus demokratischer Außenpolitik nicht mehr will ausmachen können.
2.2 ‚Handel und Wandel‘ weltweit
Die Verfahrensweisen der Benutzung, die die weltwirtschaftlich ‚verantwortlichen‘ Nationen des ‚freien Westens‘ einander und dem Rest der Welt angedeihen lassen, sind weltweit praktizierte ‚freie Marktwirtschaft‘ — und erscheinen nur deswegen manchem Beobachter so ‚komplex‘ bis zur Unverständlichkeit, weil sie besonders wenig Raum lassen für die so beliebten ideologischen Einbildungen über die menschenfreundlichen Zwecke dieser Wirtschaftsweise.
1. ‚Der Mensch‘ ist nämlich überhaupt nicht das zwecksetzende Subjekt einer modernen Volkswirtschaft - und des dazugehörigen Außenhandels schon gar nicht. Zwar ist es ihm durchaus erlaubt, ja es wird ihm sogar täglich durch die demokratische Weltöffentlichkeit angetragen, die ganze Welt in der Kategorie des ‚wir‘ aufzufassen, also von ‚unseren‘ Erdölquellen in Nahost, ‚unseren‘ Handelsbeziehungen mit den USA, ‚unserer‘ Konkurrenz mit den Japanern und ‚unseren‘ Interessen in Ungarn, Madagaskar und Peru zu reden. Und auch praktisch bekommt er mit allen diesen Weltregionen zu tun - bloß eben: wie?
Ein zivilisierter Arbeitnehmer von heute darf sich unbesehen sicher sein, daß seine Firma auch für seinen Arbeitsplatz das Hantieren mit exotischen Rohstoffen, mit Halbfabrikaten aus ‚Billiglohnländern‘, an Maschinen von auswärtigen Anbietern genaue-stens durchkalkuliert hat und ihn so ganz ungefragt nach Bedarf zum praktizierenden Kosmopoliten macht. Mit den Importerfolgen ausländischer Konkurrenz ebenso wie mit den Export-‚Verpflichtungen‘ des eigenen Betriebs wird er sehr wirksam in seiner doppelten Eigenschaft als kaum noch zu verantwortender Kostenfaktor und als viel'zu schonend behandelter Leistungsträger seines Betriebs bekannt gemacht. Seinen Lohn bekommt er nur in inländischen Kreuzern, nie in ausländischen Gulden ausgezahlt; wenn aber der Wechselkurs schwankt, dann ist das für die Firma Anlaß genug, ihm für mehr Leistung weniger Lohn zu zahlen - sei es, weil sie ‚sparen‘ muß, sei es, weil sie sich Rationalisierungen leisten kann. Die Erfolge, zu denen er mit preiswerter Arbeit seinen Arbeitgebern in deren ständigem ‚Existenzkampf‘ um weltweite Einkaufsgelegenheiten und Absatzchancen verhilft, schaffen diesen die Freiheit, seine Ersetzung durch ‚arbeitssparende‘, nämlich lohnkostensenkende Maschinerie oder durch die ebenso lohnko-stensenkende ‚Schaffung von Arbeitsplätzen‘ in südlicheren Regionen ins Kalkül zu ziehen - seine Gewerkschaft beschwert sich dann über ‚die Japaner‘, weil die damit angefangen haben, und über ‚die Taiwanesen‘, weil die es so billig machen.
Immerhin helfen andere Abteilungen der nationalen Außenwirtschaft dem ‚kleinen Mann‘ beimSparen; heutzutage entgeht keine tropische Frucht mehr so leicht ihrer Überprüfung durch einen gewitzten Importeur daraufhin, ob sie nicht als preiswerter Vitaminspender gegen die zunehmend unerschwinglichen Produkte des Obstanbaus in den gemäßigten Zonen eine Marktchance hat. Daß die Veranstalter dieses Geschäftszweiges es allerdings überhaupt nicht auf die Schonung seines Geldbeutels abgesehen haben, macht die Großzügigkeit klar, mit der sie bei ihrer Preisgestaltung die Spanne zwischen dem Gestehungspreis ihres Artikels und dem Marktpreis möglicher Alternativprodukte nutzen - speziell wenn es, wie im Falle des Benzins, solche Alternativen nicht gibt und der Konsum des fraglichen Saftes dank einer zielstrebigen Verkehrspolitik für den sparwilligen Menschen zur ökonomischen Notwendigkeit geworden ist. Unter derartigen - vom Importeurstandpunkt viel zu - selten günstigen Bedingungen wird dann sogar der Fiskus zum Teilhaber am Monopolpreis und trägt so auf seine Weise zu der Klarstellung bei, daß die ‚Kaufkraft‘ des ‚kleinen Mannes‘ nicht dazu da ist, auf Grund von Vorteilen eines weltweiten Einkaufs von Konsumartikeln zu wachsen - solches bleibt der ‚Investitionsbereitschaft‘ derjenigen ‚Wirtschaftssubjekte‘ vorbehalten, deren Erdölverbrauch unter dem Titel ‚Energiekosten unserer Wirtschaft‘ so viel Einfluß auf die Konkurrenzfähigkeit des nationalen Unternehmertums hat! ‚Massenkaufkraft‘ gibt es, damit die maßgeblichen Subjekte der nationalen Ökonomie sie für ihr Geschäft benutzen können. Dasselbe gilt, sobald der massenhafte Verbrauch billigerer ausländischer Radios und Fotoapparate, erst recht von Autos die einschlägigen Heimatindustrien in ihrem Absatz beeinträchtigt: dann soll der Mensch national denken beim Einkaufen; kommt es doch zu einem Defizit in der Handelsbilanz, weil der Preis für die Masse der Konsumenten nun einmal das ausschlaggebende Einkaufsargument ist, dann haben ausgerechnet ‚wir alle‘ ‚über unsere Verhältnisse gelebt‘! Deswegen sollte am besten gleich der Staat durch Zölle, Importkontingente und dergleichen den Menschen Patriotismus lehren - etwas anderes ist es natürlich, wenn ein heimischer Fabrikant Produktionsabteilungen ins rentablere Hinterindien verlagert und der Import eine Art weiträumigen Werksverkehr darstellt. Kurzum: wie überhaupt die gesamte Marktwirtschaft, so dreht sich auch die gesamte Außenwirtschaft einer weltweit aktiven Nation um ‚den Menschen‘: um die lohnende Benutzung seiner Arbeitskraft ebenso wie seiner ‚Kaufkraft‘. Für die Abwicklung dieser Geschäfte braucht er daher auch gar nicht weiter gefragt zu werden. Er steht ja sowieso ‚im Mittelpunkt‘.
2. Vom maßgeblichen Zweck einer kapitalistischen ‚Binnenwirtschaft‘ unterscheidet der ihrer äußeren Abteilung sich also überhaupt nicht - wie auch! Es geht um Geld, genauer: um die Vermehrung des in den außenwirtschaftlichen Operationen eingesetzten Kapitals. Die ideologisch deklarierten ‚eigentlichen‘ Zwecke: ‚Schaffung von Arbeitsplätzen‘ durch Export, ‚Versorgung der Bevölkerung‘ durch Import, blamieren sich an der kleinen Fußnote, der so uninteressanten, banalen und doch völlig unerläßlichen ‚Bedingung‘, daß ein Geschäft dabei natürlich schon herausschauen muß. Die Vorstellung, es wäre der glückliche Kunde, der als versorgter Endverbraucher das Geschäft macht, oder der ‚Arbeitsplatzbesitzer‘, der mit diesem ‚Besitz‘ seinen Geschäftserfolg bewerkstelligte, ist in Import- und Exportangelegenheiten allenfalls noch offenkundiger albern als beim inneren Handel und Wandel. Wie sonst auch sind Nutznießer und Benutzte die beiden verschiedenen Parteien des Geschäfts; und dieses erfüllt sich - eine so offenkundige und doch so gern als allzu ‚vordergründig‘ oder ‚eindimensional‘ geleugnete Trivialität des ökonomischen Alltagslebens im ‚freien Westen‘ - in einer vergrößerten Geldsumme, die Ausgangspunkt für die erneuerte Mehrung des in Geld nicht nur gemessenen, sondern ‚rein‘ vorliegenden Reichtums ist. Zahlung, und zwar in hinreichender Höhe, ist also die erste Bedingung jeglichen Ex- und Imports. Ihr verdankt die Menschheit das zur Gewohnheit gewordene Nebeneinander erlesener Formen der Armut und des Überflusses in Gestalt der ‚Schweine-‘ und ‚Butterberge‘, der ‚Autohalden‘ und ‚überfüllten Farbfernseherlager‘ und der ‚weltweit unausgelasteten‘ Stahlerzeugungs- wie Transport-‚Kapazitäten‘. Man sollte vielleicht einmal die Einsicht nicht für zu banal befinden, daß, seit für Geld alles zu haben ist, alles auch eben nur für Geld zu haben ist. Das gibt über die Emanzipation einer übers Geld abgewickelten Ökonomie von den Schranken, die die Natur einer noch unentwickelten Produktionsweise gesetzt hat, ebenso Auskunft wie über deren gesellschaftlichen Zweck und die durch diesen errichteten gesellschaftlichen Schranken für die Nutznießung der produktionstechnisch bewältigten Natur. Das unmittelbare Kriterium, nach dem das intensiv genutzte Arbeitermaterial nördlicher Zonen mit preiswertem Kraftfutter aus aller Herren Länder ‚versorgt‘ wird, ist dasselbe wie dasjenige, nach dem in einer ‚Welt wechselseitiger Abhängigkeit‘ das Hungern und Verhungern vor sich geht, nämlich das der funktional beschränkten Zahlungsfähigkeit; die funktionale Beschränkung entscheidet sich ihrerseits nach dem Nutzen, den ein weltweit agierendes Kapital aus der Zahlung von Löhnen und Gehältern zieht; und dieser Nutzen realisiert sich weder in vielen nützlichen ‚Versorgungsgütern‘ noch in der Errichtung entsprechender Produktionsstätten, sondern in der Summe Geldes, die darüber entscheidet, ob und inwieweit Produktion und Gebrauchswert sich lohnen - dies ist der entscheidende Zweck.
Eben weil es einer freiheitlichen Nationalökonomie ums Geschäft und folglich um universell verfügbaren Reichtum: um Geld als dessen End- und Ausgangspunkt, geht, findet ihr Außenhandel allerdings eine spezielle Schranke an dem Mittel, das eine moderne freiheitliche Staatsgewalt ihren Bürgern eigens zur möglichst ökonomischen Abwicklung ihres Geschäftslebens zur Verfügung stellt: am staatlichen Kreditgeld. Bekanntlich gehört die Behandlung von Schuldscheinen als Zahlungsmittel zu den notwendigen Gepflogenheiten, das Schuldenmachen zu den unabdingbaren Geschäftsmitteln des freien demokratischen Unternehmergeistes; und ebenso, daß ein verantwortungsbewußter Staat es seinen Geschäftsleuten durch die Ausgabe gesetzlicher Schuldscheine seiner Zentralbank als garantiertes Zahlungsmittel erspart, den allgemeinen, für alles verfügbaren Reichtum, um dessen Wachstum es in allem Geschäftemachen geht, noch neben seinem beständigen Füngieren im Geschäftsleben als realen Goldschatz Gestalt annehmen zu lassen - ein Bankkonto, das auf einen hinreichenden Betrag von Nationalbanknoten lautet, tut da dieselben Dienste. Das Geschäftswesen, dem es um den ‚abstrakten Reichtum‘: den Wen schlechthin und sein Wachstum, geht, emanzipiert sich so einerseits von der vorhandenen Masse eines in Goldschätzen materialisierten ‚abstrakten Reichtums‘, andererseits von der lästigen Form des privaten Handelskredits, der im Falle einer verzögerten Rückzahlung gleich einen anderen Geschäftsmann direkt schädigt und die Fortsetzung seines Geschäfts in Frage stellt, - womit die Mehrung eben dieses Reichtums einen ungeahnten Aufschwung nimmt. Die Förderung des Geschäftslebens, die der Staat mit seinem Kreditwesen zustande bringt, läßt dessen Nutznießer gern und leicht darüber hinwegsehen, daß damit die Staatsgewalt natürlich auch für sich ein Mittel geschaffen hat: durch die Emission von Banknoten zu eigener Verfügung - in normalen Zeiten fein säuberlich geregelt als Geschäftsverkehr zwischen dem Staat als Schuldverschreibungen ausgebendem Finanzminister und dem Staat als diese kaufender Zentralbank - verschafft sie sich ihrerseits ‚Kredit‘, nämlich einen durch bloße Zahlungsversprechen (nicht) ‚gedeckten‘ Zugriff auf die gegenständlichen Reichtümer ihrer Gesellschaft. Die notwendige Konsequenz dieser Funktion des Nationalkredits: die beständige Entwertung der staatlichen Zahlungsversprechen wird zwar als Inflation bedauert, und ihre Abschaffung gehört so fest zum Repertoire wirtschaftspolitischer Versprechungen wie das Sündenbekenntnis zur Beichte; schlagender läßt deren begrenzte Ernsthaftigkeit sich allerdings kaum demonstrieren. Ein aufgeklärter Geschäftsmann hat sich in seinem Kreditgebaren auf die Entwertung des Staatskredits eingerichtet; keine Inflation wäre eine Katastrophe für sämtliche soliden Finanzmärkte. Erst recht fällt natürlich keinem Aktivisten der mit Schulden bewerkstelligten Kapitalakkumulation die Gleichung von Kredit und Gewalt auf, die die politische Obrigkeit praktiziert und auf die er sich verläßt, wenn die staatlichen Zahlungsmittel nicht mehr als einlösbare Anweisung auf die wirkliche Materie des ‚abstrakten Reichtums‘ gelten, sondern selber als die letztinstanz -liche Erfüllung jeden Zahlungsversprechens, also wie wirklicher Wert zu akzeptieren sind. In ihrer Garantie des Nationalkredits führt die Staatsgewalt die ökonomische Kategorie des Werts und deren praktische Existenz im Geld ja tatsächlich ganz praktisch auf ihren nackten Grundbegriff zurück: Eigentum in seiner reinen negativen Bedeutung des durch eine ‚höhere‘ Gewalt bewerkstelligten Ausschlusses aller anderen vom Gebrauch nützlicher Dinge.
Beides: daß allein die politische Gewalt der Nation den nationalen Kreditzetteln zur Gültigkeit verhilft und daß sie mit ihrer Benutzung dieses Kredits den Wen ihrer gesetzlichen Zahlungsmittel flexibel macht, fällt nun allerdings sogleich auf, sobald ausländischer Reichtum, sei es in Form von Ware zu günstigem Preis oder als interessante Zahlungsfähigkeit, ins nationale Geschäftsleben einbezogen werden soll:
- Als Kauf- und 'Zahlungsmittel taugen die staatlichen Zentralbanknoten eben bloß im Zuständigkeitsbereich der Staatsgewalt, die sie zwangsweise gültig macht. Grenzüberschreitender Kauf und Verkauf setzen daher eine wechselseitige Anerkennung der jeweiligen ausländischen Währung, also der Kreditgarantie der einen Staatsgewalt durch die andere voraus: ein notwendiges politisches Begehren, das allerdings nicht für jede Regierung von gleicher Dringlichkeit ist - die Freiheiten wachsen hier mit dem eingesetzten Reichtum! — und deswegen so manchem Staat sein erstes wirtschaftspolitisches Druckmittel gegen seine Nachbarn in die Hand gibt. Diese prinzipielle wechselseitige Anerkennung des ausländischen Nationalkredits vorausgesetzt, ist damit aber noch gar nichts über das quantitative Verhältnis entschieden, in dem die Währungen einander gleichgelten.
- Als Maß der Werte und Maßstab der Preise wird die nationale Währung an den Staatsgrenzen hinfällig. Ein Maßstab ist gefordert, damit die Rentabilität von Einkäufen im wie von Verkäufen ins Ausland sich überhaupt kalkulieren läßt. Nun ist ein solcher Wertmaßstab zwar einerseits von Anfang an darin gegeben, daß jede staatliche Notenbank ihre Ausgabe von Zahlungsmitteln auch auf ihre Bestände an der Materie hin veranstaltet, die für jedes kapitalistische Geschäft, also weltweit den ‚abstrakten Reichtum‘ nicht bloß symbolisieren, sondern Wert in reiner Form - Geldware - ist: noch jedes nationale Kreditgeld behauptet von sich eine bestimmte Parität zu Gold. Nur hat eben immer schon - von den Modifikationen durch den Außenhandel noch ganz abgesehen - die staatliche Benutzung des offiziellen Kreditgeldes dessen Funktion als Wertmaß von seiner ideellen Goldparität ‚emanzipiert‘, den offiziellen ‚Goldpreis‘, zu dem eine Notenbank ihren Goldschatz als Aktivum kalkuliert, zu einer Größe gemacht, die eine besondere Kalkulation erfordert. Dem praktischen Vergleich der Währungen fehlt wegen der per staatlicher Setzung vollzogenen Unabhängigkeit des Zahlungsmittels von der Goldware das notwendige verbindliche allgemeine Maß.
- Damit steht nun aber nichts Geringeres als die Tauglichkeit des ausländischen Reichtums als Mittel der Bereicherung in Frage. Denn wie wohl verwendbar auch immer die fremdländischen Produkte wären: ihre Verwendung soll ja nicht praktisch sein, sondern sich lohnen; und ebenso will der Export ja nicht die Beschäftigten aller Länder mit den Hervorbringungen nationalen Fleißes ‚versorgen‘, sondern die auswärtige Zahlungsfähigkeit als Mittel zurlohnenden ‚Verwandlung‘ produzierter Waren in universell verwendbaren, allgemeinen Reichtum benutzen: ‚realisiert‘ ist der Geschäftserfolg erst in der wirklich gewachsenen Geldsumme.
3. Nun gibt die ‚Blüte‘ des Welthandels die klarste Auskunft darüber, daß die Geschäftswelt mit dieser nationalen Beschränktheit ihres Geschäftsmittels Nr. 1, des nationalen Kreditgeldes, offenbar glänzend fertig wird; und die Devisenbörsen in den Zentren des weltweit agierenden Kapitals sind der praktische Beleg dafür, zu was für einem Geschäft sich die Bewältigung dieser Schranken des Geschäftemachens ihrerseits ausgewachsen hat. Tatsächlich ist das Prinzip der ‚Lösung‘ ja im gestellten ‚Problem‘ bereits gegeben. Auf Reichtum in universell verwendbarer Form kommt es im kapitalistischen Wirtschaftsleben ja nicht deshalb an, damit der Erfolgreiche gewaltige Goldschätze horten kann. Ein Erfolg ist die ‚realisierte‘ Geldsumme vielmehr gerade darin, daß sie zum Ausgangspunkt erneuerter und vergrößerter Geschäfte wird. Das ist daher auch das wirklich maßgebliche Kriterium für die Tauglichkeit eines ausländischen Kreditgelds: ob auf den einmal in dieser Form ergatterten Wert Verlaß ist, ist nur insofern entscheidend, als er sich erneut lohnend verwerten lassen muß. Genau und allein nach diesem Kriterium bestimmt sich daher auch tatsächlich das Wertverhältnis zwischen verschiedenen nationalen Währungen: es hängt (zunächst) ausschließlich von dem relativen Umfang ab, in dem ein für Importzwecke hingegebenes Kreditgeld wieder für die Auslandsgeschäfte der Kapitalisten des Empfängerlandes Verwendung findet - oder umgekehrt: in dem eine in Zahlung genommene ausländische Währung sich wieder für lohnende Auslandseinkäufe benutzen läßt. Die Devisenhändler ermitteln täglich neu aus Stand und Umfang der gerade abgewickelten Geschäfte die aktuellen Wechselkurse, indem sie deren Unterschiede im Raum und in der Zeit durch Termingeschäfte und globale Umbuchungen zu ihrem Vorteil ausnutzen - und dadurch selber mit herstellen helfen. Denn im Falle ihrer ‚Ware‘: der Kreditgelder aller Nationen, wird endlich einmal das alberne Ideal der Volkswirtschaftslehre von der Preisbestimmung allein durch Angebot und Nachfrage auf der Basis ‚subjektiver Wertschätzung‘ in all seiner Brutalität wahr: die beständige ‚Schätzung‘, wann und wo in welcher Währung welches Geschäft sich endlich oder nicht mehr lohnt, macht die Devisenmärkte zu Schlachtfeldern für Profis. Das scheinbar paradoxe Ergebnis: der internationale Wert einer Währung, ihre Bewertung als Wertmaßstab im Verhältnis zum Kreditgeld anderer Denomination, ist Grundlage ihre tatsächliche Verwendung als internationales Geschäftsmittel, richtet sich aber gleichzeitig nach dieser Verwendung.
Das elementare ‚Gesetz‘ dieser Wertbestimmung geht dabei aus dem Umfang der Verwendung einer Währung als Kauf- und Zahlungsmittel hervor: Der Wechselkurs zeigt sinkende Tendenz in dem Maße, wie der Import den Export überschreitet, und steigende mit den relativen Ausfuhrerfolgen einer Nation. Dieses ‚Gesetz‘ gibt stets von neuem zu dem idyllischen Irrglauben Anlaß, der Welthandel würde letztinstanzlich durch ein ‚selbstregulierendes Gleichgewicht‘ gelenkt, so nämlich, daß mit sinkendem Außenwert einer Währung die verteuerten Importe automatisch ab-, die verbilligten Exporte ebenso unvermeidlich zunähmen, beides umgekehrt bei Höherbewertung einer Währung. Tatsächlich ist in der wirklichen Welt von einer solchen lieblichen Tendenz zum immerwährenden Ausgleich noch nichts bekanntgeworden, und von einem ökonomischen ‚Naturgesetz‘ in dieser Richtung, hin zum Ausgleich aller Handelsbilanzen, kann auch gar nicht die Rede sein.
Wenn mangelnde Exporterfolge einer nationalen Ökonomie bei gleichzeitigen Verkaufserfolgen der Außenhändler fremder Staaten in diesem Land den Wert seiner Währung sinken lassen, so kommt es sehr darauf an, ob damit der Anfang vom Ende oder von der Wiedergewinnung der internationalen Zahlungsfähigkeit dieser Nation gemacht ist. Darauf nämlich, ob dort ein genügend großer, frei anlegbarer, also überschüssiger Reichtum vorhanden ist, um nun, produktiv eingesetzt, dank der neuen Kurskonditionen im Außenhandel der ausländischen Konkurrenz auf dem nationalen Markt wie im Export Marktanteile abzujagen; dies ungeachtet der erschwerenden Bedingung verteuerter Importe, womöglich auch steigender Preise einheimischer Zulieferer, die sich überdies womöglich als erste eine besser zahlende ausländische Kundschaft erschließen; von hinreichender Größe auch noch nachdem die Währungsabwertung ja immerhin den für einheimischen Reichtum geltenden Maßstab international verkleinert und damit die weltweite Durchsetzungsfähigkeit der schon fungierenden wie der neu anzulegenden Kapitale beschränkt hat. Ist solcher Reichtum gegeben - und sei es als fiktiver dank eines leistungsfähigen Kreditwesens -, so ist eine Abwertung in der Tat eine Chance für die nationale Ökonomie. Klar ist allerdings auch, daß dieser Fall allemal die Ausnahme darstellt. Denn zu so durchschlagenden Erfolgen der ausländischen Konkurrenz, daß deswegen eine Abwertung ansteht, kann es ja kaum anders gekommen sein als dadurch, daß das Kapital der Nation sich insgesamt (am internationalen Maßstab gemessen) als zu ineffektiv im Hervorbringen lohnend anwendbaren Überschusses, sein Wachstum also als zu schwächlich erwiesen hat. Der Normalfall unter konkurrierenden Volkswirtschaften ist folglich eher der, daß durch eine Abwertung die Importe teurer werden, dabei aber unentbehrlich bleiben; umgekehrt die eigenen Waren im Ausland billiger, damit aber noch längst nicht lohnend, geschweige denn in größeren Massen mit vergrößertem Gewinn loszuschlagen sind; und zwar eben weil es an Kapital fehlt, das diesen Erfolg zustande bringen könnte. Ausgeglichen wird eine Handelsbilanz auf diese Weise keineswegs, statt dessen die internationale Zahlungsfähigkeit der Nation geschmälert und zusätzlich dadurch gefährdet, daß die Verfügung über Geld in der entwerteten Währung für jeden denkenden Geschäftsmann, sei er In- oder Ausländer, zu den tunlichst zu vermeidenden Geschäftsrisiken gehört.
4. Keine Regierung sieht denn auch der Entwertung ihres Nationalkreditgeldes an den internationalen Devisenbörsen im Vertrauen auf die ‚Selbstheilungskräfte des Marktes‘ gelassen zu - Gelassenheit in Währungsfragen ist das Privileg von Regierungen, die über einen weltweit gefragten Nationalkredit verfügen, weil das Exportkapital ihrer Nation weltweit erfolgreich ist: solche Geschäftstüchtigkeit berechtigt allemal zu der Berechnung, daß die Exporteure auch mit der verschärften Konkurrenzbedingung eines höheren Außenwerts des nationalen Wertmaßstabs fertig werden - und die Erfolglosen es auch nicht besser verdient haben -, zumal sie ja, wie die gesamte Wirtschaft, ab sofort in den Genuß billigerer Importe, z. B. so gewichtiger Rohstoffe wie Erdöl, gelangen. Staaten, deren auswärtige Zahlungsfähigkeit auf Grund der Erfolge ausländischer Konkurrenten des einheimischen Kapitals schwindet, pflegen daher einiges an Gegenmaßnahmen ins Werk zu setzen; auch das allerdings mit keineswegs gewissen Erfolgsaussichten.
Als erstes Zwangsmittel bieten sich an - und werden von den ruinierten Kaufleuten der Nation gefordert - die klassischen Zwangsmittel des Schutzzolls und der Kontingentierung geschäftsschädigender Importware. Dank der segensreichen Entwicklung des Welthandels gibt es heutzutage aber kein Land mehr, und schon gar kein demokratisches ‚Industrieland‘, das nicht ebensosehr auf die andere Seite seines Außenhandels zu achten hätte. Schließlich wollen inländische Produzenten ihrerseits auf auswärtigen Märkten genau die Erfolge erringen oder verteidigen, die, von auswärtigen Geschäftsleuten im eigenen Land erzielt, so überaus bedenklich sind. Bei Zwangsmaßnahmen zur Verbesserung der Handelsbilanz und zum Schutz einheimischer Produktionszweige ist daher wohl zu unterscheiden, gegen wen sie sich richten. Wenn gegen Staaten, die als Kunden der eigenen Ökonomie entweder auf Grund besonderer Umstände ohnehin sicher oder uninteressant sind, dann ist vom Standpunkt des nationalen Interesses aus alles erlaubt und alles Erlaubte geboten. Würden dagegen Nachbarn betroffen, die ihrerseits über interessante Absatzmärkte, auf diesen allerdings auch über Konkurrenten verfügen, ist bei Schutzmaßnahmen für nationale Industriezweige mit einem entsprechenden Ausschluß der eigenen Exporteure von der Benutzung der ausländischen Kaufkraft zu rechnen, was zu verhindern schon einige Erpressungskunststücke, also Mittel zum ‚Einfluß‘ erfordert. Und nicht nur das: auch einseitige Handelshemmnisse können nicht verhindern, daß die billigere Auslandsware den eigenen Exportartikeln in dritten Ländern erfolgreich Konkurrenz macht. Schutzzölle ziehen so fast mit Notwendigkeit als ergänzende Maßnahme Exportsubventionen nach sich, mit denen aber auch kein Staat auf Dauer glücklich wird: Da wird von Amts wegen nationaler Reichtum verausgabt, nicht um dessen Wachstum zu beschleunigen, sondern um eine eigentlich konkurrenzunfähige Branche zu retten; und spätestens wenn sich dank subventionierter Preise ein Erfolg einstellt, werden bei den konkurrierenden Nationen gleichartige Gegenmanöver fällig.
Eine verantwortungsbewußte Regierung entsinnt sich daher angesichts schwindender internationaler Zahlungsfähigkeit ihrer Geschäftswelt zweitens der eigenen Hoheit über ihr Kreditgeld sowie des Umstands, daß zu jedem Kursverfall der einen Währung der Kursanstieg mindestens einer anderen gehört: Sie legt den Außenwert ihres gesetzlichen Zahlungsmittels zwangsweise fest und sucht Verbündete, um die Nation oder die Nationen, die durch ihre Exporterfolge den Welthandel ‚in Unordnung‘ gebracht haben, zu einer Aufwertung zu drängen. In einem solchen Fall wäre immerhin die Stärkung der eigenen Exporteure im Vergleich mit dem gefährlichen Konkurrenten nicht mit einer Pauschalverteuerung aller Importe erkauft - ein Unterschied, um den schon manche internationale Erpressungs-Gesprächsrunde‘ gelaufen ist. Bleibt dieser Erfolg aus, so bereichert die staatliche Fixierung der Wechselkurse nur die Welt des internationalen Handels und Wandels um eine neue Erscheinung: überbewertete und daher ‚schwache‘ Währungen, ebenso wie die unterbewerteten und daher ‚starken‘, bringen professionelle Devisenspekulanten erst richtig in Schwung. Der Zahlungsfähigkeit eines ‚Weichwährungslandes‘ tut das gar nicht gut!
Es zeigt sich in der Wertbestimmung einer nationalen Währung also ziemlich unerbittlich, daß das Kreditgeld einer Nation als internationales Kauf- und Zahlungsmittel taugt, weil, solange und in dem Maße, wie das darin sich umtreibende Kapital Geschäfte zustande bringt, die sich im Weltmaßstab lohnen. Zur durchgreifenden ‚Sanierung‘ ihrer Zahlungsfähigkeit bleibt einer ‚Volkswirtschaft‘ und ihrer Regierung also nur der eine Weg, die Basis für lohnende Geschäfte im eigenen Land: die Produktivität der nationalen Kapitale, wieder auf Weltniveau zu bringen. Daran entscheidet sich nämlich in letzter Instanz, ob ein Auslandsgeschäft erstens überhaupt zustande kommt, die eigene Ware also für den auswärtigen Kunden hinreichend billig ist und der für Importe gezahlte Preis hoch genug, daß es sich für den auswärtigen Panner lohnt, und ob zweitens gleichzeitig die ganze Operation sich auszahlt, der Auslandseinkauf also für den inländischen Kunden billig, der Exporterlös hoch genug ist, um sich zu lohnen; das Ganze bei gegebenem Wechselkurs so, daß die ‚geschwächte‘ Währung sich ‚wieder erholt‘. Über die Mittel, deren zielstrebiger Einsatz über den Erfolg solcher nationalen ‚Sanierungs‘-Kampagnen entscheidet, geben ironischerweise die Propagandafeldzüge klarste Auskunft, die zu einer demokratischen Wirtschaftspolitik nun einmal dazugehören: Am Konkurrenten, der der Nation ihre Defizite und diversen Branchen ihre Schwierigkeiten eingebrockt hat oder haben soll, entdecken die Lobbyisten des Kapitals - und als solche tun sich an dieser Stelle in mancher westlichen Musterdemokratie professionelle Gewerkschafter ganz besonders hervor! - regelmäßig sämtliche Techniken der Ausbeutung, die im eigenen Land noch keiner gesichtet haben will, schon gleich nicht, solange noch alles gut ging mit dem Auslandsgeschäft, die Notenbank an einer positiven Handelsbilanz ihre Freude hatte und die Japaner sich an deutscher Wertarbeit ein Beispiel nehmen sollten: Arbeitshetze, niedrige Löhne, spärliche Sozialleistungen, extremste Perfektionierung der Arbeitsplätze...
Schwindet trotz allem die Erfolgstüchtigkeit der nationalen Produktion und die Zahlungsfähigkeit der nationalen Kaufleute im Ausland weiter - die Konkurrenz schläft ja auch nicht! -, wird also die internationale Kaufkraft eines Nationalkredits zunehmend hinfällig, so kommt im praktischen Geschäftsverkehr auf einmal eine längst totgeglaubte Wahrheit über das Geld zum Vorschein. Plötzlich ist nichts so wichtig wie die ‚Eigenschaft‘, von der das staatlich garantierte Kreditgeld sich gerade emanzipiert hat und vor der es sich mit dieser seiner Freiheit jetzt so tödlich blamiert: die ‚Eigenschaft‘ des Geldes, wirklicher Wert zu sein. Die Zahlungsfähigkeit der Nation schrumpft zusammen auf den Goldschatz, den - bei aller Perfektionierung des internationalen Kreditüberbaus, dessen Prinzipien im nächsten Abschnitt dieses Kapitels behandelt werden - noch jede Nationalbank sich als wichtigen Posten unter ihren Aktiva, als die Grundlage ihrer ‚ungedeckten‘ Notenemission, leistet. Im internationalen Geschäftsverkehr ist, allen anderslautenden Gerüchten zum Trotz, der Verlaß und im Ernstfall der praktische Rückgriff auf Barzahlung in Goldbarren überhaupt nicht ausgestorben.
5. Allerdings ist dieser Zahlungsmodus, wenn er als wiederholter Ausweg gewählt wird, im heutigen internationalen Handel gleichbedeutend mit einem Offenbarungseid und der Beendigung jeder aktiven Teilhabe am weltweiten Handelsgeschäft; und deswegen entnimmt eine aufgeklärte Regierung dieser Zwangslage den Auftrag, neue ‚Sachzwänge‘ in ihrem Land und - soweit (noch) vorhanden - in ihre Ökonomie einzuführen. Was im Land an Kapital fehlt, um am Geschäft der Benutzung auswärtiger Volkswirtschaften und ihres Reichtums teilzunehmen, das ‚ersetzt‘ sie durch den Zwang gegen ihre Untertanen, das Unmögliche möglich zu machen und - koste es, was es wolle — weltweit gültige Zahlungsmittel beizuschaffen. In ihrer Bevölkerung verfügt nämlich noch jede politische Obrigkeit über das Mittel für den Versuch, die eigene Zahlungsunfähigkeit abzuwenden. Der Einsatz der nationalen Arbeitskraft muß dann mehr erbringen, auch ohne daß für die Verbesserung der Arbeitsmittel kostbare Devisen verausgabt werden. Zwar verabschiedet ein Staat sich mit der Streichung solcher Importe endgültig aus dem Kreis der konkurrierenden Macher der ‚Weltwirtschaft‘: er ruiniert ja - von seinem Volk mal ganz abgesehen — die produktive Basis seiner Ökonomie, um seine Zahlungsfähigkeit zu retten. Dafür konkurriert er an einer ganz neuen Front, nämlich mit gleichartigen Staaten um das optimale Mischungsverhältnis zwischen Herabminderung des Existenzminimums und dennoch aufrechterhaltener Leistungsfähigkeit seiner arbeitenden Untertanen.
Im Außenhandel auf einer solchen Grundlage haben linke Imperialismustheoretiker mit Hilfe eines Mißverständnisses der Marxschen ‚Arbeitswertlehre‘ einen Beleg für schreiende Ungerechtigkeiten im internationalen Geschäftsverkehr entdeckt. Wie späte Schüler der geldtheoretischen Fehler, die Marx an Proudhon kritisiert hat, stellen sie in ihren Berechnungen der internationalen Austauschrelationen die Arbeitsstunden gegenüber, die jeweils auf im Welthandel wertmäßig gleichgesetzte Waren aus den ‚Industrie-‘ und aus den anderen Ländern verwandt worden sind, und stoßen so natürlich auf eklatante Ungleichheiten: da mag die Arbeitsstunde eines BMW-Arbeiters hundert Arbeitsstunden eines senegalesischen Erdnußpflückers ‚kaufen‘. Was den behaupteten ‚Marxismus‘ dieser Vorstellung betrifft, so wird da zugunsten des Ideals weltweiter Gerechtigkeit die von Marx entdeckte und betonte Bestimmung des Tauschwerts ‚übersehen‘, daß er gerade nicht als die Messung seiner ‚Substanz‘, der verausgabten Arbeitsmenge, existiert, sondern in deren Gleichsetzung mit einem Quantum Geld; in einer formellen Differenz also zu seiner eigenen Grundlage, mit der eine quantitative Deckungsgleichheit von Tauschwert einer bestimmten Ware und zu ihrer Produktion angewandter Arbeitszeit prinzipiell ausgeschlossen und zum Zufall herabgesetzt ist. Der Wert einer Ware ist eben von Anfang an nicht eine Frage der tatsächlich in ihr steckenden Arbeitszeit, sondern des mit dieser Arbeitszeit bewerkstelligten Geschäfts, oder anders: ihren Zweck und damit ihre praktische Wahrheit besitzt die Warenproduktion für den Handel nicht in der idealen Gleichgeltung unterschiedlicher Arbeiten, sondern im Gewinn, der durch die entsprechende Benutzung dieser qualitativen Gleichgültigkeit unterschiedlicher Arbeiten erzielt wird. Wenn sich daher im internationalen Geschäftsleben der Maßstab der Preise selbst als sehr veränderlich erweist, und zwar je nach dem Gelingen des in der jeweiligen Währung bewerkstelligten Kapitalwachstums, so ist das kein Verstoß gegen das ‚Wertgesetz‘, sondern dessen höchst sachgerechte Konsequenz. Denn über die gesellschaftliche Notwendigkeit der verausgabten Arbeit, damit über den tatsächlichen Wert, entscheidet - wie Marx auch schon gemerkt und mitgeteilt hat - nicht das gesellschaftliche Bedürfnis, sondern das zahlungsfähige Bedürfnis, und das heißt: es sind die Geschäftsbedürfnisse der wirklichen ökonomischen Subjekte einer nationalen Ökonomie, ihrer Kapitale, die über die ‚gesellschaftliche Notwendigkeit‘ einer jeden Arbeit und damit über den tatsächlichen Wert einer jeden Ware befinden. Wenn folglich eine Regierung durch die direkte Verelendung ihres Volkes aus dessen Arbeit zwangsweise ein Geschäft macht, das auf Basis einer auch nur annähernden Gleichgeltung der Arbeitsstunden in ihrem Land und bei ihrem erfolgreicheren Geschäftspartner nie und nimmer zu machen wäre, dann ist das Wertgesetz weder ‚widerlegt‘, noch liegt ein ‚Verstoß‘ dagegen vor, so als handelte es sich bei diesem ökonomischen Zwangszusammenhang um ein löbliches moralisches Gebot. ‚Modifiziert‘ wird das Wertgesetz auf diese Weise nur in einer Hinsicht, indem nämlich die politische Gewalt ihr Volk den praktischen Nachweis führen läßt, wie billig Arbeit zu haben, wie gering im Land also mit der Effektivität auch der Wert der nationalen Arbeitskraft ist: so kommen eben doch noch Geschäfte zustande, wo die entscheidenden Geschäfte des erfolgreichen Kapitals längst auf ganz andere Weise, nämlich durch die fortschreitend effektivere Ausnutzung von Arbeitskräften vonstatten gehen.
Diese ‚Modifikation des Wertgesetzes‘ ist also gar nichts anderes als der Modus seiner praktischen Durchsetzung in Ländern, die der Gang der weltweiten Konkurrenz für das ‚normale‘ Geschäftsleben untauglich gemacht hat oder nie hat tauglich werden lassen. Es ist ein und dieselbe Gesetzmäßigkeit des kapitalistischen Äquivalententauschs, die in den Nationen mit international erfolgreichem Kapital eine produktivere Ausnutzung der Arbeit und ein Steigen des Wechselkurses der nationalen Währung, in den Nationen ohne florierendes Geschäft ein zunehmend unproduktiveres Elend und für den volkswirtschaftlichen Verstand das scheinbare Rätsel hervorbringt, weshalb denn wohl die ‚terms of trade‘ sich für die ‚Entwicklungsländer‘ laufend verschlechtern - wie denn sonst sollte die Gerechtigkeit des internationalen Handels bei ihnen wirken?
Manchem Staat kommt dabei in seinem Bemühen, im internationalen Handelsgeschäft mitzuhalten und dessen harten Kriterien gerecht zu werden, die natürliche Beschaffenheit seines Herrschaftsgebietes zustatten. Schon die ersten Apologeten des Kapitalismus und seines weltweiten Ausgreifens haben es für eine ungemein sinnreiche Einrichtung der ‚unsichtbaren Hand‘, die bekanntlich alles Marktgeschehen zum Besten lenkt, gehalten, daß sie in Portugal Portwein, in England dagegen hochmechanisierte Tuchfabriken wachsen ließ, so daß britische Spediteure zu ‚wechselseitigem Vorteil‘ den Südwein nach Norden und billige Textilien an die Portugiesen verhökerten. In Vorstellung und Terminus einer ‚weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung‘ lebt dieser Idealismus noch heute ungebrochen weiter; in der ‚Theorie der komparativen Kosten‘ hat er sich sogar eine volkswirtschaftliche Ideologie zugelegt, derzufolge der Welthandel und der darüber bewerkstelligte praktische Vergleich nationaler Gewinnspannen automatisch dafür sorgt, daß jedes Land zum großen ‚Weltmarkt‘ das ‚beisteuert‘, was in ihm mit dem geringsten Kostenaufwand herzustellen ist. Die fromme Albernheit dieser ‚Theorie‘ könnte allerdings schon an dem Umstand auffallen, daß es zwar regelrechte Bananenrepubliken gibt, aber keine westeuropäische Erdbeerdemokratie; ebensowenig verschrottet eine ‚Industrienation‘ ihre Hochöfen und Raffinerien, bloß weil in Nigeria Erdöl und Eisenerz nebeneinander lagern: eher exportiert dieses Land beide Rohstoffe in roher Form. Tatsächlich ist es allemal - schon beim Tauschhandel von britischem Tuch gegen Portwein - eine harte Konsequenz der internationalen Konkurrenz, wenn ein Staat für die Aufrechterhaltung seiner Ökonomie auf die speziellen Vorzüge der Natur seines Landes zurückgeworfen ist. Das bedeutet nämlich, daß die maßgeblichen, d. h. für die Schaffung und Mehrung des nationalen Reichtums ausschlaggebenden Geschäftszweige, in denen es auf die effektive, daher industrielle Nutzung der Arbeitskräfte ankommt, der auswärtigen Konkurrenz unterlegen oder ihretwegen gar nicht erst zustande gekommen sind. Geschäftlich geltend machen kann ein solcher Staat nurmehr sein politisches Monopol über Naturschätze, deren ökonomischer Wert, ob und in welchem Umfang also daraus frei verfügbarer Reichtum zu machen ist, sich ganz anders entscheidet. Mit der Anstrengung, seinen Naturvorteil auszunutzen, untergräbt ein solcher Staat zudem sein einziges eigenes Geschäftsmittel, das in der matten politischen Drohung liegt, sein Monopol in der einzigen Weise geltend zu machen, in er es ökonomisch überhaupt geltend zu machen ist, negativ nämlich, als Verbot des Exports: Er wird ja nur immer ausschließlicher von einer Benutzung seines Naturstoffs, die er selbst gerade nicht zustande bringt, durch auswärtige ‚Kundschaft‘ abhängig. So macht ein Souverän seine Naturschätze und sich als deren politischen Verwalter zum Anhängsel eines weltweiten Handelsgeschäfts, dessen Subjekte ganz woanders sitzen, ganz einfach weil Zahlungsfähigkeit, also das erfolgreiche Fungieren konkurrenzfähiger Kapitale dessen ökonomischer Inhalt ist.
Die geschäftliche Ausnutzung natürlicher ‚Vorzüge‘ einer Region, soweit ein Staat sie als Mittel seiner Zahlungsfähigkeit benutzt, läuft in letzter Instanz auf den zwangsweisen Entzug und den Ausverkauf der Subsistenzmittel einer Bevölkerung hinaus, die selbst gegen einen absoluten Minimallohn für eine lohnende Produktion nicht einzusetzen ist. Die nackte Tatsache, daß er noch eine Bevölkerung hat, gibt einem solchen Staat seine Sicherheit, daß da noch etwas zu holen ist: das Schweinefleisch, das bislang auf einem nationalen Speisezettel stand, läßt sich in Dosen verpacken und in westeuropäischen Billigmärkten unterbringen; und wenn gleiches mit dem Volksnahrungsmittel Hirsebrei nicht gelingt, dann vielleicht mit Erdnüssen, die sich statt dessen auf denselben Feldern ziehen lassen. Ist der Verfall der nationalen Zahlungsfähigkeit auch durch eine solche Ruinierung von Land und Leuten nicht mehr abzuwenden, dann - und erst und nur dann - meldet die zuständige Regierung bei ihren Handelspartnern den Standpunkt an, den die Ideologien des weltwirtschaftlichen Erfolgs als Prinzip und maßgeblichen Endzweck allen Im- und Exportierens behaupten: den Standpunkt der Versorgung der Bevölkerung. Mit dem Geltendmachen dieses Standpunkts hört die Teilhabe am Welthandel einstweilen auf - die Linderung oder gar Beseitigung der Not der Massen fängt damit allerdings noch lange nicht an. Es war ja nie und ist auch jetzt nicht die Not ihres Volkes, die der zuständigen politischen Obrigkeit zu schaffen gemacht hat- sie hat sie ja herbeiführen helfen -, sondern dessen zunehmende, in Hungerkatastrophen schließlich vollendete Untauglichkeit für ihre Erhaltung. Und dieser ‚Hilferuf‘ findet bei den erfolgreichen Nationen durchaus Gehör: Ihre Macher tragen ja die ‚Verantwortung‘ für das ökonomische Geschehen auf dem Globus - und lassen ihr Volk daran durchaus moralisch teilhaben!
6. Die Wahrheit, die an Staaten ohne konkurrenzfähige Nationalökonomie vollstreckt wird, heißt lapidar: ökonomischer Mangel ist eine denkbar schlechte Bedingung, die Beschaffung von Devisen, um als Nation überhaupt zahlungsfähig zu bleiben, ein denkbar schlechter Zweck für eine aktive Teilhabe am ‚Weltmarkt‘, geschweige denn für dessen gedeihliche Benutzung; ‚Volkswirtschaften‘, die so zum Welthandel antreten, werden benutzt, und zwar nach allen Regeln des gerechten Handels bis zum vollständigen Ruin. Für den Umkehrsatz dieser Wahrheit führen die Aktivisten des Welthandels den praktischen Beweis. Ein erfolgreich akkumulierendes nationales Kapital, das für die Bewältigung seiner Auslandsgeschäfte stets über die nötigen Finanzmittel verfügt, besitzt eben damit die Freiheit, seine Teilhabe am Welthandel in jeder Hinsicht nach dem Kriterium seines Wachstums auszurichten. Deshalb entfällt auch manche mögliche Transaktion, weil sie sich zu. wenig lohnt - während von einer Ökonomie, die vom Standpunkt des Mangels aus operiert, allemal ein Opfer an Reichtum verlangt ist, um überhaupt im Ausland verkaufen und einkaufen zu können. Hohe Importe sind dann nicht die Folge von Verschwendung oder von lauter Niederlagen heimischer Geschäftsleute, sondern von deren Freiheit, zum Nutzen ihres Kapitals Lieferbedingungen weltweit zu vergleichen. Hohe Exporte und womöglich sogar eine positive Handelsbilanz haben hier nichts mit einem nationalen Ausverkauf zu tun, sondern stellen den Erfolg des einheimischen Geschäftsgangs dar, sich von den Schranken der nationalen Zahlungsfähigkeit frei zu machen und die einer auswärtigen Kundschaft für seinen Fortgang, d. h. für seine kontinuierliche Expansion zu benutzen. Das Kreditgeld einer solchen Nation ist als Kaufmittel in aller Welt gefragt, weil auf die Konkurrenzfähigkeit ihrer Exportindustrie Verlaß ist; an ihm messen sich daher die Wertmaßstäbe, nämlich die Währungen anderer Staaten. Die Goldschätze der weniger glücklichen Nationen nehmen Kurs in Richtung auf die Kellergewölbe der Zentralbanken dieser ‚Hartwährungsländer‘ - aber nicht, um dort als stille Reserve zu ruhen:
Ökonomisch tun sie in Ländern mit akkumulierendem Kapital einen Dienst, den sie andernorts nicht zustande gebracht haben, garantieren nämlich dem expandierenden Geschäft die nötige Expansion seiner Zahlungsmittel. Für die anderen Nationen, deren Ökonomie stets mit dem Problem der internationalen Zahlungsfähigkeit zu kämpfen hat, sind solche Zahlungsmittel, obwohl auch bloße Kreditgutscheine, so gut wie Gold wert: in ihnen ist ja das Kapital zu Hause, in dessen Geschäfte sie einbezogen werden oder bleiben wollen. Dummerweise ist an derartige ‚harte Devisen eben deswegen schwer heranzukommen, weil sie so ‚hart‘ sind; so stellt sich im mehr oder minder erfolgreichen Konkurrenzkampf um die Devisen einer prosperierenden Nation die Zahlungsunfähigkeit der anderen heraus.
Kein Wunder, daß der ‚Weltmarkt‘ beständig der Aufsicht gewisser eindeutiger Führungsmächte bedarf, die dafür sorgen, daß kein Staat sich eine Alternative zu dieser segensreichen Veranstaltung erfindet und jeder auf seine Weise dafür tauglich bleibt - auch über die Grenzen seiner Zahlungsfähigkeit hinaus. Denn da kann das Kapital seine imperialistischen Qualitäten erst so richtig frei entfalten.
2.3 Die Welt als Kapitalmarkt
Zur Freiheit der Kalkulation, die Geschäftsleute brauchen, um die Perspektive nicht lohnender Investitionen, unverkäuflicher oder nicht gewinnbringender Produkte abzuwenden, gehört die Mobilität des Kapitals — der Zugang des eigenen Vermögens zu allen erfolgversprechenden Gewerben und die Beendigung des Kapitaleinsatzes in schlechtgehenden Zweigen. Der Kredit-Überbau., der Handel mit Geld und Schulden, die als Kapital wirken, wo immer es möglich ist, gewährleistet diese Mobilität und damit die Unabhängigkeit des Privateigentums von besonderen Anlagesphären und Produkten. Mit dem organisierten Verleih von Kapital, in dem Geldsummen einen Preis erzielen, wenn sie anderen zur Investition überlassen werden; im Zusammenschluß von mehreren Geldgebern zu Aktiengesellschaften, wo das Kapital von vornherein als Kredit auftritt, emanzipiert sich das Privatvermögen zugleich von den Schranken seiner Anwendbarkeit, die ihm aus seiner Größe erwachsen. In den staatlich geregelten und beeinflußten Bedingungen des Kredits, die dessen Preis wie Menge betreffen, sieht sich "die Wirtschaft‚also einem entscheidenden Mittel für ihre Bewährung in der Konkurrenz gegenüber. Und da sich mit der staatlichen Inanspruchnahme von Kredit die Leistungen einer Geldsumme, über die einer verfügt, erheblich verändern, verwundert es gar nicht, daß die Klagen über Inflation zur kapitalistischen Produktionsweise seit ihren ersten Tagen gehören - im selben Maße, wie die Spekulation auf die Geldentwertung zu einem lohnenden Geschäftszweig geworden ist. Die schöne Erfindung eines staatlich geregelten Kreditüberbaus, der die Konkurrenz erst so richtig frei macht, gerät dem Geschäft allerdings zur Schranke, sobald es sich übernational betätigt. Freilich ist auch dieses Problem längst gelöst - und zwar durch die Staaten selbst, die schließlich das Geschäft im Innern nicht befördern, um es nach außen zu unterbinden.
1. Kapitalistische Konkurrenz, die auf dem Austausch von Waren beruht, bewirkt auch international kein harmonisches Miteinander der Geschäftsleute; der Erfolg des einen führt wie im staatlich geordneten inneren Markt durchaus zur Schädigung des anderen, und das Hin und Her zwischen protektionistischen und freihändlerischen Avancen der Staaten offenbart, daß sie als ideelle Gesamtkapitalisten - als eine Instanz also, der es darauf ankommt, den Erfolg ihrer nationalen Wirtschaft im Ganzen sicherzustellen, wobei sie sich auch einmal über die Interessen einzelner im internationalen Handel tätiger Privatleute hinwegsetzt - einen beständigen Kampf um die Durchsetzung auf auswärtigen Märkten und um den Schutz einheimischer Gewinne führen. Dabei sind die außenpolitischen Unterhändler jeder Nation im Verein mit den Wirtschaftspolitikern sehr fürsorglich eingestellt. Sie bilanzieren kontinuierlich Export wie Import, legen Währungsreserven an, durch die sich der Staat als Garant für das Gelingen außenhändlerischer Kalkulation stark macht - der Mangel an international gefragten Zahlungsmitteln soll Geschäfte weder verhindern noch plötzlich verteuern und unrentabel machen -, und in fristgemäß vorgenommenen Ein- und Verkäufen der wichtigsten Währungen nehmen sie Einfluß auf Kursveränderungen. Und doch mündet diese Zuständigkeit im Falle von Mißerfolgen (negative Handels- und Zahlungsbilanzen) nicht in das staatliche Bekenntnis, die einheimischen Teilnehmer am Weltmarkt seien nicht mehr willens oder in der Lage, sich am internationalen Handel zu beteiligen. Umgekehrt erfährt eine positive Bilanz keineswegs die freudige Würdigung eines Erfolgs der nationalen Wirtschaft. So wenig die lädierte Zahlungsfähigkeit einer Nation den Bankrott nach sich zieht, so unüblich ist es, die Schädigung einer anderen umstandslos zu feiern und den ‚Ruin‘ eines Konkurrenten mit dem preiswerten Aufkauf der Konkursmasse sicherzustellen. Die Maßstäbe, die von Staatsmännern im innenpolitischen Werben so gerne angeführt werden, wenn sie ihre Tüchtigkeit für die Regierungsgeschäfte unter Beweis stellen wollen - ‚unsere Währung ist gesund!‘, ‚wir haben keine Schulden im Ausland!‘, ‚die Probleme des Exports gemeistert‘ . . . -, zeugen zwar von der Zuständigkeit der Regierung für die Bewährung der Nation im internationalen Handel, gelten aber nur sehr bedingt als Index für die gesicherten Dienste auswärtiger Partner.
Der Grund dafür ist nicht schwer auszumachen: man hat es schließlich nicht nur mit potenten oder insolventen Wirtschaftssubjekten zu tun, sondern auch mit einem politischen Souverän, der die unter seiner Herrschaft abgewickelte Ökonomie als seine Existenzgrundlage beansprucht. Mit diesem Anspruch und den Gewaltmitteln, die ihn so ‚real‘ machen, sieht sich noch das erfolgreichste kommerzielle Interesse konfrontiert - es hat sich ja zu seiner Betätigung selbst stets auf die eigene Staatsgewalt und ihr Einvernehmen mit anderen Regierungen stützen müssen und können. Daß Handels- und Zahlungsbilanzen, die sich erheblich vom als Ideal betrachteten Gleichgewicht entfernt haben, nicht dieselben Folgen auf dem Weltmarkt haben, wie sie im Geschäftsleben innerhalb einer Nation üblich sind, sobald die einen Gewinne und die anderen Verluste verbuchen - Konkurse, Wechsel der Branche, Aufkäufe und Fusionen -, bedeutet allerdings nicht, daß der internationale Handel erlahmt. Gerade weil sich auf dem Weltmarkt Staaten des materiellen Reichtums bedienen, weil die ‚Verantwortlichen‘ sich in ihrem Dienst am privaten Geschäft so unentbehrlich wissen, ist ihnen die Erhaltung der Nation oberstes Ziel — und dieses duldet unter keinen Umständen wegen gewisser Widrigkeiten in Sachen Zahlungsfähigkeit, daheim oder auswärts, seine Preisgabe. Noch vor dem Eintreten irgendwelcher ökonomischer Mißerfolge leistet sich jeder moderne Souverän einen mehr oder minder ansehnlichen Gewaltapparat, der sich schon allein dadurch lohnt, daß er ihn handlungsfähig macht, nämlich in seinen Entscheidungen erst einmal unabhängig von den Konjunkturen und ihren kleinkrämerischen Rechnungen mit Mark und Pfennig. Und auf dieser Grundlage haben sich die Veranstalter des Weltmarkts auch stets von den beschränkten Verkehrsformen des Austausches von Waren und Geld emanzipiert und ihre damit eingegangenen ‚Abhängigkeiten‘ schöpferisch überwunden - indem sie sich auf grundsätzlichere Formen der wechselseitigen Benützung verlegt haben. Wenn die allenthalben erwünschte gewinnbringende Produktion von und der internationale Handel mit Waren an den Interessen anderer Nationen seine Schranke findet, so muß eben zu ihrer gedeihlichen Abwicklung das Interesse berücksichtigt werden, das die Souveräne dieser Welt so unbedingt in bezug auf ihre Existenz anmelden. Die Geschichte des Kolonialismus, der gewaltsamen Einbeziehung aller Weltgegenden in den Handel, hat nicht nur - wie die fortschrittsbewanderten Geschichtsbücher vermelden - zu Erhebungen und Befreiungskämpfen mit dem schönen Ergebnis lauter freier und selbstbestimmter Nationen geführt. Ihr Resultat ist viel banaler. Es heißt weltweiter Kapitalmarkt, und es ist durchaus zureichend mit den beiden Worten Geschäft und Gewalt umschrieben: Die Souveräne des 20. Jahrhunderts, die sich so viel auf ihre wechselseitige Respektierung, auf das anerkannte Monopol der Gewaltanwendung in ihrem Herrschaftsbereich, zugute halten, ‚arbeiten‘ tatsächlich zusammen. Sie begnügen sich keineswegs mit dem Austausch von Ware und Geld über ihre Grenzen hinweg: dergleichen würde den einen zu dem zweifelhaften Vorteil verhelfen, ein Plus an auswärtigen Zahlungsmitteln zu verbuchen, die immer mehr an Wert einbüßen, eine zahlungsfähige Kundschaft nach der anderen zu verlieren, also ihre eigene Geschäftsgrundlage zu ruinieren; den anderen würde mit ihrer Zahlungsunfähigkeit der Kauf all der schönen Dinge versagt bleiben, die der Weltmarkt so bereithält. Sie sichern vielmehr das Geschäft, indem sie Land und Leute mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zur Anlagesphäre von Kapital machen. Moderne politische Herrschaft - ganz gleich, ob sie als Monarchie, Diktatur oder Demokratie daherkommt - hat ihre Existenz gesichert, wenn sie aus der Brauchbarkeit ihres Territoriums und ihres Volkes ein Geschäft zu machen versteht, durch das sie sich Anerkennung bei anderen Staaten verschafft. In diesem Nationalismus verfährt sie sehr internationalistisch - auf die Landesfarbe der über ihre souveräne Entscheidung vereinten ‚Produktionsfaktoren‘ jedenfalls kommt es ihr nicht an. Die einen exportieren Arbeitskräfte, andere Naturschätze, wieder andere hauptsächlich Geld und Kredit, und auf Kritik grundsätzlicher Art können nur Souveräne rechnen, die sich an dieser Sorte ‚internationaler Abhängigkeit‘ nicht beteiligen oder sich ihr entziehen möchten. Ansonsten reduziert sich der Streit der Nationen um die Größe des nationalen Ertrags auf die Modalitäten in der Durchführung des gemeinsamen Anliegens. Dabei unterscheidet sich der Ertrag einer Nation durchaus vom Kriterium des Geschäftserfolgs, welches das internationalisierte Kapital an seine Unternehmungen anlegt. Ein Staat interessiert sich an gelungenen Geschäften unter dem zusätzlichen Gesichtspunkt, ob sich der erzielte Gewinn in der Stärkung des von ihm verwalteten Nationalkredits niederschlägt. Er will mehr international verfügbares Kaufmittel zur Disposition haben, vergleicht deswegen die Wirkung von Kapitalanlagen auf den relativen Wert seiner Währung, deren Brauchbarkeit/Ar künftige Unternehmungen - die in der prinzipiellen Sicherheit einer Kapitalsumme in der jeweiligen Nationaluniform und in ihrer jeweiligen Stärke ihrer internationalen Kaufkraft verglichen mit anderen nationalen Kreditzeichen liegt - seinen Kredit zum attraktiven Geschäftsmittel in aller Welt werden läßt.
2. Die Freiheit der Konkurrenz, die im Innern eines kapitalistischen Gemeinwesens zivil- und strafrechtlich vom Staat beaufsichtigt, wirtschafts- und sozialpolitisch betreut und durch den Kreditüberbau ökonomisch in Gang gesetzt wird, kommt also auch auf dem Weltmarkt zu Ehren. Hier allerdings über das Interesse der Staaten, aus ihrer ökonomischen Abhängigkeit untereinander das Beste zu machen, also ihre Souveränität so zu gebrauchen, daß die ihr zur Verfügung stehenden ökonomischen Potenzen zur Erhaltung und Sicherung der jeweiligen Herrschaft und ihres Einflusses in der Welt taugen. Politik wird im modernen Imperialismus eben zur methodischen Handhabung des Geschäfts, indem sie die ökonomische Grundlage der staatlichen Macht mobilisiert, um sie als Mittel für Kapitalanlagen jeglicher Herkunft für andere Souveräne interessant zu machen - oder umgekehrt: die auswärtigen Souveräne mit dem ‚Angebot‘ zu beglücken, durch die Anwendung von Kapital ihre natürlichen und menschlichen Ressourcen zu einer Reichtumsquelle werden zu lassen. Und beides zugleich kommt natürlich auch vor - nämlich bei den Staaten, deren Wirtschaft einerseits an gewinnbringend einsetzbaren Überschüssen an Geld, deshalb aber auch nur an exquisiten Schranken ihrer Anwendung ‚leidet‘: an der erforderlichen Größe des investierten Kapitals, der Größe, die es im Konkurrenzkampf wieder rentabel einzusetzen erlaubt, sowie an Material, das diesem Kapital seine produktive Anwendung gestattet.
Erstens ist die unter politische Herrschaften aufgeteilte Welt tatsächlich als Überwindung des Kolonialismus zu würdigen. Jene nach demokratischer Geschichtsschreibung letzte Phase des ‚Imperialismus‘ mit ihren Eroberungen ist durch das Eden des Völkerrechts abgelöst worden. Heutzutage pflegen sich Staaten durch ihre wechselseitige Anerkennung ihrer Brauchbarkeit zu versichern.
Zweitens kommt mit dem Recht einer jeden souveränen Nation auf die Herstellung ihr genehmer Außenwirtschaftsbeziehungen nicht nur der mehr oder minder gute Wille zum Zug, sich durch nützliche Angebote ans Ausland die Verfügung über kontinuierlich sprudelnde Quellen von Reichtum zu verschaffen, ohne den nirgends ein Staat zu machen ist. Vor dem Maßstab, den alle Staaten in gleicher Weise aneinander anlegen, machen sich auch die Unterschiede zwischen ihren ökonomischen Potenzen als handgreifliche Grundlage jenes Willens bemerkbar - die kolonialistische Erzeugung des Weltmarkts, zweihundert Jahre Welthandel sowie zwei ansehnliche Weltkriege haben da einiges bewirkt.
Die ‚internationale Abhängigkeit‘ spielt sich deshalb zwischen gleichen Nationen mit sehr verschiedener ‚Entwicklung‘ ab, und der Euphemismus der ‚Kooperation‘ ist nicht einmal im Falle der Beziehungen angebracht, die jene Nationen miteinander pflegen, die sich stolz ‚Industrieländer‘ nennen. Es kommt nämlich sehr darauf an, ob eine Nation ihre innere wie äußere Zirkulation dem Umgang einer anderen mit ihrem Nationalkredit unterwirft - also von jeder einschlägigen Entscheidung jenes befreundeten Staates in ihrer wirtschaftspolitischen Souveränität eingeschränkt wird -, oder ob sie über ein weltweit nachgefragtes, ‚hartes‘ Zahlungsmittel verfügt und die gelegentliche Inflation ihrer Währung noch als Waffe einzusetzen vermag. Es ist auch nicht unbedeutend, ob ein Land aufgrund seiner internen Branchenverteilung und/oder der Auslandskundschaft wie -konkurrenz der einheimischen Geschäftswelt Subventionen an die Industrie verabreicht, oder ob es staatliche Kredite für die ‚Sanierung‘ ganzer Zweige vergibt - in der Gewißheit, daß sich das rationalisierungsbereinigte Verhältnis von Kosten und Marktpreis der Waren allemal in sicheren Exportgewinnen niederschlägt. Ganz erheblich fallen auch die Freiheiten ins Gewicht, die sich eine Nation gegenüber ihrem Ausbeutungsmaterial in Sachen politische Ökonomisierung der Lohnkosten verschaffen konnte; die Größe schließlich des bereits akkumulierten anwendbaren Kapitals tut ebenfalls ihre Wirkung, wenn im internationalen Vergleich nicht nur Waren, sondern auch Investitionen angeboten und nachgefragt werden. So muß manche Nation konstatieren, daß ihre Bedürfnisse bezüglich der von ihr verwalteten Anlagesphäre den Tatbestand des dringlichen Bedarfs erfüllen, den sie sich einiges an Zugeständnissen kosten lassen muß - während andere in ihren Bedürfnissen die Freiheit gewahren, jedermann ihre lohnenden Geschäfte als Partnerschaft aufzudrängen.
Im Falle der ‚Entwicklungsländer‘ ist diese Art von Partnerschaft so geläufig, daß sie besten Gewissens unter dem Titel ‚Kapitalhilfe‘ abgewickelt wird. Und vom Standpunkt der politischen Führer jener kolonialgeschädigten und in die ‚Unabhängigkeit‘ geschossenen und entlassenen Staaten nimmt sich tatsächlich jede Investition, die aus ‚natürlichen‘ Reichtümern wirkliche und aus einem Teil der Bevölkerung Arbeitskräfte werden läßt, wie eine Hilfe aus. Zwar stellt der Einsatz von Kapital die Subsistenz der in Entwicklungsländern lebenden Menschen gründlich in Frage, dafür sichert er aber der Regierung ein Einkommen, das sie zur Bestreitung ihres Unterhalts im befreundeten Ausland ausgeben kann. Daß die Gelder für ein herrschaftliches Leben und den Gewaltapparat in vielen Fällen nicht reichen, also Kredite notwendig werden, die zu ansehnlichen Staatsschulden anwachsen, tut dem Geschäft keinen Abbruch. Dergleichen befördert den Bedarf an Kapital, das allein imstande ist, den ‚Aufbau‘ und die ‚Entwicklung‘ des armen Landes zu bewerkstelligen - und der ‚kaufmännische‘ Gesichtspunkt, der das viele Geld für verloren erklärt, blamiert sich an dem Maß, in dem sich die Subventionierung einer Herrschaft lohnt, die nichts anderes zu tun weiß, als mit ihrer Gewalt die ihr unterstellte Erde samt Volk der Anwendung durchs Kapital zu erschließen. Wo Nationen wie Brasilien die Gegebenheiten ihres Landes und das Interesse ausländischen Kapitals ausnützen, um eine produktive Industrie in Gang zu bringen - also nicht nur den Ausverkauf von Bodenschätzen zu ihrer Geschäftsgrundlage erheben-, erweist sich die staatlich inszenierte Dauerinflation sogar als vom internationalen Kapital vorzüglich kalkulierbarer brasilianischer Beitrag an den Investitionskosten. Auch in solchen Fällen verrichtet die weltweite Scheidung von verwendbarem, überschüssigem Reichtum und anwendbarem, für sich aber nicht geschäftsfähigem Material an Menschen und Natur ihr Werk. Auf den Willen der internationalen Geschäftswelt angewiesen, nach ihren Maßstäben den Gebrauch von brasilianischer Natur und Arbeitskraft für lohnende Gewerbe in Betracht zu ziehen, befleißigt sich die souveräne Republik nach Kräften, Land und Leute zu Mitteln dieser Kalkulation zu ‚entwickeln‘ - eine Methode, die noch jede Regierung über den Mangel an eigenen Mitteln hinweggetröstet hat. Der Nationalismus der Politiker kommt eben auch als abhängiger, mit konzessionierten ökonomischen Fortschritten, auf seine Kosten — eine Wahrheit, die selbst für ‚Bananenstaaten‘ gilt.
Noch mehr trifft dies auf die politische Ökonomie der reichen Entwicklungsländer zu, die ihren Titel gleich aus einem Naturstoff ableiten, den es bei ihnen gibt und der in den Industrieländern gebraucht wird. Die Ölstaaten sind als Anlagesphäre berühmter Firmen in den Besitz erheblicher Konten gelangt, weshalb im freien Westen die Lüge kursiert, sie wären Produzenten und Verkäufer jenes Stoffes und der Preis könne doch unmöglich hingenommen werden. Dabei zeugt die geldgeberische Manier, in der souveräne Scheichs ihre Petro-Dollars westlichen Aktiengesellschaften zur Verfügung stellen, sehr eindeutig von der speziellen ökonomischen Beschränktheit ihres Regierens. Zwar im Besitz von Geld, aber ohne ihnen offene Anlagemöglichkeiten, verwandeln sie ihren abstrakten Reichtum in Aktienkapital, was zwar ein Geschäft ist, aber ein sehr privates, welches die Wucht ihrer Staaten um keinen Deut verstärkt. In diesen Genuß gelangen sie höchstens auf einem ganz anderen Weg: in ihrer Rolle als Ölstaaten werden sie eines ganz dringlichen Schutzes für würdig befunden, sind also als militärische Partner des Westens gefragt. Und falls sie sich in dieser Hinsicht nicht zahlungs- und verteidigungswillig erweisen (was die meisten im eigenen Interesse tun), fällt ihre ökonomische Vorzugsstellung einer Spezialkampftruppe der USA zur Last, wenn sie nicht — wie die iranische Islamrepublik - die Überflüssigkeit ihrer Angebote und den kriegerischen Haß von Bruder-Ölstaaten demonstriert bekommen.
Drittens ist das Eden des Völkerrechts also auch nicht ganz frei von Gegensätzen. Die diplomatischen Umgangsformen mögen noch so sehr darauf abgestellt sein, die Gemeinsamkeit der diversen Partner zu unterstreichen und damit die prinzipielle Achtung von kontrahierenden Souveränen untereinander - im Inhalt der geschäftlichen Vereinbarungen wird gestritten. Immerhin will jeder Staat dem speziellen Interesse des anderen die Botschaft entnehmen, die andere Seite brauche ihn. Die Konditionen, unter denen der eine Souverän Arbeiter ausreisen läßt, der andere Kapital einreisen, die steuerlichen Bedingungen für das Wirken fremder Gelder usw. - eben alle Modalitäten des Geschäfts werden zum Anlaß kleiner und großer Erpressungsmanöver. Die Überzeugungskraft der ausgetauschten ‚Argumente‘ variiert - und das widerspricht nicht der Tatsache, daß die ‚Abhängigkeit‘ eine wechselseitige ist: Staaten, die sich nicht umeinander kümmern, hätten tatsächlich keinen Grund zu streiten - entsprechend den Voraussetzungen, die die Partner in die Gespräche mitbringen. Der Unterschied von Freiheit und Bedarf macht den Grad der Erpreßbarkeit aus, so daß sich manche Souveräne quasi Diktaten beugen müssen, die ihre gesamte Wirtschaftspolitik auf auswärtige Interessen verpflichten; dafür gibt es andererseits Industriemächte, die ihre Kapitalexportprogramme noch den meistbietenden Staaten zur Konkurrenz vorlegen.
Mit ihren Vereinbarungen schließlich legen sich die kontrahierenden Regierungen darauf fest, sich des gewünschten Vorteils durch pflichtgemäße Erfüllung zu versichern. Und da Vertragstreue bei eintretenden Verlusten einerseits eine Frage des Willens, andererseits eine Frage des Vermögens ist, bleiben ‚Störungen‘ selten aus. Sie zu korrigieren und durch zusätzlich angedrohte Schädigung oder Beistand abzustellen, fühlen sich wiederum die Staaten berufen, denen ihre ‚Abhängigkeit‘ ohnehin zu einer bequemen An der Einmischung gerät. Ihre Außenpolitik, die sich herzlich wenig um die einheimischen und auswärtigen Opfer kümmert, die ihre Durchsetzung fordert, rechnet ständig mit dem ‚Aufbegehren‘ des Souveräns, der in seinem Herrschaftsbereich durch gelungene Ausbeutung für das Gelingen des Geschäfts Sorge Wagen soll. Insofern lauert hinter allen Staatsaktionen dieser Welt - durch Kriege in Staaten aufgeteilt, die nun den Kapitalmarkt gestalten - die Gewalt.
Viertens gibt es auf dem Weltmarkt viel zu verteidigen - und zwar um so mehr, je durchschlagender der Erfolg einer Nation, ihre Interessen im Ausland zu verankern, ausgefallen ist. Eroberungen stehen nicht mehr an, dafür aber die weltweite ‚Sicherung unserer Rechte‘ - zumindest für die Staaten, die so viel ‚Einfluß‘ besitzen, daß kaum eine Nation sich eine Alternative herausnehmen kann, ohne daß sie betroffen sind.
3. Mit dem angelsächsisch-sowjetischen Sieg über Deutschland und Japan ist über Botmäßigkeit und Dienstbarkeit der Souveräne auf dem ganzen Globus militärisch und daher politisch zugunsten der USA entschieden worden - mit der einen entscheidenden Ausnahme des ‚sozialistischen Lagers‘ und einer daher rührenden Unsicherheit der prinzipiell gültigen ‚Weltanschauung‘. Und als einzige Macht auf der Welt verfügten die USA auch über die ökonomischen Mittel, um die weltweiten Machtverhältnisse zu einem ebenso umfassenden System lohnender Benutzung der Welt auszubauen. Alle ehemals konkurrierenden kapitalistischen Nationalökonomien waren ruiniert: der verlorene Weltkrieg im Falle der Gegner, aber auch der schließliche Sieg der europäischen Alliierten der USA hatten die Zahlungsfähigkeit der einen wie der anderen überstrapaziert, dabei den akkumulationsfähigen Reichtum der Nationen dezimiert, somit Währung wie Produktionsapparat für die Restauration eines konkurrenzfähigen nationalen Geschäftslebens einigermaßen untauglich gemacht. Umgekehrt hatten die USA noch ihre Kriegsökonomie ‚marktwirtschaftlich‘ abgewickelt: als Geschäft, das mit einem Anteil vom Überschuß des nationalen Geschäftslebens bestritten wurde und daher den Staatskredit nicht in Mitleidenschaft zog, in dem es sich bezahlt machte; überdies ohne Einbußen an nationaler Produktionskapazität. Eine schlagkräftigere Garantie für ein nationales Kreditgeld und somit für das darüber bewerkstelligte Geschäftemachen mit Eigentum als die Gewähr der US-Regierung für Dollarguthaben war nirgends auf der Welt zu kriegen; und keine Regierung auf der Welt hatte eine auch nur annähernd so erfolgreiche nationale Geschäftstätigkeit vorzuweisen wie die der USA. Als einzige kapitalistische ‚Volkswirtschaft‘ hatte die amerikanische Nationalökonomie nach Kriegsende keine Notsituation zu bewältigen, sondern besaß ([^Freiheit, sich den Mangel an potenten Handels- und Geschäftspartnern, das Verhältnis zwischen eigenem nationalem Überschuß und Mangel an akkumulationsfähigem Reichtum auswärts, zum ‚Problem‘ und Anliegen zu machen. Dieses freie Interesse der US-Wirtschaft und ihrer politischen Manager am kriegszerstörten Rest der Welt bedeutete nie, daß es dieser Ökonomie an billigen fremdländischen Lieferanten und ihren Exporteuren an zahlungskräftiger Kundschaft mangelte. In diesem Sinne ist der Kapitalismus der USA nie auf Handelspartner angewiesen gewesen. Das nationale Kapital findet im eigenen Land alles Nötige für seine schrankenlose Expansion - seit erst einmal der in der Phase der ‚ursprünglichen Akkumulation‘ in der ‚Neuen Welt‘ fühlbare Mangel an so gut wie umsonst vernutzbarer Arbeitskraft durch Sklavenimporte behoben war! -; und es hat diese Voraussetzung seit jeher dazu genutzt, seine Akkumulation so konkurrenzlos zu gestalten. Auch nach dem Krieg waren und wußten die USA sich frei vom Zwang zum Konkurrenzerfolg im Außenhandel; und wo sie darauf Wert legten, waren sie sich dieses Erfolges dank der schlagkräftigen Größe, der Produktivität und der technologischen Konkurrenzlosigkeit ihres Kapitals allemal sicher - eine Freiheit und Sicherheit, an denen sich bis heute nichts wirklich Entscheidendes geändert hat: ein Kapital, das auf Außenhandelserfolge nicht angewiesen ist, bringt schon damit di‘ beste Voraussetzung dafür mit. Auf dieser Grundlage haben die USA angesichts der Kriegsfolgen den Beschluß gefaßt, ihre ehemaligen Feinde und Partner für ökonomisch zu schwächlich zu befinden, um der eigenen Ökonomie gehörig von Nutzen zu sein, und auf Abhilfe gesonnen.
Ihren Staats- und Fachleuten war dabei offenkundig eine Wahrheit praktisch geläufig, mit der man sich im Reich der volkswirtschaftlichen Bildung damals wie heute nur blamieren kann: für die Neuinszenierung einer kapitalistischen Nationalökonomie kommt es auf nichts so sehr an wie auf ein wohlfunktionierendes Kreditgeld. Reste von produktiv einsetzbarem Reichtum einschließlich einer ‚Infrastruktur‘, wie der Krieg sie in allen einst konkurrenzfähigen europäischen Ländern noch übriggelassen hatte; brauchbare Völker, die im Krieg nicht zu Revolutionären geworden waren, sondern sich so oder so an nationalistischen Gehorsam gewöhnt hatten und bereit waren, im Vergleich zum Kriegselend eine geordnete Ausbeutung als Glück zu betrachten; eine Trümmerwüste, die von ihren Bewohnern als Herausforderung an ihren Fleiß und Familiensinn genommen wurde: das alles reicht zwar nicht hin, um privates Eigentum in großem Stil geschäftlich agieren und akkumulieren zu lassen; es ist aber durchaus keine schlechte Voraussetzung dafür. Es bedarf nur mehr einer schlagkräftigen Garantie, daß Eigentum und benutzbare Armut auch erhalten bleiben; es braucht privates Eigentum in hinreichender Masse, um Menschen und Material auch wirklich nutzbringend zusammenwirken zu lassen; und es ist jenes Geschäftsmittel vonnöten, in dem das engagierte Eigentum sein Wachstum als obersten, in aller Abstraktheit maßgeblichen Zweck des Ganzen realisiert und mißt: eben ein verläßliches Geld.
In allen drei ‚Fragen‘ haben die USA ohne Zögern weltweit die ‚Verantwortung‘ übernommen - daß es ihnen im ‚Ostblock‘ verwehrt blieb, war und ist nicht ihre Schuld: sie tun auch da ihr Möglichstes. Die Rettung, Stützung oder auch Einrichtung souveräner Regierungen, denen die Unantastbarkeit des Privateigentums genauso selbstverständlich war wie der Grundsatz, daß das Volk sich nützlich zu machen hat und seine Armut das befördert, war den USA buchstäblich eine Ehrensache, die sie mit der berühmten Truman-Doktrin zu ihrer nationalen Pflicht erklärten. Wo ihre zunächst noch kolonialistisch operierenden Hauptverbündeten mit ihren Nachkriegsordnungsprogrammen nicht zum Ziel kamen - wie in Griechenland, der Türkei, Persien, in Hinterindien usw. -, da ließen sie sich diese Aufgabe einiges an Militärhilfe kosten; die ganz neu eingerichtete BRD, ‚Frontstaat‘ in jeder Hinsicht, gedieh zum weltpolitischen Schlager ersten Ranges.
Den politisch im rechten Sinne stabilisierten Gemeinwesen finanzierten die USA zweitens eine intakte Währung: mit Milliardenkrediten stellten sie die ‚Glaubwürdigkeit‘ von Pfund und Franc wieder her; mit deutlich weniger Milliarden ermöglichten sie der ‚Bank deutscher Länder‘ ihre Ausgabe einer Deutschen Mark, in der Geschäfte zu machen sich lohnen mußte. Die Kosten dieses Beistandsunternehmens waren nicht so arg hoch. Es war ja kein gegenständlicher Reichtum, der da als Währungskredit über den Atlantik floß, schon gar kein Gold: Es waren Schulden, amerikanische Zahlungsversprechen, die im Sinne der fiktiven Dollar-Gold-Parität, schon vor Kriegsende in dem amerikanischen Provinznest Bretton Woods zwischen den Managern des weitsichtig vorausgeplanten internationalen Nachkriegsgeschäfts vereinbart, wie Gold, eben als Weltgeld behandelt wurden. Denn es gab ja keinen kapitalistischen Staat, der die Mittel gehabt hätte, diese amerikanische Gleichung in Zweifel zu ziehen; umgekehrt besaßen die USA unwiderstehliche ‚Argumente‘ dafür: ihre funktionierende nationale Kapitalakkumulation und ihr Fort Knox, in dem sich die wirklich goldenen Währungsreserven aller früheren Konkurrenten dank des großen Krieges versammelt hatten. Ein wohlfeiler Kredit also, der nie zurückgezahlt, nie verzinst wurde - und sich um so mehr gelohnt hat.
Denn eins war mit der großzügigen Überlassung eigener ‚harter‘ Währung an kaum mehr oder noch nicht wieder geschäftsfähige Verbündete im Rahmen des European Recovery Program ja entschieden: Die dadurch restaurierte nationale Geldzirkulation der europäischen Partner konnte nur dadurch zu einem Erfolg werden, daß geschäftstüchtige Kapitale sie zu ihrem Geschäfts mittel machten; und dieser Aufgabe stellte die amerikanische Geschäftswelt sich ohne jeden Anflug von Selbstlosigkeit. Sie nahm sich der zukunftsreichsten Branchen der wiederaufgebauten ‚Volkswirtschaften‘ an und ließ so ihren eigenen geschäfteheckenden Überschuß sich in Europa als Geschäftspartner gegenübertreten. Die Zahlungsfähigkeit der alten Nationen wurde zu guten Teilen als eine Abteilung im konzerninternen Verrechnungswesen amerikanischer Kapitale wiederhergestellt - was keineswegs immer so unverschämt auszusehen braucht wie der Geschäftsverkehr westdeutscher Mineralölfirmen mit ihren Konzernmüttern im Heimatland des Ölgeschäfts.
4. Der Beschluß der USA, ihre Macht und ihr Geld zur Neuordnung der Welt zu verwenden, hat bei aller Kalkulation von Vorteilen für die Weltmacht Nr. i mit kolonialistischen Bestrebungen nichts zu schaffen. Und dies nicht so sehr wegen der Großzügigkeit, lauter souveräne Staaten mit ‚eigenen‘ Repräsentanten, Flagge und Hymne ins Leben zu rufen bzw. zuzulassen (die Kriege um die Erhaltung der verbliebenen Kolonialgebiete durften die alten Reiche selbst führen, und das Augenmerk der USA galt dabei der für sie allein bedeutenden Frage, ob die Entkolonialisierung in die Entstehung ‚östlicher Satelliten‘ mündete); vielmehr wegen des ‚Auftrags‘ an die Souveräne in allen Breiten, ihre politische Herrschaft zur Teilnahme an der 'Weltwirtschaft einzusetzen.
Dem Supra-Nationalismus der NATO stellte die Führungsmacht des freien Westens den Imperativ zur Seite, daß die von ihresgleichen höchstförmlich respektierten Nationen in ihrer wechselseitigen Benutzung, in ihren außenwirtschaftlichen Beziehungen auf die Praktiken der Konkurrenz verzichten, welche eine Kontinuität des Welthandels in Frage stellen. Vertraut mit der Tatsache, daß die Anwälte des nationalen Wachstums je nach Erfolg im grenzüberschreitenden Verkehr von Waren und Geld, Arbeitskräften und Investitionen zu Maßnahmen greifen, die das Wachstum im Ausland stören, sind die Manager der Nachkriegswelt auf das Kunstwerk einer Weltwirtschaftsordnung verfallen. Diese ‚Ordnung‘ zielt auf die Sicherstellung des Anliegens, das kapitalistische Staaten dazu drängt, jedes fremde Hoheitsgebiet daraufhin zu inspizieren, was es an Reichtumsquellen aufweist: ihre Urheber ergriffen nicht nur Partei für die Internationalisierung des Kapitals, für die Freiheit, jede lohnende Kombination von ‚Produktionsfaktoren‘ in Anspruch zu nehmen; sie waren sich auch im klaren darüber, daß die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen, die staatlichen Maßstäbe des ökonomischen Erfolgs, diese Freiheit stets auch relativieren.
Bei seinen Anstrengungen, von der internationalen Konkurrenz des Kapitals zu profitieren, ist es nämlich einem Staat nicht gleichgültig, ob das erzielte Wachstum die Mittel seiner Macht erweitert oder die eines ‚Partners‘. Was er sich aufgrund erfolgter Geschäfte leisten kann, interessiert ihn, wenn er die Resultate von Waren-, Geld- und Kapitalströmen bilanziert und überprüft, ob seine Verfügung über Geld wächst oder nicht. Dabei kommt es ihm freilich nur bedingt auf das unmittelbare Plus und Minus auf den Konten seiner Nationalbank an; schließlich handelt es sich bei den Geldsummen, die da zu verzeichnen sind, um Kreditzeichen, deren Kaufkraft und Tauglichkeit auf dem Weltmarkt davon abhängt, was die Nationen mit dem von ihnen geschaffenen und garantierten Kredit anstellen. Insofern ist nicht jede nominelle Aufbesserung einer Bilanz auch automatisch ein Beleg für einen Zuwachs an Zahlungsfähigkeit; ganz gleich, ob sich die Mittel einer Nationalbank aus Gold und Kreditzetteln des eigenen Staats oder auch noch aus Währungsreserven anderer Herren Länder zusammensetzen - was sie wert sind, ergibt sich erst aus dem Vergleich ihres Austauschverhältnisses untereinander. Ob sich Import oder Export von Waren und Kapital lohnen, stellt sich nur durch kundige Berechnung der Devisenkurse heraus und gebietet den bankgeschäftlichen und staatlichen Einfluß auf sie, mit dem Ziel, über möglichst viele Zettel der Art zu verfügen, die auf dem internationalen Markt der Geschäftsmittel viel Kaufkraft und sichere Anlagen darstellen. Und nur Nationen, denen die Beteiligung am Weltmarkt diesem Erfolg verhilft, bei denen also auch die Vermehrung der als Geld fungierenden Staatsschulden - die berüchtigte Inflation - der Vermehrung internationaler Zahlungsfähigkeit keinen Abbruch tut, bleiben Nutznießer und Parteigänger des Weltmarkts. Wo sich dieser Erfolg nicht einstellt, werden Staaten zu Kritikern der weltweiten Konkurrenz: sei es, daß sie nicht mehr willens sind, zu den bestehenden Konditionen in Währungsdingen ihren auswärtigen Handel fortzuführen, und Zuflucht zum Recht ihrer hoheitlichen Befugnisse nehmen, um Korrekturen an Wechselkursen, auswärtiger Freiheit des Handels und Anlegens bei sich durchzuführen; sei es, daß sie über die gelaufenen Geschäfte nicht mehr fähig sind, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, und sich außer mit Schulden und Zinstilgungsforderungen mit der Perspektive konfrontiert sehen, daß sämtliche lohnenden Geschäfte in ihrem Machtbereich - und die von kapitalkräftigen Untertanen auswärts dazu - nicht ihnen, sondern fremden Souveränen ihre ökonomischen Machtmittel vermehren.
Die einschlägigen Verlaufsformen des Entzugs von Nationen aus einmal eingegangenen ‚Abhängigkeiten‘, welche andere Staaten in ihrem Interesse beanspruchen, sind Gegenstand der weltwirtschaftlichen Regelungen, die im Namen eines dauerhaften Wachstums ‚des‘ Welthandels mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschlossen wurden. Und zwar so, daß unter offenkundiger Anleitung der USA und unter Berufung auf die ‚schlechten Erfahrungen‘ der Weltwirtschaftskrise international gültige Gebote vereinbart wurden, die jede Auslösung von Stockungen auf dem Weltmarkt unterbinden sollen, die aus ‚nationalem Egoismus‘ erzeugt • werden. Daß der Internationale Währungsfonds (IWF) der Form t nach ein Bündnis darstellt, obgleich die von seinen Mitgliedern eingegangenen Verpflichtungen den Verzicht auf manches Moment ihrer wirtschaftspolitischen Souveränität darstellen, hat den -, bereits erwähnten - einfachen Grund. Der Unterwerfung ihrer nationalen Währungspolitik unter supranationale Kriterien stimmen Staatenlenker eben dann zu, wenn sie über das Mittel eines tauglichen Nationalkredits nicht verfügen und auf die Konzession dessen angewiesen sind. Der Verwirklichung des Ideals einer einvernehmlichen Regelung von Zahlungsbilanzdefiziten und einer Ausstattung der Welt mit ‚Liquidität‘ verschreiben sie sich, weil sie demnächst einmal mit dem Problem konfrontiert sind, über eine zum weltweiten ‚Wirtschaften‘ erforderliche Währungsreserve nicht zu verfügen. Solchen Souveränen gegenüber konnten die USA ‚überzeugend‘ auftreten: immerhin verschaffte denen die Verpflichtung, künftig an der Kreditierung zahlungsunfähiger Nationen mitzuwirken und in der Regelung ihres außenwirtschaftlichen Zahlungsverkehrs ‚kooperativ‘ zu verfahren, den Einstieg in den Weltmarkt.
Unter dem Titel ‚Bereitstellung von Währungsreserven‘ wurde mit der Gründung des IWF das ‚Liquiditätsproblem‘ - die vorhandene und mit Gewißheit eintretende Zahlungsunfähigkeit von Nationen - wie eine bloß technische Schranke behandelt. Freilich war von Anfang an nicht zu übersehen, daß die kollektive Schaffung von Zahlungsfähigkeit für Fälle, wo sie gerade nicht vorhanden ist, einen ökonomischen Standpunkt exekutiert, der gewisser Härten nicht entbehrt. Entgegen dem Konkurrenzinteresse, das sich bei Nationen einstellt, die auf dem Weltmarkt verlieren und von sich aus zu ‚Interventionen‘ schreiten würden, ist da die allgemein verbindliche Verpflichtung eröffnet worden, sich weiterhin der - nachteiligen - Konkurrenz zu stellen. Das Programm heißt ‚Wachstum durch Weltmarkt‘ absolut: es soll weitergekauft werden, auch wenn es mancher Nation Abzug von ihrem Reichtum beschert; weiterverkauft auch dann, wenn der Export den Nationalkredit ruiniert; und Kapitalanlagen aller Art sollen fortgeführt werden, obgleich sie die Phrase vom ‚wechselseitigen Nutzen‘ zwischen den Ländern Lügen strafen. Und für dieses Programm bildet das Konstrukt namens IWF die verläßliche Handhabe, einen internationalen Kreditüberbau, der den Zuwachs an national verfügbarem und international anwendbarem Geld auf der einen Seite, seine Verminderung auf der anderen nicht nur korrekt bilanziert. Wenn Nationen dem IWF gemäß dem vereinbarten Quotensystem kaufkräftige Teile ihrer Konten ‚zur Verfügung stellen‘, werden sie nämlich nicht ärmer - das bleibt den anderen vorbehalten, die Kredite in Anspruch nehmen müssen und in den respektablen Summen ihrer Auslandsschulden - den ‚normalen‘ wie den zusätzlichen im Verhältnis zum Fonds eingegangenen - nur eines verbuchen: daß ihr Import wie Export, von Waren und Kapital, zur Vermehrung auswärtigen Reichtums beigetragen hat. In ihren monströsen Inflationsraten dokumentieren diese Länder, daß ihr Kreditgeld auf dem Weltmarkt nichts taugt, weder nachgefragt wird noch der Nachfrage fähig ist, daß sie sich weder Kredit schaffen noch über ihn frei verfügen. In den bisweilen auch einmal öffentlich addierten Auslandsschulden der an der ‚Weltwirtschaft‘ beteiligten Staaten saldieren sich Kredite, an deren Rückzahlung niemand denkt - sie sind ja durch die förmliche Absicherung des IWF, durch die Verdopplung nationaler Kreditguthaben (in sich und eine zusätzliche ‚internationale Verfügbarkeit) erst entstanden, weil bleibende Zahlungsunfähigkeit unterstellt war. Und da der Bedarf an Kredit für fehlenden Kredit die ‚Fazilitäten‘ des Fonds ständig überstieg, ist es nicht bei mehrmaligen Quotenerhöhungen geblieben; mit der Schaffung von Reserven für fehlende Reserven, dem Beschluß zur Einführung von Sonderziehungsrechten (SZR), haben die maßgeblichen Mitglieder des Weltwährungsvereins eine weitere ‚Technik‘ ersonnen, die garantiert, daß der Kredit ihrer Nationen das Zugriffsmittel und Recht auf auswärtigen Reichtum bleibt.
Dieses Ergebnis der Konvertibilität aller dem IWF angeschlossenen Währungen, des Gebots, sich durch Verschuldung auch dann als Partner auf dem Weltmarkt zu betätigen, wenn die Partnerschaft nur darin besteht, die souverän verwaltete ‚eigene‘ Ökonomie dem Zugriff für weltweit brauchbaren Nationalkredit zu öffnen, ist der Zweck des IWF. Mit seiner Gründung wurde der bedingungslose Konkurrenzkampf zwischen den Nationen festgeschrieben - mit einer Bedingung eben: die Aufkündigung der Geschäftsgepflogenheiten aus Gründen des nationalen Mißerfolgs ist nicht genehmigt. Korrekturen an der Hierarchie zwischen den Nationen, die über eine ‚Sicherung‘ des Nationalkredits und damit über eine ‚Störung‘ des internationalen Geschäfts erfolgen, haben hinter der ‚gemeinschaftlichen‘ Sorge um die ‚Weltwirtschaft‘ zurückzustehen. Und nicht einmal die Staaten, die sich in den Jahrzehnten beflissenen Ausbaus des internationalen Kreditsystems selbst zu Machern der Weltwirtschaft entwickelt haben - die Rede ist von ‚Europa‘ und Japan -, wollen und können sich für die ‚alte‘ Form der Konkurrenz entscheiden: mehr als die innerhalb des GATT zugelassenen Techniken im Umgang mit Zöllen und Kontingentierung wollen sie nicht in Anspruch nehmen. Auch sie haben gute Gründe, ihre Ansprüche als politischen Streit um den Beitrag zu und den Nutzen von der ‚Weltwirtschaftsordnung‘, der sie sich verpflichtet wissen, auszutragen und das Beste aus der ‚Leistungskraft‘ ihrer heimischen Produktion zu machen. Gute Gründe, die aus der Schaffung jener Ordnung herrühren.
Schließlich wurde die weltweite Sorge um die ‚optimale Versorgung‘ mit ‚Liquidität‘, die fehlte, mit der Ernennung des Dollars zum ersten weltweit gültigen Geschäftsmittel eingeleitet. Unabhängig vom säuberlich verzeichneten ‚Zahlungsbilanzdefizit‘, das sich die USA über die Jahre, in denen sie die ‚Leitwährung‘ von der internationalen Geschäftswelt anwenden ließen, leisteten, stand die weltweite Funktionstüchtigkeit des Dollars als verbindlicher Wertträger jenseits aller Diskussion. Er garantierte ja auch die Gültigkeit der Währungen, die sich zunehmender ‚Härte‘ erfreuten, also selbst dauerhafte Geschäfte gewährleisteten, die ihnen den Ruf und die Qualität einbrachten, ebenfalls als ‚Reservewährung‘ zu taugen. Den Dollar anzuzweifeln, hieße für jeden damit ausgestatteten Souverän, den Hauptposten unter den Aktiva seiner Notenbank zu streichen und damit das eigene gesetzliche Zahlungsmittel, wie glänzend es sich auch immer auf Basis des Dollars als weltweit gern besessene Devise bewährt hat, für jedes über den nationalen Rahmen hinaus kalkulierte, und das heißt für jedes seriöse kapitalistische Geschäft untauglich zu machen und der Weltwirtschaft den Rücken zu kehren. Klar ist damit aber auch, daß die ‚Wertbestimmung‘ dieser Währung erst einmal den Gesetzen des Wechselkurses entzogen war. Ein- und Verkauf im Ausland sind ja bloß noch eine Unterabteilung der auswärtigen Geschäfte, in denen es auf den Dollar ankommt und ein Verhältnis zwischen Nachfrage und Angebot entsteht, das seinen ‚relativen Wert‘ beeinflussen kann. Seine viel wesentlichere Funktion ist die als Mittel der Kreditierung anderer Notenbanken sowie des Exports amerikanischen Kapitals. Hier treten aber überhaupt nicht mehr Angebot und Nachfrage als aus der internationalen Warenzirkulation erwachsende Größen einander gegenüber. US-Regierung und amerikanisches Kapital befinden ganz allein darüber, in welchem Umfang sie ihre Dollars im Ausland fungieren lassen wollen. Und damit ist auch die Festsetzung des Kurses, zu dem fremde Währungen sich am Dollar bemessen, eine durchaus einseitige Angelegenheit. Von amerikanischer Seite wurde eine Parität bestimmt — nichts beweist die Freiheit der Kursfestsetzung schlagender als deren rein fiktiver Bezug aufs Gold! -, und zwar im Hinblick auf die Geschäfte, die dadurch ihren Maßstab erhalten sollten: der wohlfeile Einkauf in eine auf fremde Währungen lautende Kapitalakkumulation in erster Linie, billiger Import und ein auswärtiger Konkurrenz weithin enthobener Export in zweiter und dritter.
Vom Standpunkt einer ‚optimalen‘ Versorgung der internationalen Geschäftswelt mit den benötigten ‚liquiden Mitteln‘ hat das alles nie gepaßt, weder Quantum noch Kurswert der weltweit verfügbaren Dollars. Gemessen an den Kreditwünschen der Partner, also an den Ansprüchen der verbündeten Regierungen an ihren wiederhergestellten Nationalkredit und an den Geschäftsvorhaben ihrer Wirtschaftsaktivisten, waren die grünen Zettel jahrzehntelang zu knapp und zu teuer - ein einziger praktischer Beweis, daß dafür ihr Export auch gar nicht veranstaltet worden war. Die Ausstattung der Welt mit Dollars war eine Sache der Rücksichtslosigkeit, mit der die amerikanische Geschäftswelt ihr Kreditgeld in Kapital verwandelte, wo immer sich das lohnte. Und dabei blieb es, als dank solcher Rücksichtslosigkeit die einst begehrte Währung sich in auswärtigen Banken häufte und die Dollarklemme der Nachkriegszeit längst in eine zunehmende Dollarschwemme übergegangen war. Wieder blamierte sich, diesmal umgekehrt an der Gelassenheit der USA dem wachsenden Defizit ihrer Zahlungsbilanz gegenüber, der egoistische Idealismus der europäischen Partner, die von den USA mehr Verantwortung für die hohe Aufgabe verlangten, die Weltwirtschaft immer in passender Proportion und zu passenden Kursen mit international zirkulationsfähigen Finanzmitteln zu versorgen. Das Quantum der zirkulierenden Dollars blieb, was es gewesen war: eine höchst einseitige Angelegenheit des amerikanischen Geschäftsbedürfnisses. Und daß mit ihrer anschwellenden Masse - Folge insbesondere der Skrupellosigkeit, mit der die US-Regierung ihren Nationalkredit für ihre kriegerischen Unternehmungen in Indochina strapazierte - erstmals ein ins Gewicht fallendes Interesse aufkam, sich der süßen Billette auch wieder mal zu entledigen, und dies ihren Wechselkurs im Vergleich zur Mark und anderen Schillingen sinken ließ, erklärten die amerikanischen ‚Währungshüter‘ mit derselben Gelassenheit und Einseitigkeit zum Problem der Besitzer aufgewerteter Währungen, mit der sie einst die Tauschrelation 1 :4 zwischen Dollar und D-Mark festgesetzt hatten. Und das ganz zu Recht. Denn verlieren kann der Dollar seine Funktion als Weltgeld ohnehin nicht mehr, aus bereits genanntem Grund. Ein Sinken seines Außenwerts beeinträchtigt daher nicht im geringsten die amerikanische Zahlungsfähigkeit - höchstens die der amerikanischen Touristen; aber für die ist der Dollar sowieso genausowenig erfunden worden wie die ‚harte Mark‘ für die deutschen! -, wohl aber, ausgerechnet, die ihrer einst kreditierten Schuldner, die den Hauptposten ihres nationalen Schatzes, der leibhaftigen Seriosität ihres Nationalkredits, in Dollarbeständen halten. Deren Sache ist es daher, durch Aufkauf der Dollars, die auf dem freien Devisenmarkt den Wert ihrer Währung nach oben treiben, den Wert ihrer ‚Reservewährung‘ und damit die Finanzbasis ihrer eigenen nationalen Zirkulation zu ‚verteidigen‘ und, soweit sie es für nötig halten, die Schädigung ihres Exportgeschäfts abzuwenden. Ein schönes Paradox: ständige und sogar wachsende Zahlungsbilanzdefizite sind kein Argument gegen USA und Dollar, sondern gegen alle anderen; die Abhängigkeit der D-Mark, des Franc, des Pfund usw. vom Dollar, der die weltweite Tauglichkeit dieser Kreditzeichen als seriöses Zahlungsmittel garantiert, macht bisweilen die Ausweitung, Verausgabung und gezielte Entwertung des deutschen, französischen, britischen usw. Nationalkredits erforderlich, damit der Dollar als Grundlage der darin abgewickelten Geschäfte seinen Wert nach Möglichkeit behält. Sache der Partnerländer war und blieb es auch, sich auf internationalen Währungskonferenzen - die schönste und längste ausgerechnet im sozialistischen Belgrad - unter wohlwollendem Desinteresse der USA den Kopf über Möglichkeiten zu zerbrechen, wie der Dollar als Weltgeld zu ersetzen und die fröhlich auf eine Billion zumarschierende ‚freie Liquidität‘ am Eurodollarmarkt wirksam ‚abzuschöpfen‘ oder ‚einzudämmen‘ sei. Komischerweise fiel ihnen nichts ein, was auf mehr als auf eine Umtaufung einiger Dollarmilliarden hinausgelaufen wäre. Es blieb dabei, daß die Partner der USA, und zwar um so mehr, je stärker sie sich zu partiellen Konkurrenten ihrer Führungsmacht aufgeschwungen haben, mit ihren Stützungskäufen die Folgen der skrupellosen Ausnutzung des amerikanischen Nationalkredits und seiner weltweiten Unanfechtbarkeit durch seine Macher: die Entwertung des Dollar, buchstäblich auf ihre Dollarkonten nehmen, den Kredit ihres alten Gläubigers, von dem nicht loszukommen war und ist, ihrerseits kreditieren - und sich so erst recht und noch enger an ihn binden. Auch eine Art, die Währungskredite von einst zu verzinsen und einmal mehr europäischen Dank für die großzügige Wiederaufbauhilfe nach dem Krieg abzustatten...
5. Die Lektion ist eigentlich sehr eindeutig: Seit die USA ihren weltwirtschaftlichen Standpunkt der Währungskredite und des Kapitalexports gegen ihre zahlungsunfähigen Konkurrenten durchgesetzt und sie auf dieser Grundlage als bedingte Konkurrenten wiederhergestellt haben, sind die Zeiten einer Weltwirtschaftskrise vorüber, in der der Zusammenbrach des amerikanischen Kreditgeschäfts sich ausgerechnet dadurch auf alle konkurrierenden Partnerländer ausweitete, daß die amerikanischen Banken von ihren auswärtigen Schuldnern bare Zahlung verlangten, um im Inland ihre Zahlungsfähigkeit zu retten. Das amerikanische Kreditgeld und die darin abgewickelten Geschäfte können nicht mehr generell kaputtgehen, ohne daß vorher alle anderen Nationalökonomien mit ihrer Währung aufgeflogen sind; selbst die Schädigung der Akkumulation amerikanischen Kapitals und die Entwertung des Kreditgelds, in dem es sich realisiert, schlägt zuerst auf die Zirkulation der Partnerländer durch, ehe sie das Kapital und den Kredit der USA ernsthaft beeinträchtigt. Der praktische Vergleich zwischen ‚Leitwährung‘ und kreditierten, ‚geleiteten‘ Währungen ist und bleibt eben unter allen Umständen eine sehr einseitige Sache. Deswegen hätte es auch niemanden zu wundern brauchen, daß nach einer Phase der Dollarabwertung auch mal wieder der entgegengesetzte Trend fällig geworden ist: Die Verteilung von Nutzen und Schaden aus der ‚weltweiten Inflation‘ ist für die Geldbesitzer in aller Welt eben eine hinreichend deutliche Erinnerung daran, wo das Geschäft mit der Inflation immer noch das sicherste ist. Und wer es an den nationalen Unterschieden bei der Abwicklung der letzten ökonomischen Krisen nicht gemerkt haben sollte, der hatte und hat schließlich genügend Gelegenheit, sich daran erinnern zu lassen, daß die Sicherung der ‚Freiheit der Person‘, jener schönen Metapher für die Scheidung zwischen nützlicher Armut und privatem Eigentum, ein Kriegsgrund ist, dessen Konjunkturen mit der Sicherheit des Geschäftemachens auch einiges, und zwar national unterschiedlich viel, zu tun haben. Wie in den siebziger Jahren das Zahlungsbilanzdefizit, so läßt in den Achtzigern der hohe Zinssatz der USA deren Macher kalt und macht dafür den regierenden Kollegen Sorgen, die sich dann über ‚vagabundierende Dollarmilliarden‘ beschweren: nun werden sie mit dem Kapitalabfluß in die USA und den dadurch zusätzlich hochgetriebenen nationalen Zinssätzen umgekehrt darüber aufgeklärt, daß das Mutterland der pax americana eben nach wie vor die Konditionen für die unter deren Schutz abgewickelten Geschäfte setzt, und zwar auch mit Maßnahmen, die anderen Nationen als Störung der ‚Prinzipien des Freihandels‘ verwehrt sind.
Den Ärger über solche Klarstellungen und das gepflegte Selbstmitleid der betroffenen Souveräne sollte ein normaler Mensch allerdings der Idiotie des Patriotismus überlassen. Denn erstens blamiert die Vorstellung geknechteter westeuropäischer Nationen sich vor der Berechnung der amtierenden Führer dieser Staaten, denen seit jeher an einer möglichst effektiven und rentablen Benutzung von Land und Leuten für kapitalistische Reichtumsproduktion mehr gelegen ist als daran, daß sie die alleinigen Verantwortlichen und die Benutzung des Volkes das Werk ihrer eigenen Bürger bleiben. Zweitens macht es für das Volk, wenn es sich denn schon für den Erfolg kapitalistischer Geschäfte, also eines für den ‚kleinen Mann‘ weder gedachten noch gemachten Reichtums benützen läßt, keinen so prinzipiellen materiellen Unterschied, ob er den Erfolg oder die Krise dieses Geschäfts auszubaden hat. Ein prinzipieller Unterschied ist das einzig und allein für seine souveränen nationalen Führer; und die haben (siehe erstens) über allem Gejammer, daß die Vorteile des Dollar so schreckliche Nachteile für ihre wirtschaftspolitische Souveränität mitbrächten, nie die Wahrheit ihrer USA-Hörigkeit vergessen: daß alle Nachteile des Dollars ihnen den unschätzbaren Vorteil gebracht haben, ein Land mit funktionierender Ausbeutung und entsprechend großer und wohlfundierter Macht, die auch international zählt, zu regieren. Ein Land, das sich unter den Geboten des IWF und des GATT, der anderen Charta des Freihandels für alle, die ihn zu nutzen wissen, glänzend bewährt. Daß die europäischen Mächte ‚bloß‘ die Mit-macher des weltwirtschaftlichen Standpunkts der USA sind, nimmt nicht das Geringste davon weg, daß sie die Mitmacher sind, die ihre restaurierten ökonomischen und politischen Potenzen längst ihrerseits per Kapitalexport und Währungskredit aneinander und am Rest der Welt praktizieren.
6. Vom Standpunkt der Weltwirtschaft, so wie die USA ihn per Dollar, IWF, GATT und einem halben Dutzend erstklassiger ‚Freunde‘ etabliert haben, ergeben sich nämlich für alle Nationen, die über genügend überschüssiges Kapital verfügen, ganz neue Möglichkeiten: erstens einander zu benutzen - ‚Europa‘ ist das Exerzierfeld dieser neuen Sorte Konkurrenz und wird in Abschnitt 4 dieses Kapitels gebührend gewürdigt; zweitens auch solche Länder zu benutzen, die für eine funktionierende innere Zirkulation und eine darüber bewerkstelligte Kapitalakkumulation weder die hinreichenden Voraussetzungen mitbringen noch dafür vorgesehen sind. Denn selbst wenn ein Staat es aus eigenen Mitteln nicht mehr oder gar nicht erst zu irgendwelchen exportierbaren Früchten bringt: so armselig ist kaum ein Land, daß ein hinreichend großes Kapital mit seiner Bevölkerung und seiner Naturausstattung - und sei es nur die touristisch verwertbare Oberfläche von Landschaft und Elend! - nicht doch etwas anfangen könnte.
So braucht auch in Gegenden, wo Industriearbeit noch nie heimisch war, geschweige denn die Bevölkerung danach verlangt hat, und ein Absatzmarkt weit und breit nicht zu entdecken ist, die Gründung einer modernen Firma nicht zu scheitern. Schließlich hat jenes ominöse Subjekt der Weltgeschichte namens ‚technischer Fortschritt‘ so viel an handwerklichem Können des benötigten Arbeitermaterials überflüssig gemacht, daß man auch Menschen ohne jede Ahnung und Ausbildung an modernste Maschinerie stellen kann. Die barbarischen Leistungsstandards zivilisierter Ökonomien lassen sich da zwar schwerer oder gar nicht durchsetzen. Wenn aber die zuständige Regierung tut, was in ihrer Macht steht - für Zufriedenheit mit absoluten Hungerlöhnen sorgt, großräumige Verwüstungen gestattet, sich mit spärlichen Abgaben bescheidet und den sachverständigen Machern jede Freiheit läßt -, dann ist so mancher deutsche, amerikanische oder französische ‚Multi‘ durchaus bereit, ‚Standortnachteile‘ zu vergessen und sein ohnehin weltweites Beschaffungs- und Vertriebssystem für das Gelingen eines Geschäfts einzusetzen, das außer ihm niemand für lohnend gehalten - und auch nicht zustande gebracht hätte. Für finanzkräftige Unternehmer bieten aber vor allem günstige Klimate und Bodenschätze in noch so unwirtlichen Regionen einen unwiderstehlichen Anreiz, gleich ein ganzes gesellschaftliches Produktionsverhältnis zu exportieren - sachgerecht modifiziert natürlich. Da wird dann mit schwerstem und teuerstem Gerät zugeschlagen, eine funktionierende Werkseisenbahn über 1000 Kilometer durch Busch oder Wüste zur nächsten Hafenstadt gelegt und allerlei Nützliches dorthin verfrachtet, wo es dann unter wirklich produktiven gesellschaftlichen Verhältnissen für die Schaffung von zählbarem und in Geld gemessenem Reichtum und lohnenden Überschüssen benützt wird.
Seiner Integration in die vom ‚freien Westen‘ inszenierte Weltwirtschaft entgeht auf diese Weise kein Land. Es bleibt ja gar nicht mehr seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit überlassen, ob, mit welchem Erfolg und daher in welchem Umfang es sich dem internationalen Geschäftswesen erschließt. In jedem Land werden Wirtschaftsaktivitäten in Gang gebracht - und wenn eben nicht durch einheimische Geschäftsleute, sei es, weil es die nicht gibt, sei es, weil diese ihre Besitztümer schleunigst in harter Währung auf sichere Schweizer Nummernkonten bringen, dann um so radikaler durch auswärtige ‚Entwicklungs‘-Angebote! -, die dem Kriterium des lohnenden Geschäfts folgen und den Erfolg zur Existenzbedingung der Eingeborenen machen, auf die das Kapital dummerweise noch in den abgelegensten Gegenden trifft. Deren Anstrengungen, ihre Subsistenz zu erhalten, scheitern ab sofort nicht mehr an der ‚Feindlichkeit‘ ihrer ‚Umwelt‘, sondern an der Großzügigkeit, mit der diese auf einmal benutzt wird: die paar lohnend zu betreibenden Fabriken, Minen und Farmen, die ihnen den überlebensnotwendigen Raum nehmen, haben regelmäßig nur für einen Bruchteil der verdrängten Leute eine Verwendung - und die sieht entsprechend brutal aus. Wo also eine heimische Bevölkerung sich allenfalls noch, vielleicht trotz aller Maßnahmen ihrer Regierung, Exportierbares herbeizuschaffen, hat erhalten können, da vollenden großzügige Kapitalanlagen die Zerstörung der vorfindlichen Produktionsweise, die der Außenhandel bereits eingeleitet hatte.
Die zuständigen politischen Herrschaften hat die internationale Geschäftswelt dabei allemal auf ihrer Seite. Die eigene sowieso, es sei denn, die hielte gerade aus übergeordneten strategischen Erwägungen eine Erpressung in Form eines Boykotts für angezeigt; da darf der frustrierte Anleger sich damit trösten, daß die Konditionen seines Geschäfts auf diese Weise ‚langfristig‘ nur noch besser werden. Die der benutzten Länder auch; denn in der Welt von heute ist Zahlungsfähigkeit nun einmal die Bedingung auch für eine Regierung, eine wie auch immer geartete Souveränität aufrechtzuerhalten; zahlungsfähig wird sie aber allein durch die mit ihrem Land und ihren Untertanen inszenierten Geschäfte, wie ruinös auch immer diese für Land und Leute sein mögen. Der Welthandel nimmt so auf die erfreulichste Weise zu, und die Sortierung der Länder des Globus nach Art und Umfang der lohnenden Benutzung ihrer Ökonomie, ihrer Naturschätze und ihrer Einwohnerschaft durch die tatsächlichen Macher der ‚Weltwirtschaft‘ wird perfekt. Die drei maßgeblichen Parteien des großen Deals können zufrieden sein: Die einen haben ihr Geschäft, die zweiten einen Erfolg für ihre ‚nationale Wohlfahrt‘ gesichert, und die dritten kommen in den Genuß einer zwar nicht ganz autonom verfügbaren, dafür aber materiellen Grundlage ihrer Herrschaft - auch der ‚afrikanische Sozialismus‘ fällt weder vom Himmel, noch wächst er im Busch. Das logisch dazugehörige schlechte christliche Gewissen bezüglich der Opfer einer funktionierenden Weltwirtschaft bleibt der anderen unmaßgeblichen Fraktion: den demokratischen Untertanen der aktiven und verantwortlichen Staatenlenker, überlassen: philanthropische oder - inzwischen bloß noch! - ökologische Bedenken und die Mark für Caritas und Serengeti sind ihr Anteil an der weltweiten Verantwortung ihrer Regierenden und Verlaufsformen ihrer demokratischen Illusion, am Ende würde das Ganze doch irgendwie zu ihren Gunsten veranstaltet.
Zweck und Ergebnis sind in Wahrheit etwas anders beschaffen:
Als ‚Kapitalmarkt" vollendet sich die Staatenwelt mit ihren 150 Souveränen zu einem weltweiten ökonomischen Imperium.
2.4 Das ‚europäische Einigungswerk‘
Die kapitalistischen Demokratien Europas haben es seit jeher verstanden, aus ihrer Einordnung in die von den USA nach dem großen Krieg restaurierte Weltwirtschaft für sich das Beste zu machen und mit den ihnen gesetzten Konditionen glänzend zurechtzukommen. Daß das Mitmachen unter Bedingungen, die sie selber keineswegs frei und gleichberechtigt ausgehandelt haben, ihre einzige Chance war und ist, nimmt nicht das Geringste davon weg, daß sie darin sehr souverän ihre Chance zur aktiven Teilhabe am weltweiten Imperium des freien Kapitalverkehrs gesehen und mit dem bedingungslosen Willen zum Erfolg bedingungslos und erfolgreich ergriffen haben. Lächerlich sind daher alle Töne des nationalen Selbstmitleids, die unter freien Westlern immer wieder laut werden und immer wieder zu imperialistischen Phantasien eines alternativen Patriotismus Anlaß geben, sobald Regierung und Wirtschaft eines Partnerstaates anders wollen müssen, als sie sonst vielleicht eigentlich gewollt hätten.
Lächerlich vor allem im Falle der BRD. Denn dieser Staat - von seinen Bewohnern ist hier nicht die Rede! - war von Anfang an der Hauptnutznießer einer amerikanischen Politik, die Sieger und Besiegte des Zweiten Weltkriegs gleichermaßen zu NATO- und Handelspartnern gemacht hat. Frankreich und Großbritannien, sogar Holland und Belgien hatten ihren Kolonialbesitz, auf den ihre Großmacht sich gegründet hatte, erst noch zu liquidieren: für derartige Zonen exklusiven Zugriffs einer bestimmten politischen Herrschaft und ihrer nationalen Nutznießer war im Rahmen von IWF und GATT kein Platz mehr. Die Wahrheit der neuen ‚Weltwirtschaftsordnung‘ hatten die alten Kolonialmächte gegen sich, nicht bloß blutige Aufstände in ihren liebsten, weil fortgeschrittensten ‚Überseeprovinzen‘ und ‚Dominions‘, mit denen sie im Falle nachdrücklicher amerikanischer Hilfe allemal noch fertig geworden wären - immerhin war ihnen so viel amerikanisches Wohlwollen sicher, daß der Fortschritt vom Kolonialismus zum modernen Wirtschaftsimperium der ‚freien Welt‘ sich ausgiebig gestaltete und die eine Seite einigen Reichtum und etliche Soldaten, die andere Seite die Überlebensmittel der Armut und einige Volksmassen kostete.
Umgekehrt erwies die ‚Stunde Null‘ des besiegten Deutschland sich für die demokratisch erneuerte Bundesnation als erstklassige Startchance: die alten Staatsschulden waren mit der Währungsreform so gut wie gestrichen; sogar Kriegszerstörungen und Demontagen kamen dem kapitalistischen Neuanfang insofern zugute, als das anlagewillige Kapital, sei es amerikanischen oder nationalen Ursprungs, auch dank rasch wachsender Kredite gleich mit den modernsten Methoden der Arbeitskräftenutzung zu Werke ging; die Ansprüche des Proletariats hatten Krieg und Niederlage aufs Überleben reduziert, somit den Wert ihrer Arbeitskraft drastisch herabgedrückt; der Wegfall der militärischen faux frais demokratischer Herrschaft lohnte sich noch dazu politisch als Beweis der nationalen Bescheidenheit - und innenpolitisch für den der totalen Niederlage angemessenen neuen Nationalismus der Bescheidenheit; und unter diesen Auspizien ließ das durch amerikanisches und einheimisches Kapital wieder engagierte Volk sich ausgiebig benutzen und die Akkumulationserfolge, für die es sich hergab, vertrauensvoll zum kaum verdienten ‚Wirtschaftswunder‘ verklären. Dem westdeutschen Kapital war dank seiner ‚Abhängigkeit‘ von amerikanischem Kredit von vornherein das Mitmischen im Welthandel, eben ganz jenseits der heimischen Armut, als Weg zu schleunigster Akkumulation eröffnet und als effektivste Methode ‚vorgeschrieben‘; der Erfolg, mit dem es sich auf diesen süßen ‚Zwang‘ eingelassen hat, ist in der Rede vom ‚ökonomischen Riesen‘ - der inzwischen schon längst kein ‚politischer Zwerg‘ mehr bleiben ‚darf‘! - geradezu sprichwörtlich geworden. Dabei hatten ebenfalls die USA bereits mit den Institutionen zur Abwicklung ihres ERP, der Europäischen Zahlungsunion und der OEEC, ihre europäischen Verbündeten auf den besonderen regionalen Internationalismus verwiesen, über den speziell die neue westdeutsche Republik sich zu nie geahnter neuer Weltmacht und zum selbstverständlichen Mitglied des Weltwirtschaftsgipfels hochgearbeitet hat: auf Europa.
1. Mit dem ökonomischen und militärischen Patronat der USA über die souveränen Staaten Westeuropas war und ist diesen zumindest für ihren Umgang miteinander die Freiheit genommen, ihre Gewalt nach Gutdünken für die Durchsetzung ihrer Interessen an anderen Souveränen und deren Ländern geltend zu machen. Ihre bewaffnete Macht gegeneinander einzusetzen, das kommt für NATO-Partner nicht in Frage - oder doch nur sehr eingeschränkt: auf die Vertreibung feindlicher Fischerboote in eigenen Fischereigewässern etwa oder auf eine sachgerechte Grenzziehung in der Ägäis und auf dem letzten Überbleibsel des britischen Kolonialismus im östlichen Mittelmeer, auf Cypern. Die ‚glaubwürdige‘ Drohung mit Waffengewalt und ähnlichen ‚Repressalien‘ ist als Mittel der Außenpolitik zwischen den Schützlingen Amerikas jedenfalls nicht mehr üblich bzw. nurmehr indirekt unter den Auspizien der Bündnisdisziplin: als Drohung mit dem Entzug von militärischer Kooperation, welche bedingungslos zu wünschen jeder NATO-Partner sich doch festgelegt hat. In gleicher Weise stößt ; der Gebrauch der wirtschaftspolitischen Souveränität der europäischen Staaten in der unerläßlichen Bedingung für die Benutzung fremder Ökonomien: im internationalen Zirkulationsmittel Dollar, auf eine Schranke, nämlich auf den sehr praktischen amerikanischen Imperativ, der Konkurrenz der Ökonomien keine hoheitlichen Hindernisse in den Weg zu legen. Die Institution der ‚Handelskriege‘ ist damit zwar keineswegs abgeschafft; unter den g Bedingungen von IWF und GATT fehlt solchen Aktionen von europäischem Boden aus allerdings die letzte Härte: die Drohung mit Sem Abbruch der ökonomischen Beziehungen zu einem gleichfalls Bern ‚freien Westen‘ zugehörigen Konkurrenten entbehrt der Glaubwürdigkeit. Damit beschert die pax americana den befriedeten Nationen Westeuropas allerdings keineswegs das Ende des nationalen Egoismus, sondern dessen paradoxe Neueröffnung. Die Beschränkung der Freiheit, mit allen Mitteln der Souveränität um die Vorteile wechselseitiger Benutzung zu konkurrieren, ist der Zwang, um diese Vorteile mit allen zugelassenen Mitteln zu konkurrieren. Mehr denn je sieht sich der Materialismus der westeuropäischen Souveräne seither auf das fortschrittlich-imperialistische Ziel festgelegt, aus der Ökonomie der verbündeten Auslande größtmöglichen nationalen Nutzen zu ziehen, und für dieses Ziel auf die Waffe der Produktivität des Kapitals als das einzig unbeschränkt gestattete Mittel verwiesen. In beiden Hinsichten war und ist es die amerikanische Konkurrenz, die die Maßstäbe setzte und noch immer vorgibt: in Sachen Produktivität ebenso wie in der Freiheit, auswärtige Staatsgrenzen als mehr oder minder zuträgliche Bedingungen für die erfolgreiche Verwandlung ihrer überlegenen Produktivität in eine überlegene Profitrate zu kalkulieren. Dieser praktische Zwang, sich mit dem weltweit rechnenden und agierenden US-Kapital zu vergleichen, nötigte den europäischen Geschäftsleuten von Anfang an die ‚Einsicht‘ auf, daß nationale Wirtschaftsgrenzen kaum mehr einen Schutz vor unliebsamer Konkurrenz bedeuten, dafür aber ein um so größeres Hindernis für den eigenen Geschäftserfolg. Dieser ‚Einsicht‘ mochten denn auch die politischen Macher der nationalen Ökonomien des ‚alten Kontinents‘ sich nicht verschließen, weil ihnen auch ohne Kenntnis des Wertgesetzes klar wurde, daß der alte Protektionismus gegen die innereuropäische Konkurrenz nur die Überlegenheit der USA verewigen und vergrößern mußte: für den Krisenfall stand so ja von vornherein fest, auf welches Kapital die Last der Entwertung fiel und welches das zum Ausgangspunkt für neue Akkumulationserfolge würde nehmen können. So setzten sie das ‚Jahrhundertwerk‘ der ‚europäischen Einigung‘ in Gang.
2. Daß die an der EG beteiligten Staaten aus ihrer inneren und äußeren Wirtschaftspolitik den Nationalismus verabschiedet hätten und dazu übergegangen wären, Außenhandel und Kapitalverkehr, Kreditwesen und Klassenkampf, Investitionsförderung und Steuerlasten nur noch gemeinschaftlich zu regeln, ist in den Jahrzehnten der europäischen Einigung nicht eingetreten - und lag auch gar nicht in der Absicht der Gemeinschaftsstaaten: die zuständigen hauptberuflichen Patrioten haben zwischen ihrem Einigungsidealismus und ihrem Konkurrenzzweck praktisch noch allemal unterscheiden können. Schließlich war Einigung für sie nie ein Selbstzweck, sondern das Mittel zur Sicherung und Förderung des Materialismus ihrer jeweiligen Nation; klar, daß das Gemeinschaftsleben sich entsprechend strittig gestaltet. Enttäuschte Europa-Fans, die das Gemeinschaftsunternehmen für farcenhaft und gescheitert erklären, treffen die Sachlage allerdings erst recht nicht. Sicher, Importbeschränkungen und Exporthilfen sind auch auf dem Gemeinsamen Markt nicht ausgestorben. Zölle sind zwar abgeschafft, sogar schneller als vorgesehen, aber nicht die Zöllner; denn weil jeder Souverän seine eigenen Vorstellungen darüber hat und praktiziert, wie er sich für seinen Finanzbedarf bei seinen Untertanen bedient, müssen an den Grenzen gerechtigkeitshalber die unterschiedlichen Steuerlasten ausgeglichen werden. Die Freizügigkeit der Waren scheitert immer wieder mal an irgendeiner Generalklausel, dann wieder an kleinlichsten Normvorschriften, die just die Exportschlager des Nachbarn normwidrig ausfallen lassen; ebenso die der Arbeitnehmer teils am Vorbehalt eines Arbeitsplatznachweises, teils an den Reservaten, die ein Kulturstaat per Ausbildungsvorschriften u. ä. seinen Kulturträgern einrichtet. Nicht einmal Kapitalimport und -export sind von national unterschiedlichen Reglementierungen frei, und über den Außenwert ihrer Währung will jede Regierung das letzte Wort haben. Gerade die von EG-Idealisten beklagte rasante Vervielfältigung derartiger ‚nationaler Sonderregelungen‘, deren Einführung, Kritik, Revision, Neuaushandlung usw. Heerscharen von Staatsbediensteten ins Brot setzt, ist aber der schlagende Beweis dafür, wie sehr die grenzüberschreitende Konkurrenz für die Gemeinschaftsstaaten bereits zur Prämisse ihrer Wirtschaftspolitik geworden ist. Mit ihrem Streit um nationale Sonderregelungen reagieren sie auf die Freiheiten, die ihr jeweiliges nationales Kapital und das der anderen sich längst nimmt und im Prinzip ja auch nehmen darf und soll - speziell in so geheiligten nationalen Intimbereichen wie dem der Geschäftemacherei mit Schulden. Der Eurodollarmarkt trägt seinen Vornamen schließlich deswegen zu Recht, weil die EG-Staaten sich nicht etwa prinzipiell die Benutzung all der schönen Dollarmilliarden versagen, die dank jahrzehntelanger amerikanischer Zahlungsbilanzdefizite den Rest der Welt beglücken und auf ‚freien‘ Finanzmärkten außerhalb der Zuständigkeit der Nationalbanken Europas ihr Wesen treiben: mit allen möglichen Restriktionen erlauben, regeln und fördern sie sogar deren Verwandlung in nationales Kapital. Überhaupt ist die Zahl der nationalistischen ‚Verstöße gegen Gemeinschaftsregelungen‘ bloß deswegen so uferlos, weil der ‚westeuropäische Wirtschaftsraum‘ als Kalkulationsgrundlage die Ökonomie der beteiligten Staaten immer umfassender und intensiver betrifft.
Tatsächlich ist an den ökonomischen Sitten und Gebräuchen der westeuropäischen Partner denn auch deutlich abzulesen, wie der Supranationalismus der von den USA arrangierten, von amerikanischen wie europäischen Geschäftsleuten exekutierten Konkurrenz der Nationen deren Ökonomie umkrempelt. Hinsichtlich der Effektivität der Produktion wie der Modernität und Ausdehnung des Vertriebswesens eines Kapitals, in Sachen Krisenfestigkeit und daher auch Konzentrations- und Zentralisierungsgrad des nationalen Kapitals sind in allen EG-Staaten ganz ohne Kommissionsrichtlinie neue Standards durchgesetzt, denen national unterschiedliche Fraktionen des gesellschaftlichen ‚Mittelstandes‘ ziemlich unterschiedslos zum Opfer gefallen sind. Ganz zu schweigen von den Einwohnern des vielgepriesenen ‚Europa der Arbeitnehmer‘, die sich - ebenfalls unterschiedslos und deswegen national sehr differenziert - inzwischen Jahr für Jahr an umgekrempelte, neue oder gar keine Arbeitsplätze gewöhnen dürfen, weil über einen halben Kontinent hinweg das eine Kapital allen anderen den jeweils fortgeschrittensten Stand in Sachen Ausbeutung zur Überlebensbedingung macht. In demselben Zug entstehen unter dem Druck weiträumiger Konkurrenz und der Obhut der Regierungen neue nationale Wirtschaftszentren - und logischerweise auf der anderen Seite ‚strukturschwache‘ Regionen oder gar ‚Notstandsgebiete‘, die bei einer weniger weltmaßstäblichen Akkumulation, Konzentration und Zentralisation der europäischen Geschäftemacherei kaum in die für sie ruinöse kontinentale Konkurrenz einbezogen worden wären. Die ‚Gemeinschaft‘ hat in ihrer praktischen Weisheit diesen Fall längst vorgesehen und unterhält für Kompensationsmaßnahmen einen ‚Regionalfonds‘, dessen Verteilung allerdings keineswegs eine Frage der Bedürftigkeit ist: Zwischen den Empfängerländern geht es ziemlich proporzmäßig zu, und diese handhaben die empfangenen Mittel in der Regel ökonomisch - also nicht zur fruchtlosen Linderung von Mangel, sondern zur lohnenden Förderung des Reichtums, wo er bereits in überzeugender Weise zustandekommt (was im Mezzogiorno nun ein für allemal nicht der Fall ist). Dasselbe gilt für die diversen Wirtschaftsbranchen: da stehen Industriezweige, die einmal der Stolz der Nation gewesen sein mögen, vor der Alternative, sich gesund- oder totzuschrumpfen. Daneben bauen die Partnerstaaten, durch die Wucht amerikanischer Überlegenheit zu ebenso wuchtiger internationaler Solidarität gezwungen, mit vielen Subventionen und entsprechend proportionierten nationalen Anteilen eine kontinentale Luft- und Raumfahrtindustrie auf - oder kündigen auch wieder die Gemeinsamkeit, wenn und soweit sie beispielsweise auf dem Sektor der Atomkraftnutzung in der Konkurrenz der nationalen Unternehmungen gegeneinander besser zu fahren hoffen. Ein Feld besonderer Einigungen und daher auch Streitigkeiten ist dabei die Stahlbranche, die - wenn auch aus ganz anderen Gründen: Frankreich wollte sich so die Kontrolle über die deutsche Schwerindustrie sichern - zusammen mit der Kohleförderung Gegenstand des ersten großen europäischen Gemeinschaftswerks, der Montan-Union, wurde. Bei aller ‚guten Nachbarschaft‘ und Bereitschaft zum Konkurrieren will auf diesen Industriezweig kein Souverän verzichten: nicht ohne Grund gilt der Stahl als politischer Rohstoff erster Güte, sofern an seiner Produktion praktisch die gesamte Wirtschaft einer modernen Gesellschaft hängt, einschließlich der ‚Versorgung‘ der Staatsgewalt mit ihren wichtigsten Instrumenten - und an seinem Preis zu einem Gutteil die Konkurrenzfähigkeit des nationalen Kapitals. Lohnend soll die Stahlproduktion nach Möglichkeit schließlich auch noch sein; und diese drei Zielsetzungen sind nicht so einfach zu vereinbaren. Vom Standpunkt der jedem Konjunkturboom gewachsenen nationalen Stahlversorgung ist der Unterhalt von nicht ausgenutzten Kapazitäten erforderlich, der sich nur zu Preisen lohnen kann, die wiederum das weltweite Geschäft aller anderen Kapitale beeinträchtigen. Also subventioniert jeder Staat die Überkapazitäten seiner nationalen Stahlproduzenten - und wird damit zum bedingungslosen Parteigänger deren Konkurrenzkampfes um Marktanteile im Ausland: besserer Auslastungsgrad senkt ja die Subventionsbedürfnisse. Hier wird also einmal die Schlacht um Absatzmärkte unmittelbar zum staatlichen Anliegen und dementsprechend abgewickelt: als politischer Streit um die Zuteilung von Produktionsquoten, mit denen dann wiederum kein Kapital zufrieden ist. Streit und nationale Unzufriedenheit sind hier die Alternative zur Nationalisierung des Stahlmarkts, also die notwendige Verlaufsform des ‚Supranationalismus‘ eines gemeinsamen Stahlmarkts, mit dem jeder Staat seinen Partnern die Unkosten dieser Branche aufzuhängen versucht. Dabei wird die Kapitalproduktivität als Konkurrenzmittel keineswegs hinfällig, sondern ebenfalls zum direkten Staatsanliegen; denn nach ihr bemißt sich ja ebenfalls der Bedarf an Staatszuschüssen, und zwar nicht bloß im eigenen Land. Die französische, belgische und britische Stahlindustrie wird für die zuständigen Regierungen in dem Maße zu einer dauerhaften und zunehmend drückenden Last, in dem die italienische und bundesdeutsche Konkurrenz erfolgreich und geschäftstüchtig genug ist, um die ihr zufließenden Subventionen zur Senkung ihrer Produktionspreise, also lohnend zu nutzen: um so höher steigt der Zuschußbedarf der anderen, ohne daß doch zur Produktivitätserhöhung etwas übrigbliebe. So verfügen gerade vermittels des gemeinsamen Stahlmarkts die einen Nationen über Hüttenwerke modernsten Kalibers, die mit Niedrigpreisen Gewinn machen und überall Marktanteile erobern, während die anderen nationalen Reichtum vergeuden, um sich eine zunehmend unrentable nationale Stahlherstellung überhaupt zu erhalten.
Ähnliche Neuerungen macht im Rahmen und dank der EG die Lohnarbeit in den verschiedenen Partnerstaaten durch. Für die deutschen Arbeiter hatte die totale Niederlage den gültigen Maßstab für den Preis der Arbeit gesetzt, nämlich das knappe Existenzminimum; von dem aus war jeder Erpressung in Sachen Mehrleistung ein Erfolg beschieden, und noch die kleinste Verbesserung des ‚Lebensstandards‘ schrieben Gewerkschaft, Kapital und Staat, insgesamt also ‚das marktwirtschaftliche System‘, sich auf ihr Wirtschaftswunderkonto. Diese in Lohn und Leistung gleich doppelt zu Buche schlagende Nachkriegserrungenschaft mußten und müssen andere EG-Partner, die ihrem Proletariat nach gewonnenem Krieg nicht gleich jede historische Errungenschaft aus seiner Entlohnung gestrichen hatten und mit anderen Gewerkschaftsforderungen als der nach verantwortungsbeladenen Gremiensitzen in Unternehmensvorständen konfrontiert waren, erst nachholen. Der Wert der Ware Arbeitskraft - oder volkswirtschaftlich ausgedrückt: die Frage der ‚für unsere Wirtschaft zu verkraftenden Lohnkosten‘ - zählt in den europäischen Demokratien zu den Dauerbrennern der öffentlichen Diskussion. Und als Größe, an deren Reduktion sich noch jede wirtschaftspolitische Großtat bewährt, ist der Preis der Arbeit, die Lohntüte eben, der Selbstbedienungsladen der konkurrierenden Partnerländer.
Bis in den letzten Winkel - des Landes, der Branche, der Arbeitsplätze, der Lebenshaltung - hinein macht die europäische Konkurrenz unter EG-Bedingungen für das Kapital und gegen die Arbeit denselben banalen Maßstab maximaler Effektivität geltend (der methodisch geschulte Leser hat hier wieder ein Stichwort, um die Plattheit und Brutalität kapitalistischer Erfolgskriterien für eine Eindimensionalität unserer ‚Betrachtungsweise‘ zu halten) - und führt mit solcher Gleichmacherei keineswegs zur Gleichheit der nationalen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Am deutlichsten wird das in der Sphäre sichtbar, in der die Gemeinschaftsstaaten die ruinösen Konsequenzen einer internationalisierten Konkurrenz zum Gegenstand ihrer besonderen Aufmerksamkeit machen: in der Landwirtschaft. Bei ihrer Betrachtung kann man sich im übrigen auch die letzten Illusionen der An abgewöhnen, der europäische ‚Gemeinsame Markt‘ hätte auch nur entfernt etwas mit einem großen Wochenmarkt zu tun, auf dem die besten Sachen am einfachsten an ‚den Verbraucher‘ gelangen. Das berüchtigte System der europaweit gültigen Mindestpreise für die meisten landwirtschaftlichen Produkte macht den ‚Warenkorb‘ eines Haushalts nicht billiger, eröffnet dafür aber im Agrarbereich auf ganz neuer Stufenleiter die Chance, mit spezialisierten, durchrationalisierten Großbetrieben lohnende Geschäfte zu machen. Umgekehrt erfährt eben dadurch die Masse der Bauern ganz praktisch, daß ihre angestammte Produktionsweise sich auf einmal nicht mehr lohnt -selbst dann kaum, wenn sie sich verschulden, um zu modernisieren, und die Arbeitskraft ihrer Familien intensiv ausbeuten. Die Wucht dieser Klarstellung trifft diesen Teil der Gesellschaft zwar nur in abgemilderter Form, da etliche Gemeinschaftsstaaten sich die sanfte Liquidierung ihres bislang abgetrennt vom kapitalistischen Getriebe werkelnden Nährstandes etwas kosten lassen und ihre Preisgarantien soweit hinaufmanipulieren, daß mancher unternehmungslustige Kleinbauer sich noch eine Existenzchance erhofft. Um so gründlicher geht eine - sehr nationenspezifische - Sortierung dieses antiquierten Standes vonstatten: in eine kleine Minderheit radikaler Agrarunternehmer, die mit den staatlichen Subventionen als erstklassiger Geschäftsgrundlage kalkulieren und mit ihrem entsprechenden Erfolg einen Agrar-‚Berg‘ nach dem anderen aufwerfen helfen - ein blühender Geschäftszweig in Ländern mit schon länger kapitalisierter, exportorientierter Landwirtschaft wie Dänemark, Holland, aber auch Frankreich; in eine abnehmende Anzahl kleiner Selbständiger, die mit ihren Versuchen, m einen endlich einmal wirklich lohnenden Boom einzusteigen, immer um die entscheidende Saison zu spät kommen - und deren Ärger sich in Anwandlungen eines bodenständigen Anarchismus gegen die Produkte der Konkurrenz entlädt: da ist schon viel gepanschter Rotwein ins Mittelmeer abgelassen worden; und in die Mehrzahl geschäftsunfähiger Ex-Landwirte, die, je nach dem, ihren Abgang ins industrielle Proletariat oder in die industrielle Reservearmee absolvieren oder aber mit ihren Anstrengungen, sich doch noch aus ihrer angestammten Heimaterde zu ernähren, das Lokalkolorit der notorischen ‚Armenhäuser Europas‘ so interessant gestalten. Die Reihen der letztgenannten Fraktion werden mit jeder Süderweiterung der EG bedeutenden Zuzug erhalten. Bei der Effektivierung des Landvolks in den rückständigen Mitgliedsstaaten, deren ‚Bruttosozialprodukt‘ zu einem entscheidenden Teil durch die wenig rentablen Strapazen ihrer kleinen Landwirte zustandekommt, wird die ‚Gemeinschaft‘ nicht noch neue Milliarden in eine Überproduktion stecken, die dortzulande und bei der bekannten ‚mediterranen Mentalität‘ - die ist nämlich schuld, wenn Kiembauern ohne Job-Aussichten lieber ihrer mageren, vertrockneten Scholle treu bleiben! - noch nicht einmal die angestrebte kapitalistische ‚Umstrukturierung‘ dieses Sektors garantiert; das zumindest ist durch das Brüsseler Agrar-‚Sparprogramm‘ klargestellt.
Insgesamt bleibt so unter den Konditionen des westeuropäischen ‚gemeinsamen Marktes‘ keine nationale Besonderheit mehr, was sie war. ‚Naturwüchsige‘ Eigentümlichkeiten eines Menschenschlages, Überreste naturabhängiger Produktionsweisen, die berühmten ‚geschichtlich gewachsenen Strukturen‘, in denen frühere Herrschaft sich ihre gewalttätigen Denkmäler geschaffen hat, sogar die Klassenkampf-‚Erfahrenheit‘ einer nationalen Arbeiterklasse: all das erfährt eine praktische ‚Würdigung‘ als mehr oder minder taugliche Bedingung für immer dasselbe, den nationalen Erfolg in einer ökonomischen Konkurrenz von radikaler Rücksichtslosigkeit, und wird so entweder als überholte Marotte eliminiert oder in seine eigene Karikatur verwandelt. In manchen europäischen Regionen befinden proletarische Aktivisten den Kampf um mehr Lohn für uninteressant und bejammern lieber die ‚germanizzazione‘ ihres Vaterlandes, so als hätten die westdeutschen Touristen ihnen höchstpersönlich die neuen Standards für das nötige Verhältnis von Lohn und Leistung mitgebracht. Bürgermeister zwischen Nordkap und Sizilien entdecken nicht mehr unter den Auspizien faschistischer Ideologie, sondern unter denen der Tourismusförderung, also der geschäftlichen Nutzung einer Landschaft, die außer ihrem Erscheinungsbild nichts für die Konkurrenz zu bieten hat, jede halbvergessene oder ausgestorbene Borniertheit neu und bringen erwachsene Menschen dazu, sich rein methodisch für jeden Firlefanz zu begeistern, der die Idiotie der Heimatliebe für sich geltend machen kann. Eine Arbeiterschaft, der durch die Fortschritte des nationalen Kapitals in seinem Bemühen, sich von der Geschicklichkeit seines Menschenmaterials zu emanzipieren, jeder Berufsstolz bestritten wird, hält sich um so fanatischer an die rein ideologische Verachtung ihrer fremdländischen Kollegen, die schon seit längerem ohne Qualitätsverlust gute deutsche Wertarbeit verrichten. Kurzum: Indem das große europäische Einigungswerk die Patrioten aller Länder zwangsweise zu praktischen Kosmopoliten macht, was für jede Völkerschaft spezielle Härten mit sich bringt, treibt es deren Nationalismus zu neuen Verrücktheiten. Was soll auch anderes dabei herauskommen, wenn loyalen Staatsbürgern das paradoxe Ideal der "Völkerfreundschaft" nahegelegt wird? Da soll der Mensch sein Selbstbewußtsein einerseits ganz in den bunt ausgemalten, deswegen aber nicht erfreulicheren Umstand legen, daß er mit vielen seinesgleichen derselben Herrschaft gehorcht, sich also als Volk fühlen; ein Gefühl, das überhaupt nur geht, indem Ausländer genauso unter die höchst abstrakte, prinzipielle, beliebig auszumalende und auf alle Fälle äußerst verdächtige Bestimmung subsumiert werden, eben ein anderes Volk zu sein; und in demselben Atemzug soll er die Ausländer aus eben diesem Grund insgesamt ziemlich sympathisch finden?
3. Daß in dem bedingt supranationalen Zusammenschluß der EG-Staaten deren nationaler Egoismus sich betätigt und gerade in seiner offiziellen Relativierung so anspruchsvoll wird, ist das Prinzip dieses Bündnisses, das noch expliziter als in dessen ökonomischen Ergebnissen in seiner Methode: den organisatorischen Mechanismen und Verlaufsformen der Einigung, greifbar wird. Der ganze Kunstgriff dieser Konstruktion liegt darin, den nationalen Willen zur möglichst durchschlagenden Benutzung der Ökonomie der Nachbarländer und der diese regelnden politischen Gewalt in zwei Momente zu zerlegen: Die Notwendigkeit, für dieses Ziel den Partnern Zugeständnisse zu machen, wird als Gemeinschaftsorgan institutionell verselbständigt - die Kommission mit ihrem bürokratischen Apparat und ihrem gerichtlichen Überbau; die von diesem Organ vorgeschlagenen Gemeinschaftsregelungen werden von den als Ministerrat versammelten Staaten auf ihren jeweiligen nationalen Sonderstandpunkt hin reflektiert, in wechselseitiger Erpressung modifiziert und nur verabschiedet, wenn jedes Mitglied sich von seinem Zugeständnis einen größeren Vorteil verspricht. Diese Konstruktion bringt den Anschein hervor, als ginge es immerzu um die Austragung von Gegensätzen zwischen europäischem Gemeinschafts- und nationalem Sonderinteresse - die Wahrheit dieses verkehrten Scheins ist, um es nochmals zu sagen, der ganz und gar nationale und am Nationalinteresse orientierte Wille der beteiligten Staaten, ihre Konkurrenz unter den durch die pax americana gesetzten Bedingungen, ohne bestimmte nationale Vorbehalte der öffentlichen Gewalt gegen diese Konkurrenz, auszutragen. Der Anschein einer selbständigen Existenz des Gemeinschaftsinteresses als solchen ist dennoch mehr als der Spleen von Idealisten eines autonomen europäischen Imperiums und als die Berufskrankheit manches Brüsseler Bürokraten, der sich als Beweisstück für einen real existierenden europäischen Supranationalismus vorkommen mag. Er liefert die moralische Sprachregelung für das Feilschen der amtierenden Nationalisten: Ansprüche werden allemal im Namen der Gemeinschaft erhoben und bestritten. Und das ist in mehreren Hinsichten von Gewicht.
So ist die Berufung auf ‚Europa‘ speziell für die BRD seit Adenauers Zeiten die Art und Weise, innen- wie außenpolitisch die Ansprüche des deutschen Nationalismus, der sich mit dem in jeder Hinsicht verlorenen Krieg bis auf weiteres disqualifiziert hatte, in garantiert unverdächtigem Gewand geltend zu machen. Das ging und geht deswegen, weil die BRD tatsächlich seit jeher am meisten von der EG profitiert - nicht bloß ökonomisch, sondern auch politisch, sofern ihr eben unter diesem Gesichtspunkt ein Auftreten als weltweit interessierte und agierende Macht wieder zugestanden worden ist; die Heuchelei der europäisch supranationalen Morali-tät ihres Nationalinteresses blamiert sich so noch am seltensten. Andere Staaten, die ihre Rolle innerhalb der EG noch immer mit ihrer früheren Großmacht vergleichen, haben da zumindest innenpolitisch eher das umgekehrte Problem: ‚Europa‚als fortschrittliches Äquivalent ihrer früheren nationalen Grandeur darzustellen; fast scheint es hier manchmal, als müßte da die eine oder andere Regierung ihrem Volk Vorteile der EG vormachen, wo es tatsächlich bloß darum geht, weitere Konkurrenznachteile zu vermeiden. Für alle beteiligten Staaten gleichermaßen ist ‚Europa‘ immerhin der diplomatische Freibrief, sich beständig in die ‚inneren Angelegenheiten‘ ihrer Nachbarn bedenkenlos und offensiv ‚einzumischen‘. Beständig und bis in die Details überprüfen die Politiker jeder EG-Nation die Wirtschafts- und Sozialpolitik ihrer Nachbarn nach Vor- und Nachteilen für die eigenen Interessen, sparen nicht mit Ratschlägen und haben sich im Europaparlament und seinen Fraktionen, so absurd die Fiktion einer parlamentarischen Super-Souveränität über den Nationen auch sein mag, immerhin ein Instrument geschaffen, um schon über die Programmatik ihrer jeweiligen ‚Schwesterparteien‘ eine ‚gemeinschaftsdienliche‘ Politik größerer Zugeständnisse bei ihren Nachbarn zu fördern. So ergänzt der diplomatische Europa-Moralismus die ökonomische Benutzung und die politische Erpressung um ein demokratisches Element zu einem System imperialistischer Kontrolle der verbündeten Nationen übereinander, und zwar rein nach Maßgabe ihres ökonomischen Gewichts; einem regionalen Imperialismus, wie es ihn ohne beständigen Einsatz der bewaffneten Macht auf der Welt noch nicht gegeben hat.
4. Während im Inneren der EG Vorteil und Schädigung der Partnerstaaten durch einander stets sorgfältig gegeneinander aufgerechnet sein wollen und immer wieder zu nächtlichen Erpressungsmanövern mit angehaltenen Uhren und demonstrativ leer gelassenen Stühlen führen, steht im Verhältnis der Partner zum Rest der Welt der Nutzen ihres absonderlichen Bündnisses außer Frage; ganz folgerichtig, daß in diesem Bereich die Kommission denn auch die relativ weitestreichenden Befugnisse besitzt. Zwar verzichtet kein Staat, sei es unter Bruch oder Beachtung des GATT und der Römischen Verträge, auf Sonderbeziehungen zu speziellen Freunden in aller Welt, auch in Kompetenzbereichen der Gemeinschaft; daß beispielsweise der westdeutsche Ost- großenteils als ‚innerdeutscher Handel‘ läuft, ist einer der handfestesten letzten Vorteile des verlorenen Krieges, den die BRD sich bei aller Europafreudigkeit nicht als ihre große Sonderregel nehmen läßt! Daneben ist es aber durchaus immer wieder von Voneil - nicht zuletzt für die ‚Kleinen‘ im Bündnis, die sich dafür auch wieder allerlei gefallen lassen -, auswärtigen Konkurrenten oder Objekten ihres weltweiten Nationalinteresses nicht als einzelner Staat, sondern gleich als halber Kontinent entgegenzutreten.
Nutznießer Nr. 1 war und ist hier zweifellos wieder die BRD, die sich in diesem Rahmen den ökonomischen Zugriff auf die Ex-Kolonien ihrer Partnerländer gesichert und auch eine politische Position erobert hat, die es ihr erlaubt, sehr souverän in fernen Weltgegenden herumzuschiedsrichtern. In demselben Rahmen haben aber auch die alten Großmächte die Liquidierung ihrer alten Kolonialreiche letztlich vorteilhaft für sich ausgestalten können. Die verlorenen Zuschüsse, die für die Aufrechterhaltung eines sachgerecht benutzbaren Staatsapparats in den europäischen Domänen auf der Erdkugel nun einmal nötig sind, finanzieren die anderen Partner mit. Gemeinsam mit ihnen läßt sich überdies sehr bequem und wirksam Vorsorge treffen, daß die verselbständigten Kolonien ihre Souveränität nicht für den Versuch mißbrauchen, die Konkurrenz kapitalistischer Interessenten an ihren paar Naturschätzen für sich auszunutzen. ‚Stabex‘ und ‚Minex‘, die Kernstücke der beiden Abkommen von Lomé zwischen der EG und den AKP-Staaten - die in der westeuropäischen Öffentlichkeit mit einer Unverfrorenheit ohnegleichen als Akt europäischer Großzügigkeit ausgegeben werden! -, sind da Meisterstücke demokratischer Diplomatie: Sie stabilisieren den Preis landwirtschaftlicher und mineralischer Rohstoffe aus den Vertragsstaaten Afrikas, der Karibik und des pazifischen Raumes - ohne ihn zu erhöhen! - aus einem sehr sparsam durch die EG dotierten Fonds, den die Empfängerstaaten im Falle von überdurchschnittlichen Erlösen wieder mit auffüllen dürfen. Auch das geschieht nur unter der Bedingung, daß die ‚begünstigten‘ Länder sich erstens auf die Produktion eben dieser Rohstoffe festlegen: schon nach wenigen Verarbeitungsschritten, und ebenso wenn ihr Anteil am Export des Landes unter eine recht hohe Quote sinkt, fallen die ‚begünstigten‘ Produkte aus den Abkommen heraus - so sieht der EG-Beitrag zur ‚Diversifizierung‘ und ‚Weiterentwicklung‘ der Ökonomie der ‚Entwicklungsländer‘ aus! Zweitens muß der Abtransport so gut wie ausschließlich in die EG-Staaten erfolgen, sonst entfällt die ‚Finanzhilfe‘ gleich vollständig. Und dieses ‚Zugeständnis‘ lassen die europäischen Wohltäter sich noch dazu ‚entgelten‘ mit der Pauschalgarantie aller Freiheiten ihres Kapitals, die exotischen Partnerländer zu benutzen - und nach Gebrauch auch wieder zu verlassen. Die Beantwortung der Gewalt‚frage‘, die in derartigen Ländern schon allein deswegen immer wieder akut wird, weil sie ihrer ‚Elite‘ außer dem unmittelbaren Besitz der politischen Gewalt nichts zu bieten haben, nehmen wiederum die alten Kolonialmächte auf die Kappe ihrer besonderen ‚traditionellen Freundschaft‘ mit bewährten Potentaten, die sich ihrerseits keineswegs bloß mit gelegentlichen Diamantengeschenken des kaiserlichen Knechts an seinen demokratischen Herrn erkenntlich erweisen. So bleibt der EG offiziell die Abwicklung der notwendigen Brutalitäten ihres gemeinschaftlichen Zugriffs auf ein gutes Drittel der modernen Staatenwelt erspart.
Noch weitaus überzeugender als in diesen exotischen Regionen bewährt die ‚Gemeinschaft‘ der kapitalistischen Demokratien Europas sich in ihrem engeren Umkreis als imperialistische Ordnungsmacht unter und innerhalb der pax americana. In ihrer Eigenschaft als EG-Partner machen die europäischen Säulen der ‚freien Welt‘ sich bislang ganz ohne von ihnen eingesetzte Waffengewalt und ohne speziell europäische Drohung damit zum einen um die ökonomische und politische Stabilisierung von Nachbarstaaten verdient, die sie in ihrer Eigenschaft als NATO-Partner aus der übergeordneten strategischen Räson der ‚freien Welt‘ heraus für richtig befinden. Ihren ‚Freunden‘ an der Mittelmeerflanke: Griechenland, Spanien und Portugal, nötigt die EG sich als Alternative zu deren Faschismus auf - und das nicht aus bornierter Begeisterung für demokratische Verhältnisse: wieviel Verständnis ein Demokrat für deren zweckdienliche Abschaffung hat, wird immerhin gleichzeitig an der Unterstützung des türkischen Militärs in seinem Vorhaben klargestellt, das eigene Volk endlich für die Demokratie reif zu machen. Für ein Land, das der ‚freie Westen‘ sich als aktiven Bündnispartner ausersehen hat, taugt eine Politik nicht, die aus dem Ungenügen der rückständigen, konkurrenzunfähigen nationalen Ökonomie vor den durchaus modernen, weitreichenden Ansprüchen der darauf sich gründenden Staatsgewalt den reaktionären Schluß zieht, der Nation wäre durch eine härtere Ordnung und die gewaltsame Restauration alter und unrentabler Ausbeutungsformen zu helfen. Unter Brüsseler Obhut dürfen die interessierten Staaten jetzt statt dessen mit der schrankenlosen Zulassung europäischer Konkurrenz und europäischen Kapitals, mit einer beschränkten Zulassung des Klassenkampfes und mit demokratischen Formen seiner politischen Bewältigung ihr Volk den Beweis antreten lassen, daß dem Land doch einiges mehr an Reichtum und stabiler Macht abzuringen ist; wer dabei auf der Strecke bleibt, darf sich damit trösten, daß er das als freier Bürger Europas tut, der vielleicht sogar einmal einen Abgeordneten ins Europaparlament hat wählen dürfen.
Eine ökonomische und politische ‚Stabilisierung‘ auf der Grundlage freien Kapitalverkehrs und demokratischer Rücksichtslosigkeit bei der Nutzbarmachung des nationalen Menschenpotentials bieten die Führungsmächte Europas in ihrer friedlichen Eigenschaft als EG zum anderen in aller Unschuld ihren osteuropäischen Nachbarn an: als Alternative oder zumindest als Ergänzung zu jenem ‚realen Sozialismus‘, dessen ökonomische Erträge die auf eine respektable nationale Macht bedachten Regierungen des ‚Ostblocks‘ schon lange nicht mehr befriedigen. Daß logischerweise De Stabilisierung der sozialistischen Herrschaft die Folge, ihre Transformation in eine demokratische allerdings mit größeren Risiken behaftet ist als die des griechischen, portugiesischen und spanischen Faschismus, das ist dabei eine bloß einerseits unliebsame, weil geschäftsschädigende praktische Folge der florierenden Partnerschaft der EG mit ihrem östlichen Vorfeld. Denn andererseits ist man als Frontstaat des demokratischen Freihandels ja schließlich auch NATO-Partner und hat als solcher wieder ein sehr freies strategisches Urteil über Wirkungen und Perspektiven kapitalistischen Geschäfts mit dem und gegen den realen Sozialismus.
2.5 Die ‚Entwicklungsländer‘: Geschöpfe und Partner des Imperialismus
1. Die obersten Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft waren von ihren großen Denkern gerade ins Unreine formuliert, da demonstrierten die ersten großen praktischen Vertreter bereits, welche Härte in der Freiheit von Person und Eigentum steckt. Weltmännisch gestimmte Geschäftsleute machten sehr unbefangen deutlich, wie die Auffassung von der Konkurrenz denjenigen beizubringen war, die noch nicht bemerkt hatten, daß im europäischen Kapitalismus die der Menschennatur angemessene Lebensart zum Durchbruch gelangt war. Rücksichtslos exekutierten sie ihre Freiheit an fremden Völkerscharen und unterwarfen deren Lebensmittel den Maßstäben ihres Reichtums. Die Goldschätze der Azteken waren nicht geschaffen worden, um Europa als Weltgeld und nationaler Schatz zu dienen. Um sie dazu zu machen, bedurfte es der Gewalt. Die Gewächse Indiens hatten nicht wachsen dürfen, um als Handelsartikel für holländische und englische Kompanien die Geschäfte und die europäische Küche zu verfeinern. Auch dazu bedurfte es des tatkräftigen Einsatzes freier Europäer, die ihren bereits angeeigneten Reichtum zu einem Teil in lohnende Mittel der Gewalt verwandelten und ihre Eroberungen ohne Umschweife als Recht zu deuten wußten. Und was den Sklavenhandel mit afrikanischen Negern betrifft, an dem im Nachhinein die verletzten Menschenrechte bedauert werden, so darf man sich durchaus mit der Einsicht begnügen, daß es der Menschennatur der Schwarzen ebensowenig wie der von europäischen Opfern der ursprünglichen Akkumulation entspricht, sich als Arbeitskraft zu verdingen. Deswegen wurden sie zuerst einmal ge- und verkauft, und vor dem Wiegen und Zahlen bahnten Waffen dem Tausch den Weg.
Dabei waren sich die Eroberer von Menschenvieh und Natur noch nicht einmal klar darüber, welchen höheren historischen Zwecken ihr Wirken zugute kam - ebensowenig wie die christlichen Missionare wußten, daß sie in der Unterweisung wildfremder Leute zu gläubigen Gotteskindern einen historisch bedeutsamen Beitrag zur weltweiten Ausbildung des abstrakt freien Willens lieferten. Während letztere den kolonial beglückten Völkern einen Herrn präsentierten, zu dem sie sich bekennen konnten, machten die beutehungrigen Seefahrer sie mit einem Herrn bekannt, dem sie sich unterwerfen mußten. Denn sie sorgten mit der Verwandlung ihrer natürlichen Gebrauchsgegenstände in Eigentum dafür, daß ganze Völker nicht mehr so leben konnten wie bisher und nur noch überleben durften, wenn sie sich und ihre Produktion als brauchbar erwiesen für das Geschäft, aus dessen Erträgen die Waffen, seine Vorboten, bezahlt worden waren. So wurde aller Welt und allen Rassen der Maßstab des Geldes vertraut gemacht. Ihre Enteignung hat sie zu Knechten fremden Reichtums gestempelt, und ihr Dienst ist zur Bedingung Ihrer Existenz geworden - wobei die Nützlichkeit folgerichtig nicht von ihnen zu beurteilen war.
Die Gewalt, die diese segensreiche Entwicklung eröffnet hatte, war nun auch keine Frage des Zufalls und der Abenteuerlust mehr. Die .kontinuierliche Abwicklung des Handels, in den sie nun einbezogen waren, die ‚Sachzwänge‘ des Geschäfts, an denen manchen Leuten in den europäischen Hauptstädten so merkwürdig viel liegt, erforderten die regelmäßige und berechnete, also die politische Herrschaft. Wegen der Not der gepeinigten Völkerscharen allerdings wurde dies nicht zur Notwendigkeit. Die Konkurrenz um die weltweiten Quellen von Reichtum ließ die ‚Idee‘ vom starken Staat reifen, der über die Mittel und die Freiheit verfügt, vorhandene Interessen zu schützen und dafür vorsorglich immer neue anzumelden. Politiker und Militärs fingen an zu begreifen, daß sie mit ihrem Gewaltapparat das Mittel in der Hand hielten, welches das Gelingen allen ökonomischen Lebens in ihren Gesellschaften sichert und fördert; daß also jede Erweiterung ihrer Macht in und außerhalb der Nation nur Schutz und Fortschritt für alle Anliegen des Geschäfts sein konnte - eines Geschäfts, dem die verschiedenen Klassen, jede auf ihre Weise, ohnehin verpflichtet waren.
Die ‚politische Phase‘ des Kolonialismus, die endgültig jeden Erdenwinkel mit politischer Herrschaft - einem Grundbedürfnis der Menschen, wie Gelehrte versichern - versah, stand bereits unter dem Gebot strategischer Kalkulation, die jeden Flecken Erde samt lebendem Inventar für wichtig befand, insofern er in der Hand eines Konkurrenten die eigene Stärke beeinträchtigen könnte. Kein Souverän Europas wollte sich die Freiheit nehmen lassen, über möglichst viele Quadratkilometer, Personal und natürliches Inventar zu verfügen: dafür durften .Kostengesichtspunkte keine Rolle spielen, alle befanden es für lohnend, noch im tiefsten Afrika um die Festlegung regulärer Grenzen zu streiten - und vom künftigen ökonomischen Nutzen ihrer Reservate hatten die Kolonialmächte genauso wenig Ahnung wie einst die Abenteurer bei der Ausfahrt ihrer Galeeren. Es ging eben um das Recht auf jedweden Gebrauch, der sich von einem Stück Erde machen läßt; auch in der Weltpolitik geht die gewaltsame rechtsetzende Besitzergreifung, der Ausschluß aller anderen, der ökonomischen Benutzung des Eigentums voraus.
Eigentlich müßte es die Fans der besten aller Staatsformen verwundern, daß die Ära der großen Eroberungen mit der ‚Herausbildung‘ der großen Demokratien zusammenfällt. Wenn die eifrigen Befürworter demokratisch vollzogener Herrschaft keinen Widerspruch zwischen ihrem Ideal und dem weltweiten Aufmarsch entdecken, so liegen sie allerdings und ausnahmsweise richtig. Im Innern wie nach außen handelt es sich nämlich um den entscheidenden Schritt hin zu jener freien Betätigung staatlicher Souveränität. die dem Dienst der politischen Herrschaft an der Klassengesellschaft angemessen ist. Nach innen emanzipiert sich der Staat von jeder privaten Beschlagnahme und jedem partikularen Umgang mit seiner Gewalt: er legt die Bürger aller Klassen auf den Konsens bezüglich seiner Prinzipien fest und bedankt sich mit der Erlaubnis, in der Frage der geeigneten Repräsentanten und Exekutoren der Staatsgewalt einen heftigen Dissens zu organisieren. Zu den Prinzipien gehören außer Einigkeit, Recht und Freiheit auch noch Eigentum und Menschenwürde, womit der Staat die Unterschiede der Klassen und die Gegensätze zwischen ihnen nicht nur anerkennt, sondern ihre Aufrechterhaltung und Ihr effektives Funktionieren erzwingt. Grundbesitzer und Industrielle brauchen deshalb bei Wahlen auch nur eine Stimme - das Recht dieser Minderheiten auf Eigentum wird vom Souverän ebenso versichert wie die Freiheit seines Gebrauchs. Die Gespräche zwischen Regierung und ‚Wirtschaft‘, die sich um die Schranken des Wachstums und seine Beförderung durch den Staat drehen, sind das genaue Gegenteil eines Beweises für den Mangel an echter demokratischer Souveränität. Die Charaktermasken der politischen Macht befinden sich damit noch lange nicht ‚in den Klauen der Monopole‘ — sie beraten sich lediglich mit den unmittelbaren Interessenten am Wachstum, deren Erfolg sie als den ihrer Herrschaft verbuchen. Deshalb gibt es auch Gespräche über dasselbe Thema mit Gewerkschaftsvertretern, die denselben Erfolg für wünschenswert erachten, weil sie als gute Demokraten nur den Mißerfolg von Staat und Kapital als Grund für die Arbeitslosenziffern akzeptieren.
Ebensowenig berechtigen gemeinsame Reisen von politischen Lotsen und Industriekapitänen ins Ausland zu Zweifeln an der Handlungsfreiheit der Figuren, die im Namen der Nation handeln. Abgesehen davon, daß in einer funktionierenden Demokratie auch die Arbeitervertreter mitfahren, weil ihnen die Maßstäbe der Nation als die der Betroffenen geläufig sind, verlaufen nicht einmal erst im 20. Jahrhundert die außenpolitischen Manöver nicht nach den kleinkrämerischen Rechnungen, wie sie einem Geschäftsmann gut zu Gesicht stehen. Davon emanzipiert sich jeder imperialistische Staat in der Gewißheit, daß die Geltung der Nation in der Welt, ihr Einfluß auf andere Länder und ihre militärische Durchschlagskraft noch allemal das Beste auch für den Kommerz sind. Im Umgang mit konkurrierenden Staaten haben die Politiker der Moderne bemerkt, daß die Staatsgewalt nicht nur nach innen die unverzichtbare Voraussetzung für das Gedeihen des Privateigentums ist; sie kann auch nach außen gar nicht stark genug sein, um als diese Bedingung tauglich zu bleiben.
Und diesem Bedürfnis von gewissen Staaten, Weltpolitik zu machen, konnte sich endgültig keine Abteilung des Globus mehr entziehen. Ihm verdankt sich auch der seltsame Umstand, daß Milliarden von Erdenbürgern - sei ihre Heimat nun ökonomischen, politischen oder auch beiden Berechnungen unterworfen - damit zu kämpfen haben, daß sie am Leben bleiben. Denn dafür sind sie nicht mehr da. Als weltpolitische Manövriermasse sind sie gefragt, und das heißt nicht einmal in jedem Fall als brauchbare, also erhaltene Arbeitskräfte. Sie sind erwünscht und werden behandelt als treu dienende, nicht störende Untertanen einer Herrschaft, die an ihnen kein Anliegen entdeckt, dem sie sich verpflichten könnte.
Das Anliegen, dem die Herrschaft verpflichtet ist, haben umgekehrt ein paar tausend gelehrige einheimische Schüler der demokratischen Weltherrschaft für ihre Chance gehalten. Das nachhaltige Interesse an Ordnung in ihrer Heimat, das dieser gar nicht gut bekommen ist, haben sie verworfen, weil es als fremdes den einheimischen Interessen gar nicht entsprechen könnte, In getreuer Kopie demokratischer Gesinnung ist ihnen ein Programm der nationalen Befreiung eingefallen, das die Frage, ob sie denn lieber nichts hätten tun sollen, ad absurdum führt. Die Grundsätze antikolonialer Erhebung lauteten nämlich so:
- ein Volk braucht einen Staat, und zwar einen eigenen;
- ein volkseigener Staat ist einer, der von echten Volksgenossen gemacht wird;
- volkseigene Staatsmänner vertreten automatisch das Interesse des Volkes in der Welt;
- in der Welt vertretene volkseigene Interessen bedeuten zu Hause ein immerwährendes Unabhängigkeitsfest.
Zur Durchsetzung dieses Programms, das auf der demokratischen Ideologie beruht, daß Herrschaft als Nutzen der Untertanen zu machen sei, haben sich die Führer kolonialisierter Völker -mangels eigener Mittel - unter den konkurrierenden Großmächten Freunde beschafft. Diese sind vor allem in Sachen Bewaffnung sehr hilfsbereit gewesen und haben gezeigt, daß auch ein fremdes Interesse der nationalen Perspektive gute Seiten abgewinnen kann. So wenig die Kalkulation eines befreundeten Auslands, das sich für Unabhängigkeit stark macht, prinzipiell anderer Natur ist als die der Eroberer von früher, so geringfügig nimmt sich der Unterschied in der Lebensgestaltung einst und heute in diesen Ländern aus. Die Wahrheit der nationalen Befreiung ist eine weltbekannte Banalität: Heute darbt und stirbt die Manövriermasse der Weltpolitik nicht mehr in der Kolonie eines Mutterlandes, sondern im eigenen Entwicklungs- und Vaterland.
2. Die Gewinnung der Souveränität durch Befreiungskämpfe, die Erringung der nationalen Unabhängigkeit ist in ihrem Verlauf von Konzessionen auswärtiger Nationen abhängig: ohne ein auch mit den notwendigen Mitteln ausgestattetes Interesse kommt keine aufständische Armee oder Guerilla-Truppe zustande, und bisweilen arten die ‚Emanzipationsbestrebungen‘ in veritable Stellvertreterkriege verschiedener Abteilungen ein und desselben ‚Volkes‘ aus. Diejenigen, die von ihren künftigen Repräsentanten als die erwachten Subjekte der Befreiung gefeiert werden, entscheiden zwar mit dem Einsatz ihres Lebens über die Fortschritte des Krieges; dessen Ausgang jedoch ist eine Angelegenheit der Mächte, die sich der aktiven Beobachtung der Kämpfe verschrieben haben. Sobald dann aus dem ‚Konfliktherd‘, auf dem nicht nur West und Ost prinzipiell, sondern auch noch rivalisierende Staaten des freien Westens ihre Suppe kochen, eine freie Nation mit Fahne und Hymne geworden ist, kommt die Kunst der Politik zum Zuge, die sich um Stabilität müht.
Denn die ist ständig in Gefahr. Vom Standpunkt der an die Macht gelangten Elite werden zunächst die Konkurrenten aus den Tagen des Befreiungskampfes als ziemlich störend empfunden; wenn die sich gar noch mit auswärtiger Unterstützung und einheimischem Anhang über die letzten Gemetzel haben retten können, ist die innere Ordnung — die ja für den neuen Souverän die Bedingung ist, frei als Repräsentant seiner Nation in der Welt auftreten zu können" - noch Jahre nach der Unabhängigkeitsfeier nicht zu haben. In den Fällen, wo sich die etablierte Regierungsmannschaft zu einem anti-imperialistischen Aufbauprogramm bekennt, das mit Hilfe guter Beziehungen zu Moskau realisiert werden soll, ist sie sogar mit dem wuchtigen westlichen Interesse an Instabilität konfrontiert. Und ganz unabhängig von den bleibenden Ansprüchen auf Nicht-Einmischung, die dem Land gegenüber angemeldet werden, haben die Regenten befreiter Nationen immer erhebliche Schwierigkeiten mit ihrem Volk. Denn mit den Untertanen läßt sich trotz der Ideale von Demokratie und Sozialismus so einfach gar kein Staat machen - das Interesse an einer funktionierenden Staatsgewalt, die durch ihre ordnungsstiftenden Werke als irgendeine positive Bedingung der Reproduktion erscheinen könnte, existiert einfach nicht. Der Wille, Staatsbürger zu spielen, kommt ja in den Heimatländern der Demokratie nur zustande, weil die ökonomische Benutzung der Leute, ihre Unterwerfung unter die Konkurrenz und die damit verbundenen Beschränkungen von ihnen als Notwendigkeit akzeptiert werden, mit der man nur aufgrund der zusätzlichen Notwendigkeit der ordnenden Hand des Staates zurechtkommt. Wo hingegen keine Produktionsverhältnisse existieren, deren gewaltsame Absicherung von den Betroffenen zumindest als die Möglichkeit ihrer Reproduktion, als die Regelung ihrer abhängigen Arbeit anerkannt und gewollt wird, bleibt die Politisierung der Massen aus. Gerade an dieser ist aber den Herren befreiter Landstriche enorm viel gelegen; schließlich wollen sie durch die gelungene Unterwerfung ihrer Landsleute aus ihrer Nation etwas machen, über den Gehorsam und die Vollführung staatlicher Diktate auch ökonomische Brauchbarkeit herstellen.
Der Umgang der politischen Herrschaft mit Untertanen, die das falsche ‚Bedürfnis‘, regiert zu werden, gar nicht kennen, gestaltet sich bei aller Pflege echt demokratischer und sozialistischer Ideale einigermaßen brutal, so daß den interessierten Beobachtern der freien Presse immer hinreichend Stoff zur Verfügung steht, die ‚Unreife‘ anderer Völker und die mehr oder minder hergestellte Funktionalität des staatlichen Umgangs mit ihnen zu besprechen. Die wüsten Manieren bei der demonstrativen Herstellung einer Einheit von Staat und Volk, der extensive Gebrauch von Gewalt in der Konkurrenz um die Macht und in ihrer Ausübung sind überall auf dem Globus entsprechend den aus Kolonial- und Befreiungsgeschichte überkommenen Verhältnissen sehr differenziert entwickelt worden. Da gibt es im tiefsten Indien das von seinen Kolonialherren noch eine Verwaltung geerbt hatte, tatsächlich auch ein System parlamentarischer Umgangsformen. Allerdings ohne die staatsbürgerliche Illusion, mit der Wahlstimme über das Wohl der Nation und damit über das eigene Wohlergehen zu entscheiden - die Wähler der ‚größten Demokratie‘ machen ihr Kreuzchen für die angereisten Sahibs wegen einer Mahlzeit, die auf der Wahlversammlung verabreicht wird; bisweilen müssen sie auch die Stimme für einen oppositionellen Bewerber um die Teilhabe an der Regierungsgewalt unterlassen, weil ihnen sonst eine angeheuerte Bande der im Amt befindlichen Mannschaft das Slumviertel anzündet. Jahraus jahrein gefallen sich die mit Politik befaßten Cliquen darin, sich doch nicht ganz von den Zufällen demokratischer Mehrheitsbildung abhängig zu machen. Sie ziehen einfach die politischen Rivalen aus dem Verkehr - eine Technik, die auch in anderen Erdteilen beliebt ist. Lateinamerika ist eine Gegend, in der jeder zweite Staat hauptsächlich mit der ‚Rückkehr zur Demokratie‘ beschäftigt ist - so jedenfalls die Lesart der großen demokratischen Zeitungen der freien Welt -, zieht den Militärputsch den umständlichen Formen der politischen Willensbildung vor: und mit den störenden Elementen des Volkes, das seine zumindest partielle Benützung mit Rechtsansprüchen verbindet, wird ständig nach den Regeln des Bürgerkrieges verfahren. Auch für die einschlägigen Praktiken - ein Fußballstadion, in dem die Massen sich sonst zur Feier nationaler Größe auf dem Gebiet sportlicher Repräsentation versammeln, dient da schon einmal als KZ - hat man im Namen der unerläßlichen Stabilität hierzulande Verständnis; die Menschenrechte sind einige Bedenken wert, die gelungene Ordnung einen Staatsbesuch. Dieser bietet der lokalen Junta eine vorzügliche Gelegenheit für die Ankündigung des Vorhabens, sich demnächst auch noch oder schon wieder wählen zu lassen — und daß diese Wahlen zu sorgfältig inszenierten Akklamationen ausarten, weiß jedermann: die Loyalität wird mit dem Schein der Wahl erzwungen. Mit diesem Programm, das die Untertanen prinzipiell als Störung behandelt und doch die Sicherung der Herrschaft immer dem bürgerlichen Ideal einer unverbrüchlichen Einheit zwischen Führung und Volk entsprechend vornehmen will. warten auch die autochthonen Nationalstaaten des[schwarzen Kontinente auf. Ihre höchste Aufgabe sehen die christlich, demokratisch und sozialistisch inspirierten Führer darin, aus ihren Untertanen ein Volk zu machen, den Willen zum Staat in ihnen zu erzeugen. Und dafür erscheint ihnen das Instrumentarium faschistischer Politik gerade passend. Vom politischen Volksfest, das auf ebenso Inhalts- wie bedingungsloses Einverständnis mit den jeweiligen Machthabern zielt, bis zur Einheitspartei, die den Nationalstolz zum wichtigsten Programmpunkt erhebt - und der in Zaire der Einfachheit halber jeder neugeborene Untertan per se als Mitglied angehört -, von per Dekret aus der Taufe gehobenen Massenverbänden für Frauen und Kinder, aber auch für Arbeiter, die dann als Staatsgewerkschaften weder auf Löhne noch auf staatliche Leistungen achten, bis zum Führerkult ist für alles gesorgt, was den Zusammenhalt jenseits aller ökonomischen Grundlagen zu demonstrieren erlaubt. Die konkurrierenden Eliten, die meist die Parole ‚one man - one vote‘ gegen die alte auswärtige und weiße Herrschaft zu handhaben wußten, fälschen Wahlen, nach denen niemand außer ihnen verlangt hat. Und für die härteren Auseinandersetzungen bedienen sie sich hemmungslos der atavistischen Form, in der die Bevölkerung ‚politische‘ Interessen überhaupt als die ihren kennt. Sie benützen die kollektive Willensäußerung, in der sich die ganze Wucht der Unfreiheit zusammenfaßt, die Menschen eigen ist, die noch nicht aus dem Naturzustand herausgetreten sind: die Stammeszugehörigkeit ihrer ‚Bürger‘, um sie zu Kämpfen um eine Sache antreten zu lassen, für die ihnen nicht einmal ein Wort geläufig ist. Um der Politik eines Staates willen, den nur die Macher wollen, den sie auch nur für sich inszenieren, entfachen die Diplomaten des Negerrechts den beschränkten und lokalen Rassismus ihrer Untertanen - und der Welt bieten sie eine Negerphilosophie, in der die ‚Arbeit aus der Erde‘ die edelste und zur ‚Erweiterung des Seins‘ (Senghor) passendste ist. Mit diesem an westlichen Universitäten erlernten Geistesüberbau beweihräuchern die Anwälte echt schwarzer Souveränität die schlichte und brutale Tatsache, daß da Menschen, die sich in der Produktion ihres Lebens noch nicht vom Naturzusammenhang gelöst haben, mit den Mitteln moderner Kriegsführung ausgerüstet und zum unwissenden Instrument des politischen Konkurrenzkampfes gemacht werden, dessen Zwecke nur ihre alten und neuen Herren kennen.
Die ganze Vielfalt westlicher Staatenwelt, die unter zielstrebiger Ruinierung ihrer Völker eben diesen den vorzüglichen Genuß von Autonomie verabreicht, beruft sich in ihren Anstrengungen, eine eigene und somit gute Herrschaft zu veranstalten, nicht ganz zu Unrecht auf das Vorbild der großen erfolgreichen Demokratien. Denn diese, allen voran die USA, haben ihnen den rechten Gebrauch staatlicher Souveränität nach innen wie nach außen vorexerziert: Gewalt als Hebel fürs Geschäft, und das Geschäft als stetige Quelle von Reichtum, dessen Sicherung sich die reüssierte Nation dann angelegen sein läßt.
Allerdings hat das Vertrauen darauf, als unabhängiger Staat in der Welt des Imperialismus zu Reichtum und Macht zu gelangen, einen entscheidenden Haken: die Emanzipation nationaler Politik von der Ökonomie, die freie Pflege souveräner Gewalt bedarf zu ihrem Erfolg nämlich einer ökonomischen Grundlage, eines kontinuierlich erzeugten Überschusses an Reichtum, aus dem die Staatsgewalt finanziert wird und dem sie mit ihrem Einsatz daheim wie in der Welt eine lohnende Verwendung garantiert. Wo dies nicht der Fall ist, lohnt sich auch die schönste Kopie staatlicher Repräsentation und Diplomatie nicht, bleibt auch die perfekteste Unterdrückung die funktionellen Dienste schuldig, die sie sich als Perspektive zugutehält. So gewahren die auf ihre Unabhängigkeit so stolzen Führer der Staaten in Asien, Afrika und Lateinamerika die Härten des Erbes, von dem sie sich zu befreien wähnen: Ihre Herrschaft beruht politisch wie ökonomisch auf einem Interesse an ihrer Existenz, das auch über die Mittel verfügt, sie mit dem Inventar ihrer Selbsterhaltung auszustatten. Weil im Bereich ihrer Zuständigkeit diese Mittel nicht vorhanden sind, existieren diese mehr oder minder exotischen Souveräne nur, weil sich andere Staaten aus guten Gründen entschlossen haben, sie sich zu leisten.
Diese Entdeckung, die keinem der in anti-kolonialistischer Tradition regierenden Obristen, Bischöfe oder moslemischen Patrioten versagt bleibt, gerät freilich bei kundiger Beobachtung der Maßstäbe, die den imperialistischen Vorbildern abgelauscht sind, zu einer ganz anderen Weisheit. Im Vergleich zu jener Handvoll Nationen, die Geschichte machten und Weltwirtschaftsgipfel veranstalten, sind sehr viele Länder ziemlich ‚unterentwickelt‘.
3. Im Wunsch nach ‚Entwicklung‘ wird von seiten der maßgeblichen Männer den ‚Entwicklungsländern‘ die Unterwerfung unter die Prinzipien vorgetragen, die der Kolonialismus einst mit seinen Waffen exportiert hatte. Auch wenn höchstoffiziell die Sorge um das Brot der Bevölkerung ertönt - der Weg hin zur Perspektive des Überlebens läßt keinen Zweifel, daß es sich um den kleinen Umweg handeln soll, .der den national verfügbaren Reichtum mehrt, welcher nirgends auf der Welt zur Verteilung, gelangt. Und noch weniger Zweifel über den Gang der ‚Entwicklung‘, die in ihrem bisherigen Verlauf die schiere Ernährung unmöglich gemacht hat, gestattet die Art der internationalen Beziehungen, die von den Anwälten der Armen eingegangen werden. Diese Regierungen, stolz darauf, den Verdammten dieser Erde das erste Bedürfnis nach ‚Selbstverwaltung‘ erfüllt zu haben, sehen sich in ihrer neuen Rolle als Partner der ‚Industrieländer‘ erst einmal darauf verwiesen, durch Importe die sachlichen Mittel ihrer Herrschaft zu erwerben - und sich durch Exporte die finanziellen Mittel dafür zu verschaffen. Daß sie damit wenig ‚Entwicklung‘, aber einiges an Schulden zustandebringen, liegt daran, daß die landwirtschaftlichen Produkte ebenso wie die Bodenschätze — und darin erschöpft sich zuerst einmal der ‚Bestand‘ an Verkäuflichem - gar nicht als Geschäftsartikel produziert werden, die aufgrund des ihrer Erzeugung entspringenden Verhältnisses von Kosten und Marktpreis einen Überschuß garantieren; zum Geschäftsmittel werden die aufgrund besonderer klimatischer und geologischer Umstände vorhandenen Güter erst und nur, wenn sie vom Handels- und Industriekapital auswärtiger Mächte zu einem solchen gemacht werden. Sicher - in den Zahlungsbilanzen, die afrikanische und lateinamerikanische Staaten wie alle anderen führen, tauchen die Erzeugnisse des Landes als Handelsgüter mit regulären Preisen auf; doch heißt das, keineswegs, daß sie einer gewinnbringenden Produktion für ein zunächst im Lande erzeugtes zahlungsfähiges Bedürfnis entspringen, darüber das nationale Wachstum befördern und zur Steigerung desselben im Überschuß über die einheimische Nachfrage hinaus produziert werden. Andererseits stellen sie auch keinen (in einem nicht-kapitalistischen Sinn) hervorgebrachten Überschuß über wirklichen einheimischen Bedarf dar - diesem sollen sie ja erst durch die erzielten Erlöse dienen. Insofern treten die souveränen ‚Entwicklungsländer‘ mit ihren Exportartikeln das Erbe der kolonialen Behandlung ihrer ‚natürlichen Reichtümer‘ an.
Ihre Erschließung und Förderung bzw. Kultivierung und Ernte geschieht ausschließlich für - und ist daher auch in Gang gekommen durch - das Interesse einer ausländischen Ökonomie, die darin Mittel für ihren Fortgang und Fortschritt entdeckt hat und nutzen will. Auch sie stellen gewissermaßen, ihre Ausfuhr beweist es, einen ‚nationalen Überschuß‘ dar: aber eben nicht einen wirklichen Überschuß, der aus einer nationalen Mehrwertproduktion entspringt, sondern einen ‚Überfluß‘, den man nur in Anführungszeichen als solchen bezeichnen kann, weil er neben - und dieses >neben< heißt stets: auf Kosten - jeglicher Produktion für die Bedürfnisse des einheimischen Wirtschaftens zustandekommt. Folglich haben sie auch keinen einheimischen Wert: keinen Produktionspreis, mit dem ihre Produzenten auf dem Weltmarkt auftreten könnten und über den ihre Produktivität sich mit der ihrer Konkurrenten vergleichen würde; die Exportschlager der afrikanischen Staaten sind nicht 'Ware. Sie werden zur Ware und nehmen die Preisform an erst dann und nur dadurch, daß sie und wenn sie ihr Ursprungsland verlassen. Ihre Warenform verdankt sich dem Willen des zuständigen Souveräns, sich die Zulassung des Abtransports dieser Güter bezahlen zu lassen, und der Bereitschaft ausländischer Inhaber von wirklichem Reichtum, dafür zu zahlen.
So schreibt der Souverän eines rohstoffexportierenden Landes, um an seine Revenue heranzukommen, 'Listenpreise für seine Exportgüter vor, die entweder direkt seinem Handelskontor, also der Staatskasse zufließen oder als Berechnungsgrundlage für eine vom Käufer zu entrichtende Ausfuhrabgabe dienen; er verpachtet sein Land sowie Explorations- und Schürfrechte an ausländische Interessenten; er beteiligt sich an deren Investitionen, und zwar nicht mit wirklichem Reichtum, sondern mit der Verpflichtung seines ausländischen Geschäftspartners, die Fiktion einer staatlichen Kapitalbeteiligung zu akzeptieren und mit Gewinnanteilen zu honorieren; und wenn er die Dependancen einer ausländischen Firma verstaatlicht, dann findet weder Enteignung statt noch eine seriöse Finanztransaktion; vielmehr bekommt die Teilhabe des Fiskus an dem Reichtum, der anderswo aus den Schätzen des Landes gemacht wird, eine Rechtsform, mit der die Regierung sich explizit zu ihrer Verantwortung dafür bekennt, daß das Geschäft des ausländischen Investors kontinuierlich weiterläuft. In allen derartigen Staatsaktionen, einschließlich sämtlicher politischer Bemühungen um Absatz- und Erlösstabilisierungsabkommen mit den Käuferländern, betätigt sich der politische Wille, nicht: sich am Außenhandel einer nationalen Ökonomie auch noch fiskalisch mitzubereichern, sondern: die Verfügungsgewalt über das Land zu Geld zu machen. Und damit beweisen alle ökonomischen Aktivitäten der afrikanischen Staaten in Sachen Außenhandel, daß sie das ökonomische Subjekt ihres Exports überhaupt nicht sind.
Denn die tatsächliche ökonomische Nutzung der bereitgestellten Naturschätze: ihr Gebrauch als Mittel für die Produktion wirklichen Reichtums, und damit die Voraussetzung dafür, daß ihre Deklaration als Ware nicht bloß ein frommer Wunsch der exportwilligen Staatsgewalt bleibt, fällt ganz auf die Seite der ausländischen Nachfrage. Nur dort findet die Akkumulation von Wert statt, die es erlaubt, ihre aus Afrika importierten stofflichen Voraussetzungen überhaupt unter die Wertform zu subsumieren; und allein gemäß der Kalkulation mit dem Kostpreis der Produktion, die die konkurrierenden nationalen Kapitale dort einander aufherrschen, setzt das Interesse an afrikanischen Rohstoffen sich in Zahlungsbereitschaft um. Die mit Hilfe sämtlicher Ideale des Freihandels vorgebrachte Bettelei der afrikanischen Staaten um die Erlaubnis, mit ihren Gütern auf dem westeuropäischen Markt auftreten zu dürfen, bezeugt schlagend, daß hier keine Konkurrenz um ein zahlungsfähiges Bedürfnis stattfindet, sondern das Bemühen, den eigenen Artikeln überhaupt einen Preis zu verschaffen - ein Bemühen, dessen Erfolg völlig von der Bereitschaft der kapitalistischen Nationen abhängt, die angebotenen Güter als Bestandteil der Kosten ihrer nationalen Akkumulation in Kauf zu nehmen.
Praktischer Ausdruck und Verlaufsform dieser prinzipiell gegebenen Bereitschaft sind die Warenbörsen für Mineralien und Naturprodukte, die nicht zufällig in New York, London und anderen kapitalistischen Metropolen zu Hause sind. Sie sind das Mittel - nicht der Rohstoffexporteure, ihre Vorstellungen über einen hinreichenden Preis ihrer Angebote zu realisieren, sondern der kapitalistischen Käufer, das Zugeständnis eines Preises für Rohstoffe gleich so zu gestalten, daß dessen Höhe sich genau nach der tat-—sächlichen Profitträchtigkeit ihrer Verwendung, nämlich nach dem aktuellen Stand der Konjunkturen kapitalistischer Akkumulation bemißt. In der Tat sind diese Börsen der einzige Ort in der kapitalistischen Welt, wo wirklich Ernst gemacht wird mit der bürgerlichen Ideologie, Gebrauchsgüter bekämen ihren Preis durch das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage: Wo die Anbieter keine Kalkulation mit Produktivität und Profit in die Waagschale zu werfen haben, sondern bloß ihren Wunsch nach Geld, entscheidet wirklich die Zahlungsbereitschaft der Nachfrager darüber, was daraus wird. An die Stelle des Wertes, den kapitalistisch produzierte Waren in ihrem Produktionspreis haben, tritt da die freie Bewertung durch die Kundschaft - eine Art der ‚Wertbildung‘, die die normalen Gesetze der Warenzirkulation auf den Kopf stellt, eben deswegen der Spekulation ein weites Betätigungsfeld eröffnet, und allen Vorstellungen über Tauschgerechtigkeit mitsamt der daraus abgeleiteten Kritik an ‚strukturellen Ungerechtigkeiten‘ des Weltmarktes Hohn spricht.
Für die Finanz- und Wirtschaftspolitik der afrikanischen Staaten oder genauer: für ihre der Finanz- und Wirtschaftspolitik bürgerlicher Staaten analogen Aktivitäten folgen aus dieser An von Außenhandel lauter Paradoxien. Die Staatsgewalt bringt es so fertig, ihren Bestand zu finanzieren, ohne in ihrem Herrschaftsbereich über Quellen wirklich universal verwendbaren Reichtums zu verfügen, also ohne die dafür eigentlich unerläßliche Akkumulation. Ohne ein nationalen Überschuß repräsentierendes, also profitträchtiges Warenangebot betätigt sie sich als Außenhändler, indem sie die in ihrem Bereich vorfindlichen sachlichen Voraussetzungen einer möglichen, aber eben nicht existierenden nationalen Produktion zur Ware deklariert - selbstverständlich ohne ihnen damit doch die Eigenschaft eines mehrwertträchtigen Warenkapitals verleihen zu können. Sein Geschäft macht ein solcher Souverän somit durch die bloße Veräußerung seiner natürlichen Reichtümer, ohne durch diese Transaktion die Bedingungen für eigenen Reichtum zu schaffen und ihn zu vermehren. Wo die kapitalistischen Staaten den welthistorischen ‚Kunstgriff‘ praktizieren, ihre eigenen Unkosten zum Mittel der Akkumulation zu machen, bestreiten die politischen Souveräne Afrikas ihren Finanzbedarf mit einem ‚Geschäft‘, das die vorhandenen stofflichen Voraussetzungen sowohl für den Aufbau einer nationalen Produktion - die deswegen auch nicht zustandekommt- als auch für die Fortführung dieser trostlosen Sorte von ‚Geschäft‘ nur mindert. Und schließlich: Eben weil ihr Export grundsätzlich nichts mit Gewinn zu tun hat, sondern mit dem Ausverkauf der ‚Reichtümer‘ des Landes zur Finanzierung des existierenden Herrschaftsapparates dient, haben die als Verkäufer auftretenden Souveräne mit der Höhe des Preises für ihre als Mittel fremden Reichtums freigegebenen Rohstoffe ökonomisch nichts zu schaffen.
Dieser zuletzt genannte Zusammenhang wird gewöhnlich genau umgekehrt aufgefaßt: Daß die afrikanischen Länder es nicht zu einer eigenen funktionierenden Volkswirtschaft bringen, soll seinen Grund darin haben, daß sie an der Festsetzung des Preises ihrer Exportgüter zu wenig beteiligt seien. Dieser Auffassung- die nicht nur von den betroffenen Staaten in ihren entsprechenden Beschwerden, sondern heuchlerisch auch von ihren ‚Gesprächspartnern‘ in den westlichen Außen- und Entwicklungshilfeministerien und der dazugehörigen Weltöffentlichkeit vertreten wird - liegt ein reiner Idealismus der Souveränität zugrunde: die fromme Vorstellung, auf den Verkauf ihrer Naturschätze angewiesene Souveräne. dürften nicht einfach als besonders ohnmächtige Sorte von Verkäufern behandelt, sondern sollten als wirkliche Souveräne respektiert werden. Wahr ist an diesem Idealismus nur eins: Das, was sie anzubieten haben, ist eben tatsächlich keine Ware, sondern ihre politische Gewalt über die ‚Reichtümer‘ ihres Landes; und deswegen haben sie in die Preisgestaltung auch wirklich nichts anderes einzubringen als das politische Monopol über ihr Land. Daß sie nichts anderes geltend machen können, heißt allerdings alles andere, als daß die verehrte Kundschaft sich deswegen von Gesichtspunkten der nationalen Ehre und der internationalen Gerechtigkeit in ihrer Zahlungsbereitschaft leiten ließe. Und damit erwächst der Wirtschaftspolitik dieser Staaten ihr eigentümlicher Gegenstand.
Sie findet erstens auf dem Feld internationaler Konferenzen statt, auf denen die afrikanischen im Verein mit ähnlich beschaffenen Staaten ihren kapitalistischen Abnehmerländern höhere Preise abzuhandeln suchen. Das Druckmittel, das sie dafür zum Einsatz bringen können, ist nicht ökonomischer Natur, sondern die Drohung mit verschlechterten politischen Beziehungen - eine Drohung, die die imperialistischen Adressaten ziemlich kalt lassen kann, weil jeder Versuch, damit Ernst zu machen, den Ruin des betreffenden Landes zur Folge hätte. Die Ergebnisse derartiger Konferenzen sehen entsprechend aus. Entweder bleibt es bei Papieren, die das ‚Scheitern‘ der angestrengten ‚Einigungsbemühungen‘ bedauern und neue Konferenzen in Aussicht stellen. Oder es entstehen seltsame Ausgleichskonten bei der Weltbank, die mit der Verheißung, extreme Preisschwankungen nach unten ‚abzufedern‘, zwar nie den ‚Preismechanismus‘ der so vortrefflich funktionierenden Warenbörsen außer Kraft setzen, immerhin aber neben diesem den guten Willen der kapitalistischen Staaten zu politischer Rücksichtnahme demonstrieren - gelegentlich sind sie sogar für Investitionen gut, die den Abtransport der nützlichen Dinge aus Afrika beschleunigen helfen.
Die afrikanische Wirtschaftsdiplomatie gelangt also immer nur zu dem Ergebnis - wenn auch nicht zu der Einsicht -, daß sich mit einem Staat, der nur mit auswärtigen Finanzen zu machen ist, wenig Erpressung und noch weniger gutes Geld machen läßt. Die afrikanischen Souveräne orientieren sich daher - zweitens - in ihrer Wirtschaftspolitik an dem Ideal, ihr politisches Monopol über ihre nationalen Naturschätze zu einem ökonomischen Monopol auf ein für den Weltmarkt unentbehrliches Gut auszubauen, auf daß eine Konkurrenz der Käufer einsetzen möge, die ganz von allein die Preise in die Höhe treiben müßte. Auch hier bringen sie es allerdings über den frommen Wunsch nicht hinaus. Denn zum einen liegt es gar nicht in ihrer Macht, mit ihrem Güterangebot überhaupt wichtig oder sogar unentbehrlich zu werden: Darüber entscheiden allemal allein die Bedürfnisse der Kapitalakkumulation in den reichtumproduzierenden Nationen. Weniger oder womöglich nicht zu verkaufen, um so künstlich eine Konkurrenz um ihr spezielles Exportgut zu erzeugen, liegt ebenfalls nicht in ihrer Macht; denn damit würden sie unmittelbar ihre einzige Revenuequelle schmälern, die doch sowieso ihren Finanzbedarf nicht deckt (deswegen soll sie ja einträglicher gemacht werden!). Alle immerhin denkbaren und bisweilen auch unternommenen Anstrengungen schließlich, ihren Rohstoffexport zu steigern, garantieren ebenfalls keine höheren Exporterlöse. Im Gegensatz nämlich zu einem kapitalistischen Produzenten, der mit der Produktivität seines Kapitals gegen andere konkurriert und daher sein Geschäft voranbringt, wenn es ihm gelingt, seine Konkurrenten mit einem günstigeren Produktionspreis aus dem Felde zu schlagen, kann ein Rohstoffexporteur von einem größeren Marktanteil bei verringertem Preis nie den erhofften Vorteil haben. Umgekehrt freilich ist er bei gesunkenem Preis gezwungen, wenn er sich seine Einkünfte erhalten will, mehr zu verkaufen, was wiederum seinem Abnehmer alle Freiheit läßt, den Preis zu drücken - dies alles nach dem ökonomisch ganz unsinnigen Prinzip, auf dem sein Geschäft beruht, nämlich daß es bei ihm nicht um Rentabilität, sondern um die Deckung eines Finanzbedarfs geht. Das letzte Mittel afrikanischer Wirtschaftspolitik ist die Lizenzierung oder sogar Initiierung von Versuchen, in die Exportdomänen anderer rohstoffexportierender Länder einzubrechen - aller Kaffeeanbau in Afrika ist beispielsweise ein allerdings noch zu Kolonialzeiten eingeleiteter Angriff auf das brasilianische Kaffeemonopol, und derzeit finden Ghanas klassische Kakaopflanzungen Nachahmer im halben Kontinent. Das Ergebnis ist auch hier absehbar: Statt die Stellung des Exporteurs zu stärken, eröffnet sich so den Abnehmern die erfreuliche Perspektive einer härteren Konkurrenz der Anbieter.
Die Position eines wirklichen Monopolisten - der als ausschließlicher Verkäufer einer gefragten Ware aus der Konkurrenz der Nachfrager den Vorteil zieht, soviel verlangen zu können, wie die Zahlungsfähigkeit hergibt - ist und bleibt für die afrikanischen Staaten also ein Ideal. Das einzige Monopol, über das sie tatsächlich verfügen, ist das ihnen zugestandene auf politische Gewalt über ihr Land. ökonomisch ist dieses Monopol aber etwas rein Negatives. An sich selbst ist es nämlich überhaupt kein ökonomisches Mittel: es wird dazu erst durch ein ausländisches Interesse, dem es also nicht störend in die Quere kommen darf. ökonomisches Mittel des Souveräns ist sein politisches Monopol nur darin, daß dieser es sich abkaufen läßt - womit auch schon klar ist, daß es gar nicht sein Mittel ist: Es hat ja nur dadurch überhaupt Bestand, daß es sich gar nicht als wirkliche Schranke für das auswärtige Interesse an der Nutzung des fraglichen Herrschaftsgebietes betätigt. Die Geschäftsgrundlage ist somit gewissermaßen nach dem Muster politischer Korruption organisiert: als Geldzuwendung an die Staatsgewalt mit dem Zweck und dem Resultat, daß der ausländische Geldgeber sich der Schätze im Lande des ‚gekauften‘ Souveräns bedienen darf. Korruption ist aber nicht die tatsächliche Grundlage dieses Verhältnisses: sie ist nur der souveränitätsidealistische Schein, der die gesamte Wirtschaftspolitik dieser Staaten bestimmt - und deswegen auch bei jedem Regierungswechsel als Vorwurf gegen die gestürzten Vorgänger aufpoliert wird. Denn ohne derartige Geldzuwendungen wäre eine zum Vorteil ausländischer Interessenten zu beeinflussende Staatsgewalt über einen afrikanischen Landstrich überhaupt nicht existent. Von ihrer materiellen Grundlage her ist die afrikanische Exportökonomie daher zu fassen als die Alimentierung einer souveränen Gewalt durch die europäischen Staaten, deren Volkswirtschaften die Naturschätze des dieser Gewalt unterworfenen Landes nutzen. Als ökonomische Basis afrikanischer Souveränität erweist sich damit der politische Wille ihrer imperialistischen Handelspartner, in Afrika Staatswesen zu unterhalten und deren Herrschaftsapparate wie Souveräne zu respektieren: nur dadurch kommen dort respektable Verhandlungspartner für bestimmte kapitalistische Geschäftsinteressen überhaupt zustande.
Konsequenterweise unterliegt jeder afrikanische Souverän einer kritischen Einschätzung nicht nur durch die interessierten Kapitale, sondern zuallererst und in letzter Instanz durch die imperialistischen Regierungen, und zwar unter dem Gesichtspunkt, ob und inwieweit gerade seine Souveränität durch die Zulassung eines politischen Preises für seine Exportgüter erhalten werden soll. Ausgestattet mit sämtlichen Idealen internationaler Gleichberechtigung und Nicht-Einmischung, aber ohne je auf sie hereinzufallen, haben die westlichen Staaten dabei Großzügigkeit gelernt: Im Fall diplomatischer Extravaganzen eines Hintersassen bewährt sich auf Dauer noch allemal das Faktum, daß das politische Wohlwollen der kapitalistischen Mächte die Bedingung jeglichen Exportgeschäftes ist. Und wenn die afrikanischen Souveräne sich diesen Zusammenhang um so konsequenter zu Herzen nehmen, je irrelevanter ihr spezielles Rohstoff-‚Monopol‘ ist — mit seiner ‚Herrschaft‘ über den westeuropäischen Erdnußkonsum steht Senegal z. B. nicht besonders glanzvoll da und hat einen entsprechend gebildeten Präsidenten vorzuweisen -, so erfreuen sich umgekehrt die Souveräne über die wichtigeren unter ‚unseren" Rohstoffquellen um so intensiverer diplomatischer Aufmerksamkeit (und militärischer Unterstützung), was auf dasselbe hinausläuft. In allen Fällen basiert die afrikanische Staatsgewalt ökonomisch nicht bloß auf dem realen Überfluß, sondern zuallererst auf dem politischen Urteil der kapitalistischen Staaten, daß es sie als nützliche ‚Partner‘ geben soll.
Die Bezahlung afrikanischer Exportgüter ist folglich nicht mehr als ein politischer Kredit an die zuständigen Herrscher; ein Kredit allerdings, dessen Höhe sich nicht nach dem wirklichen Finanzbedarf dieser Herrscher richtet, sondern eben nach dem Stand der kapitalistischen Konjunkturen. Der Wille der imperialistischen Staaten, Afrika mit souveränen Herrschern auszustatten, hat deswegen seine eigene explizite ökonomische Gestalt neben der Revenue, die diesen aus dem Rohstoffabtransport zufließt: indirekten Zuschüssen, Finanzkrediten und ‚Entwicklungshilfen‘. Hier sind Transaktionen an der Tagesordnung, die nur der Form nach den Regeln des internationalen Zahlungsverkehrs genügen, weil es darin überhaupt nicht ums Geschäftemachen geht, sondern um die Erhaltung von Souveränen, bei denen die pure Existenz: die Gewalt über ihr Gebiet und die damit sichergestellte politische Verfügbarkeit der dort lagernden sachlichen Grundlagen des imperialistischen Reichtums, die ökonomische Zurechnungsfähigkeit nach kapitalistischen Maßstäben ersetzt. Da werden ‚Sonderkredite‘ zur Finanzierung notorischer Zahlungsbilanzdefizite vergeben, bei denen die Sicherheit, nichts davon je wiederzusehen, niemandem zweifelhaft ist und auf Zinszahlung schon gleich verzichtet wird - was dann, als wäre es doch irgendwie ein Geschäft, bei den Geberländern als ‚Zinssubvention‘ verbucht wird. Gespräche über Schuldenstreichungen finden statt nicht in der Erwartung, eventuell ginge es am Ende doch ans Zurückzahlen, sondern um des politischen Demonstrationseffekts willen: gibt der ‚Gläubigerstaat‘ sich großzügig oder spart er sich das noch auf? Staatsbankrott gibt es deswegen nicht, weil die Staaten Afrikas den entsprechenden Maßstäben einer regelrechten Haushaltsführung gar nicht erst unterworfen werden; wenn der Fiskus es irgendwo gar zu bunt treibt, nimmt sich der IWF mit eigenen Beamten der Finanzverwaltung an - so in Zaire. Der Haushalt einiger frankophoner Staaten wie Tschad, Obervolta oder Zentralafrika wird gleich von der Republik Frankreich als Unterabteilung ihres eigenen abgewickelt, ohne Einschaltung des Währungsfonds; und die ‚Franc-Zone‘ existiert nach wie vor - mit dem einzigen Unterschied zu den verflossenen Zeiten der ‚Communaute‘, daß das spezifizierende Kürzel ‚C.F.A.‘ hinter dem Geldnamen ‚Franc‘ nicht mehr ‚Colonie Francaise d'Afrique‘, sondern, ein schönes Zeichen für die politische Qualität des Französischen, ‚Communaute Financiere Africaine‘ bedeuten will. Und in einem Punkt gehen die imperialistischen Mächte in ihrer Fürsorglichkeit überhaupt kein Risiko ein: Waffenlieferungen werden gleich so gehandhabt, wie sie gemeint sind, nämlich nicht einmal der Form nach als Handelsgeschäft (es sei denn, es hätten sich auch einmal in Afrika ‚überhöhte Rohstoffentgelte‘ angesammelt, deren ‚Rücktransfer‘ energisch in Angriff zu nehmen wäre), sondern ohne große Umstände als milde Gabe und Ausbilder gleich inklusive.
Die Staatsgewalt in den afrikanischen Staaten beruht also auf einem politischen Kredit, den die kapitalistischen Staaten vor allem Westeuropas gewähren, weil ihnen an politischer Herrschaft dortzulande liegt; er befördert zwar die schönsten Geschäfte, wird aber selbst nicht mit geschäftlichen Maßstäben gemessen. Vom Standpunkt der imperialistischen Staaten aus, die das wirkliche Subjekt dieser Verhältnisse sind, erweist sich daher selbst der Rohstoffexport, so sehr er wie der Außenhandel eines regulären Souveräns organisiert ist, als etwas höchst Seltsames: als die teilweise Vergütung der vom Westen gezahlten faux frais der politischen Herrschaft dortzulande in landesspezifischen Naturalien, deren Bewertung ganz in den Zuständigkeitsbereich der großen Warenbörsen fällt - womit der ökonomische Vorteil des gesamten Unternehmens klargestellt wäre. Unter diesem praktisch maßgeblichen Gesichtspunkt unterscheidet der Außenhandel der afrikanischen Staaten sich also gar nicht groß von der zur Zeit wieder mehr in Übung kommenden Methode, die Herrschaft über einen Fleck des Globus dadurch in Geld zu verwandeln, daß dieser Fleck interessierten Weltmächten zu militärstrategischer Nutzung überlassen wird - seitdem die USA ihre ‚neue Linie‘ klargestellt haben, will so manches Land der ‚Dritten Welt‘ zur ‚Stabilität‘ seiner Region beitragen. Hier ganz genauso wie bei der Zurschaustellung nationaler Naturschönheiten für den internationalen Tourismus geht es in Afrika nirgends darum, einem heimischen Unternehmertum in Sachen Bau- und Dienstleistungsgewerbe neue Verdienstmöglichkeiten zu erschließen, sondern um Formen, die faux frais nationaler politischer Herrschaft ökonomisch funktional zu machen. Es ist daher auch kein Zufall, daß Aktivitäten dieser und sonstiger Art - Rosen und Paprika für den europäischen Winter, Safaris für Omas - sich weniger den Anstrengungen der einheimischen politischen Elite verdanken, ihrem Land zu einer potenten eigenständigen Volkswirtschaft zu verhelfen, als vielmehr dem Erfindungsreichtum von auswärtigem kapitalistischem Geschäftssinn bzw. idealistischen Entwicklungshelfern: ökonomisch geschieht dies alles unter der kritischen Forderung des Imperialismus, daß die Alimentierung politischer Herrschaft in Afrika sich immer mehr und möglichst auch noch dort, wo es sich bislang um ein reines Zuschußgeschäft handelt, irgendwie lohnen soll.
Dazu steht keineswegs die Tatsache im Widerspruch, daß auch Staatsapparate ausgehalten werden, deren beherrschtes Staatsgebiet samt Volk und Geziefer keinerlei profitliche Transaktion erlaubt. Einerseits ist der politische Einfluß auf eine vor Ort bestimmende Führung die unabdingbare Voraussetzung für eventuell sich noch ergebende Geschäfte, andererseits sind gerade in Afrika die politisch-militärischen Kräfteverhältnisse und die sie ausmachenden Koalitionen ziemlich bedeutsam für alle Sorten erwünschter Stabilität und Unruhe in den Gebieten und um sie herum, in denen auch ökonomisch etwas zu holen ist. Daß jeder Quadratkilometer von einem zumindest halbwegs kalkulierbaren, immer aber auch erpreßbaren Souverän beherrscht wird, liegt insofern stets im Interesse der imperialistischen Nationen, und die bunte Vielfalt tolerierter und verköstigter Regierungsmannschaften mit Sitz und Stimme in der UNO legt beredtes Zeugnis davon ab, daß der aufgeklärte Westen auch mit mancher Kuriosität zu leben und zu rechnen versteht, wenn sie sich als Ordnungsfaktor in einer von ihm prinzipiell benützten Welt bewährt. In dieser Rechnung, die im übrigen einen flotten Konkurrenzkampf der freien westlichen Nationen untereinander und mit dem Osten prägt, zählen rein politische Gesichtspunkte ohne Rücksicht auf den Profit - den ohnehin Kapitalisten und nicht Staaten machen.
4. So ist es gar nicht verwunderlich, daß in einem guten Teil der ‚Dritten Welt‘ die ‚Entwicklung‘ etwas anders stattfindet, als sich das die Idealisten der weltweiten Segnungen von Handel und Wandel erträumen. In den souveränen Anhängseln der ‚Ersten Welt‘ stellt die Staatsgewalt in ihrem Wirken prinzipiell einen einzigen Angriff auf die naturwüchsige Produktionsweise ihrer Bevölkerung dar; einen Angriff, der diese Produktionsweise nicht umwälzt, sondern gleichzeitig aufrechterhält und ihrer materiellen Grundlage beraubt. Die vielsagenden Kurzstatistiken der UNO- und sonstigen Weltalmanache weisen aus, daß in den afrikanischen Staaten in der Regel zwei Drittel bis drei Viertel der Bevölkerung von ‚traditioneller‘ Subsistenzlandwirtschaft leben, zwischen 80 und 90 0er ‚Erwerbstätigen‘ in diesem Bereich ‚beschäftigt‘ sind und die Verstädterung auch dortzulande zunimmt. Für ihre Selbsterhaltung kraft eigener Arbeit bleiben die Massen der afrikanischen Völker also darauf angewiesen, sich mit so kümmerlichen Techniken wie dem Brandrodungsfeldbau im tropischen Regenwald (der bei aller Kärglichkeit der Erträge den mit der Hacke bearbeiteten Boden in wenigen Jahren erschöpft und zur nächsten Rodungsaktion zwingt), der Wechselfeldwinschaft in ‚begünstigteren‘ Savannengebieten oder nomadischer Viehzucht in der Sahelzone und im ostafrikanischen Grabenbruch die nötigsten Lebensmittel zu beschaffen. Im Falle von Mißernten haben sie sich mit den Affen um jene ‚Wildfrüchte‘ zu streiten, derentwegen moderne ‚Entwicklungshilfe‘- Statistiken gelegentliche Einbrüche etwa bei der zentralafrikanischen Hirseproduktion verschmerzbar finden. Gerade weil diese urtümlichen Formen landwirtschaftlicher Produktion praktisch ohne Hilfsmittel auskommen, sind sie allerdings um so mehr auf eine Hauptbedingung ausgewiesen, nämlich auf stets neues Land; und genau diese Bedingung macht ihr politischer Souverän ihnen zunichte. In manchen Fällen genügt schon die bloße Deklarierung einer Staatsgrenze, irgendwo durch die Dreivierteiswüste gezogen und von ein paar Polizisten bewacht, um Katastrophen in der Reproduktion ganzer Stämme heraufzubeschwören, die dann hierzulande mit dem Zynismus des ‚wissenschaftlichen‘ Durch- und Überblicks als ökologische begutachtet werden: Allein weil die bewachte Grenze ein unkontrolliertes Herumstrolchen von Halb- oder Ganz-Nomaden durch verschiedene Staatsgebiete behindert, wird der Weideraum für die Herden unter das Existenzminimum gedrückt und so dafür gesorgt, daß dieser verringerte Raum durch Überbenutzung zusätzlich untauglich gemacht wird. Vor allem aber laufen praktisch alle wirtschaftlichen Projekte, die eine Regierung in ihrem Lande zuläßt oder inszeniert, darauf hinaus, der Subsistenzwirtschaft ihren notwendigen Raum zu nehmen, ohne ihrerseits für neue Subsistenzgrundlagen zu sorgen. Plantagen und Musterfarmen nutzen den Boden zweifellos intensiver und ertragreicher als die Subsistenzbauern, die sie verdrängen; aber sie nutzen ihn eben für die Ankurbelung des Exports, und zwar nicht durch die Erzeugung eines wirklichen Überschusses an Lebensmitteln, der dann ins Ausland geht - solche Überschüsse produziert von allen Staaten Afrikas allein die Republik Südafrika, die über ein Zehntel ihres Außenhandels mit Lebensmittellieferungen an ihre Nachbarländer bestreitet! -, sondern durch die möglichst ausschließliche Produktion für den europäischen Markt. Forstwirtschaft sowie Mineralienabbau dienen von vornherein nicht der Mehrung von Eßbarem, sondern allein der Erschließung der Naturschätze, mit denen die Staatsgewalt sich für auswärtige Interessen interessant machen kann, und dergleichen ist stets mit der ersatzlosen Vernichtung der Reproduktionsgrundlagen einiger Eingeborener verbunden; dasselbe gilt für all die vielfältigen ‚Projekte‘ wie Nationalparks, Raketenerprobungsgelände und dergleichen, die die zuständigen Souveräne in ihrem Bestreben, ihre politische Gewalt über viel Natur in klingende Münze zu verwandeln, sich von Scharlatanen aller Art gerne aufschwatzen lassen: Für alles, was Geld bringt, sei es die Besichtigung von Elefanten durch europäische Tierfreunde oder das Schwindelgeschäft deutscher Abschreibungsfirmen mit fluguntüchtigen Eigenbauraketen, wird beliebig viel Gelände rücksichtslos von seiner Einwohnerschaft ‚gesäubert‘, die ja nun mal kein Geld mehr bringt, seit sie nach Unterbindung des Sklavenhandels zumindest im Außenhandel nicht mehr als ein geschäftlich verwertbares Stück politisch monopolisierbarer Natur gilt.
Selbstverständlich geht auch diese planmäßige Vernichtung der Subsistenzgrundlagen der vorhandenen Menschen nicht ohne polit-ökonomische Ideale ab. Diese Ideale heißen >Schaffung produktiver Arbeitsplätze< und ^Integration der Subsistenzbauern in die Geldwirtschaft< und legen auf ihre Weise Zeugnis davon ab, daß die trostlos ineffektive und bornierte Arbeit der autochthonen Produzenten der politischen Führung insofern ein einziges Ärgernis ist, als nichts von ihren Früchten sich in ein Mittel staatlicher Revenue verwandelt. Die Realität, die diesen Idealen entspricht, ist der mit jeder öffentlichen Erschließungsmaßnahme den dadurch um ihre Subsistenzmöglichkeit gebrachten Einheimischen auferlegte Zwang, ihre Arbeitskraft für die erfolgreiche Nutzbarmachung der erschlossenen Naturschätze benutzen zu lassen: für einfache Landarbeit, einfache Minenarbeit und die beiden Produktionszweigen unmittelbar nachgeordneten, ebenso einfachen Aufbereitungsarbeiten, die manchmal bis zur Verhüttung von Erzen reichen, sich viel öfter aber auf die bloße Verpackung und Verladung auf Frachtschiffe beschränken. Dieser Zwang zur Arbeit - nicht für das Mehrprodukt einer einheimischen Volkswirtschaft, sondern für das Funktionieren auswärtiger Reichtumsproduktion und eine daraus abgeleitete Revenue des eigenen Staates - macht aus dem seiner Subsistenzgrundlage beraubten Bauern keineswegs einen regulären Proletarier, sondern einen Lohnsklaven, dessen Lebensunterhalt sich nicht an einem in Geld ausgedrückten Wert seiner Arbeitskraft bemißt, sondern häufig in Form von Wohnung, Verköstigung und Taschengeld verabreicht wird, auf alle Fälle nicht einmal die Illusion freier Verfügung über die eigene Arbeitskraft aufkommen läßt und auch noch nicht einmal für die nackte Subsistenz zu reichen braucht, weil es allemal, und für die erforderte einfache Arbeit schon gleich, genügend Ersatzkräfte gibt. Denn das ist das ganze ‚Geheimnis‘ der zunehmenden Verstädterung und der Differenz zwischen dem Anteil der in der Subsistenzproduktion Arbeitenden und dem - geringeren - Anteil der von ihr Lebenden: Die politische Vermarktung des Landes und seiner Natur setzt regelmäßig weit mehr Menschen von ihren Reproduktionsbedingungen frei, als in den entsprechenden Projekten Arbeit finden, erzeugt also ein zunehmendes Heer absoluter Paupers, die nicht wie die Arbeitslosen im Kapitalismus eine reguläre Abteilung unter den hauptberuflichen Opfern des Funktionierens dieser Produktionsweise darstellen, sondern den ökonomischen Abfall bei der Verwandlung afrikanischer Natur in eine Geschäftsgrundlage des westeuropäischen Kapitals. Und für diese Paupers gibt es eine Überlebenschance, wenn überhaupt, dann nur an den Hauptorten der ihre angestammte Subsistenzweise vernichtenden staatlichen Auslandswirtschaft: an den Hauptumschlagsplätzen des Landes — meist den Hafenstädten -, deren größter regelmäßig auch die Hauptstadt ist. Don bietet sich nämlich allenfalls die Möglichkeit, ein Stückchen des ins Land kommenden Reichtums an sich zu bringen und sich >in die Geldwirtschaft zu integrieren sei es durch Raub und Diebstahl - denn in den Metropolen gibt es immerhin überhaupt etwas zu stehlen und eine Infrastruktur von Hehlern; sei es durch Hilfs- und Tagelöhnerarbeiten oder Prostitution; sei es durch Eintritt in die Armee, die ihre Soldaten zwar auch kaum bezahlt, aber immerhin halbwegs verköstigt; sei es durch die Tätigkeit als Stimmvieh, Jubeltruppe oder gar als Freischärler im Dienst eines Politikers, sobald der es opportun findet, seinen Konkurrenzkampf um die Macht durch den Einsatz leicht - nämlich oftmals schon für ein paar Mahlzeiten - käuflicher Massen zu entscheiden; sei es schließlich, Krönung einer derartigen Laufbahn, durch noch so geringfügige Teilhabe an der Staatsgewalt, die ja noch dem letzten ihrer Polizisten die Gelegenheit eröffnet, sein Stückchen politischer Verfügungsgewalt zu (Bestechungs-)Geld zu machen.
Diese letzteren, die Glückspilze unter den Paupers, ausgenommen, läßt der Staat seinen städtischen Massen im übrigen genausowenig sozialstaatliche Fürsorge angedeihen wie den ländlichen: Wenn sie ihm nicht gleichgültig sind, so sind sie ihm hinderlich und werden entsprechend rücksichtslos beiseite geräumt. Fürsorge existiert demgemäß ausschließlich als das Ideal der praktizierten Rücksichtslosigkeit und wird überhaupt nur entweder von hartnäckigen Idealisten des Sozialstaats und der Caritas - die logischerweise allesamt aus dem demokratischen, christlichen oder sozialistischen Ausland kommen: Entwicklungshelfern und Missionaren samt Personal - oder von rivalisierenden Politikern im Zuge ihrer Konkurrenz als persönliches Gütesiegel in die Tat umgesetzt. Zu den Errungenschaften der letzteren Rubrik zählt der Einfall, angesichts der fortschreitenden Zerstörung der Subsistenzwirtschaft deren Restaurierung zum Heilmittel alles modernen Elends zu erklären und einige hundert Slumbewohner in idyllische Urwaldweiler umzusiedeln bzw. die bestehenden Dörfer demonstrativ zum Gegenstand höchsten staatlichen Wohlwollens zu erklären: so vor allem die Idee der ‚Ujamaa-Dörfer‘ in Tansania, wo unter dem Obertitel des ‚afrikanischen Sozialismus‘ die alte Produktionsweise nicht bloß zu einem naturwüchsigen Hort sämtlicher modernen staatsbürgerlichen Tugenden, allen voran der Solidarität, idealisiert, sondern auch als Inbegriff afrikanischer Überlebensweisheit praktiziert wird. Kaum anders sehen die modernsten Vorschläge und Pläne westlicher Entwicklungshilfe aus, den darbenden Afrikanern mit ‚angepaßter Technologie‘ unter die Arme zu greifen: Auch sie ergänzen das Ideal des Aufbaus einer geldwirtschaftlich funktionierenden Nationalökonomie um das Gegenideal einer Fortführung der alten Subsistenzwirtschaft unter den neuen Bedingungen. Weniger ‚Fehlschläge‘ als der Idealismus derartiger ‚Entwicklungsprogramme‘ erleben die Kirchen mit ihren Maßnahmen geistlich inspirierter geistiger und leiblicher Fürsorge: Ihre Missionsschulen funktionieren noch immer am besten, sind abseits der Hauptstraße oft sogar nach wie vor die einzigen und setzen dort immer wieder zahlreiche Zöglinge instand, das eigene ländliche Elend mit den immerhin vorhandenen Lebenschancen in den Metropolen ihres Landes zu vergleichen und sich auf der Grundlage ihres geweiteten intellektuellen Horizonts dort für sich selber bessere Chancen als daheim auszurechnen. Die Folge ist, daß nicht nur die unmittelbar aus ihren Wohngebieten verdrängten. oder um ihren ökonomischen Lebensraum gebrachten Subsistenzbauern die Slums der afrikanischen Städte kontinuierlich ausweiten; neben ihnen, vielleicht statt ihrer oder als ihre ‚Vorhut‘ landet dort auch ein Großteil derjenigen, denen eine regelrechte Sozialleistung zuteil wird - oft genug die einzige in ihrem Leben -, nämlich eine Ausbildung im englischen, französischen oder portugiesischen Alphabet und den für die Teilnahme an der Geldwirtschaft unabdingbaren Grundrechenarten der Mathematik und der Moral. Sie gehen, christlich gebildet, mit der Hoffnung in die Stadt, es den Großen ihrer Nation - fast durchweg selber Absolventen von Missionsschulen und bisweilen bis zum Bischofsamt avanciert! - nachzutun und sich einen Posten zu erobern.
Die Bevölkerung der afrikanischen Staaten ist also nicht nur nach dem vorpolitischen Kriterium der Stammeszugehörigkeit sortiert, sondern kennt verschiedene Sorten von Bürgern exakt gemäß dem politökonomischen Prinzip, nach dem die Staatsgewalt sich erhält. Es gibt eine - alle Gebildeten umfassende - Minderheit, nie gleichmäßig, aber grundsätzlich allen nationalen Völkerschaften entstammend, die in individuell unterschiedlicher Weise und vor allem in höchst unterschiedlichem Maße an der Finanzierung der politischen Herrschaft durch das interessierte Ausland partizipiert; sie betrachtet und handhabt ihre Regierungs- und Verwaltungstätigkeit ganz ‚sachgerecht‘, nämlich ganz entsprechend dem Fehlen eines inneren gesellschaftlichen Bedarfs an effektiver, dem Bürger irgendwie nützlicher staatlicher Verwaltung, als Ausnützung einer von oben oder von den jeweils Betroffenen finanzierten politischen Pfründe - eine Art von Revenue, die bei den untersten Chargen in Straßenraub mit staatlicher Autorität und staatlichen Waffen übergeht. Es gibt eine große Mehrheit von Subsistenzbauern, denen ihre ohnehin extrem kärgliche Subsistenz, von deren Überschüssen sich nach wie vor allenfalls ein Zauberer pro Dorf aushalten läßt, bestritten wird, weil sie jeder vom politischen Souverän lizenzierten Erschließung sämtlicher irgendwie interessierenden Naturmerkmale des Staatsgebiets nur hinderlich sind. Und es gibt Lohnsklaven und ein wachsendes Heer städtischer Paupers, die sich ihr Leben lang in der verzweifelten Anstrengung aufreiben, sich aus der notwendigen Aufbereitung und dem Abtransport der Naturschätze des Landes sowie den dabei am Rande abfallenden halb- oder illegalen Verdienstmöglichkeiten einen Lebensunterhalt zu beschaffen; den Subsistenzbauern haben sie nicht mehr und nicht weniger als die Chance voraus, irgendwie in eine staatlich gesicherte Existenz hineinzugelangen, sei es auch nur als Hausdiener eines besseren Elitenegers oder in ein noch so schlecht, aber eben mit einem festen Gehalt dotiertes Angestelltenverhältnis: mit dem letzten Sekretär der staatlichen Gewerkschaft oder Einheitspartei fängt bereits die ‚Elite‘ an.
Geben muß es schließlich auch noch eine gewisse Anzahl von Leuten, die den Umschlag des Geldes besorgen, das der politischen Elite aus dem staatlichen Auslandsgeschäft und dessen >flankierenden Maßnahmen< Entwicklungshilfe und Bestechung zufließt und von ihr ja auch verausgabt wird, die also aus dem Konsum der Geldeinkommensbezieher für sich ein Geschäft machen: kleinkapitalistische Gewerbetreibende - denn für große Kapitalanlagen existiert nirgends ein hinreichendes zahlungsfähiges Bedürfnis - im Bereich zwischen Subsistenzwirtschaft und Außenwirtschaft; Agenten ausländischer Unternehmer der Konsumgüterbranche; Projektemacher kleineren Zuschnitts; Händler mit Beziehungen und Auslandsverbindungen usw. Diese Sorte ökonomisch aktiver ‚Mittelschichtler‘ kann es allerdings nur geben ganz abgetrennt neben den erwähnten Volksklassen: Vom Pauper und Lohnsklaven, geschweige denn vom Subsistenzbauern, gibt es höchstens ausnahmsweise einen Übergang in diese Sphäre des privaten Kommerzes; wer andererseits eine Pfründe im Staatsdienst erobert hat, macht allenfalls darin Karriere, verfolgt aber bestimmt nicht das Lebensziel ökonomischer Selbständigkeit - ein Zweck, der ja, um üblich zu werden, genau das umgekehrte Verhältnis zwischen Staat und Privaten voraussetzen würde als das tatsächlich herrschende. Die hier einschlägigen Tätigkeiten (von der funktionierenden modernen Werkstatt bis zum Transportunternehmen und vom Bierverlag bis zum Import gebrauchter Luxusautos) sind daher nicht zufällig eine Domäne von geschäftstüchtigen Ausländern - vielen Griechen und Libanesen im Westen, Indern im Osten des Kontinents, die nicht selten eigens dazu ins Land gekommen sind, um die seltene Chance wahrzunehmen, praktisch ohne Kapital, nur mit technischem und geschäftlichem Geschick und einer gehörigen Portion Scharlatanerie, schnell ein Vermögen zu machen.
Beide Seiten, die Einheimischen wie die Auswärtigen, nähren aus dieser speziellen ‚Arbeitsteilung‘ ihren jeweiligen Rassismus: Die Geschäftemacher mit heller Hautfarbe verachten in den staatlichen Verwaltungsmenschen, für die Effektivität überhaupt kein sinnvoller Zweck ist, wie in den arbeitenden oder arbeitslosen Paupers, für die Mehrleistung sich ökonomisch nie auszahlt, den untüchtigen Schwarzen; die eingeborenen Paupers lassen sich unter dem Gesichtspunkt eines antikolonialistisch verallgemeinerten schwarzen Stammesstolzes gegen die geschäftstüchtigen Ausländer aufwiegeln; und die führenden nationalen Politiker halten es immer wieder einmal für opportun, durch derartige Agitation des Volkes Unzufriedenheit für ihren Konkurrenzkampf auszunutzen - am bekanntesten die einschlägigen Einfälle des Idi Amin, sein Volk von den indischen Händlern zu >befreien<, ganz als wären diese die Urheber des ugandischen Elends, und sich zur rassistischen Freude seiner Untertanen von einer Staffel Engländer durch die Straßen Kampalas tragen zu lassen.
5. Den Idealismus, die ‚Dritte Welt‘ müßte sich über gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen mit den ‚Industrieländern‘ entwickeln, in gewissen Proportionen am Reichtum dieser Weltwirtschaft partizipieren, wollte in einem Fall niemand so recht hochhalten. Die große Ausnahme sind die Ölstaaten - also ausgerechnet jene Souveräne, deren Exportartikel tatsächlich die für sie angenehme Wirkung aufweist, ein paar Milliarden abzuwerfen. Und das Ausbleiben der Freude darüber, daß hier einmal statt Schulden ansehnliche Dollarkonten zusammenkommen, verdankt sich keineswegs dem Mitleid mit den auch in Ölländern nicht verwöhnten Völkern - mit Demonstrationen gegen den Schah haben sich Studenten der BRD bei ihren Mitbürgern sehr unbeliebt gemacht. Vielmehr hat man sich der albernen Vorstellung bedient, ausgerechnet das öl werde aus einer großen Kasse der Nation bezahlt, sei zu teuer und brächte ‚uns‘ in Schwierigkeiten - die letzte Nutzanwendung aus dieser Mär zog der damalige Kanzler anläßlich der Konferenz von Cancun, als er den ‚Sparhaushalt‘, d. h. den bei erhöhten Staatsausgaben ausgeübten Zwang zum privaten Einteilen, flugs als Krise deutete und wieder einmal die Ölpreise zur Ursache erklärte. Jahrelang galten die Ölscheichs als ‚Erpresser‘, die unsere ölabhängigen Volkswirtschaften ins Ungemach stürzen; und die gelehrt klingende Beschwerde über eine ‚Eskalation des wirtschaftlichen Drohpotentials der Förderländer‘ nahm sich noch moderat aus gegenüber dem Befund, die OPEC stelle ‚nach unserem Recht eine kriminelle Vereinigung‘ dar.
Dem ökonomischen Unsinn gesellte sich der ökologische hinzu. Die Vorstellung, die Welt ginge aufgrund eines Energiemangels einer globalen Herausforderung nie dagewesenen Ausmaßes entgegen, wurde mitsamt der moralischen Lehre, ein anständiger Mensch hätte sparsam mit dem knappen Gut umzugehen, zu einer Popularität hinmoderiert, die gekonnt auf den kleinen Mann berechnet war - der muß nämlich wegen des Preises tatsächlich mit Strom und Benzin haushalten. Die ‚Marktwirtschaft‘ wandte die liberalen Methoden der Kalkulation an, um das Volk zur Tugend der Sparsamkeit anzuhalten, so daß für die Endverbraucher tatsächlich Energie zu einem ‚kostbaren Gut‘ wurde. Da kam es auch nicht mehr weiter darauf an, daß die Knappheitsvisionen des ‚Club of Rome‘ im praktischen Geschäftsgebaren seiner Mitglieder und Förderer keine Rolle spielten - um so mehr Anklang fanden sie bei grünen und alternativen Anhängern des Umweltgedankens.
Wie es sich für anständige Ideologien gehört, lassen sich anständige Menschen durch Fakten ebensowenig von ihnen abbringen, wie sie sich bei ihrer Übernahme von der Realität und irgendwelchen stimmigen Auskünften über diese leiten lassen. Wenn sich schon die Ökologie zur Ökonomie verhält wie die Astrologie zur , Astronomie, dann stört es einen Anhänger des ‚Knappheitsgedankens‘ auch nicht, daß die Ölförderung während der Hochkonjunktur dieser Lügen gestiegen ist wie noch nie; und noch weniger fällt ihr auf, daß die ‚Wirtschaft‘ am Energieerhaltungssatz nie irre geworden ist, deswegen mit dem gestiegenen Ölpreis auch andere Techniken, nützliche Formen der Energie zu erzeugen, für lohnend befunden hat. Was die politische Hetze auf jene ‚Neureichen‘ aus der ‚Dritten Welt‘ angeht, so bleibt sie zwar im Arsenal des Wirtschaftsjournalismus verfügbar, zugleich aber wird sie zunehmend abgelöst durch die Rede von ‚unseren Freunden‘ in Saudi-Arabien, die unbedingt das Beste kriegen müssen, was europäische und amerikanische Waffentechnik zu bieten hat. Doch auch dergleichen gab es schon zu den Zeiten, als keine imperialistische Karikatur die Erhöhung des Benzinpreises ohne einen diebischen und verschlagenen Scheich zu kommentieren wußte. Herzliche Staatsbesuche, groß dimensionierte ‚jointventures‘ seriöser Kapitalisten mit den orientalischen ‚Wirtschaftsverbrechern‘ und unbefangene Belieferung mit Kriegsgerät aller Art - dieser Umgang der angeblichen Opfer mit ihren angeblichen Erpressern ist durchaus nichts Neues. Inzwischen hat man reichlich Gelegenheit, offizielle Bastionen unserer Freiheit, Verbündete, Vernünftige und einige Unverbesserliche unter den Ölstaaten zu unterscheiden — eine der Konsequenzen jener von der NATO beschlossenen ‚weltpolitischen Entwicklung‘, die Zustände wie die im Folgenden beschriebenen immerzu überholt.
a) Bis vor wenigen Jahren machten die Ölkonzerne ihr großes Geschäft auf der Basis und mit Hilfe eines zeitweise geradezu exorbitanten weltweiten Überangebots an Erdöl; mit Kapazitäten, die bisweilen um ein Mehrfaches über der tatsächlich abgesetzten Fördermenge lagen. Die Entdeckung und Erschließung neuer Erdölfelder vor allem im Nahen und Mittleren Osten war dank der Konkurrenz der ‚Großen Schwestern‘ um die restlose Aufteilung sämtlicher Petroleumpfützen des Erdballs so rasch vorangekommen, daß der Verbrauch gar nicht Schritt halten konnte.
Garantiert war das Geschäft nach der einen Seite hin durch die Ausschaltung jeder Preiskonkurrenz, nämlich durch einen zwischen den Hauptkonkurrenten einvernehmlich festgelegten Mindestpreis. Bis zur Mitte des Jahrhunderts lautete dessen Formel ‚Golf plus Fracht‘: nirgends sollte Rohöl billiger zu haben sein, als es dem Gestehungspreis an der Südküste des seinerzeitigen Hauptexportlandes, der USA, zuzüglich der von dort aus theoretisch anfallenden Frachtspesen entsprach. Mit dem Fortschritt der USA nach dem Zweiten Weltkrieg zum größten Ölimporteur der Welt änderte sich nicht das Preisdiktat der amerikanischen Ölkonzerne, sondern allein ihre Berechnungsformel: weltweit maßgeblich wurde für die fünfziger Jahre der New Yorker Öl-Importpreis, also ein den Transport nach New York und die Versicherungskosten einschließender Preis, der so berechnet war, daß das Geschäft der US-Gesellschaften mit ihrem einheimischen Öl keiner Preiskonkurrenz durch Zufuhren von auswärts ausgesetzt war. Gleichzeitig war damit sichergestellt, daß keine andere Nation sich durch günstige Ölpreise einen Konkurrenzvorteil gegenüber den USA verschaffen konnte; dafür durften sie die Gewinne der Ölkonzerne finanzieren. (Ein schönes Beispiel für die pax americana nach dem Zweiten Weltkrieg.) Und dieser Mindestpreis lag stets um ein Vielfaches über den Unkosten auf den neuen Ölfeldern, die paar Cents an ‚royalties‘ und die paar tausend Dollar an Bohrlizenzen für die zuständige politische Herrschaft des jeweiligen Erdenwinkels schon mit eingerechnet. Die in den sechziger Jahren von einigen Ölförderländern erstrittene Festlegung von fob-(free on board) Exportpreisen, dem ‚posted price‘, auf den sich die Gewinnkalkulation der Ölkonzerne und damit die von den Förderländern durchgesetzte 100ge Beteiligung ihres Fiskus am Verkaufsgewinn beziehen mußte, bedeutete gegenüber dem vorherigen Zustand für die Ölgesellschaften kaum mehr als eine Änderung ihrer Abrechnungsmodalitäten, die für jede gewünschte Manipulation Raum ließen. Daher sahen sich denn auch diejenigen Förderländer, die in diesem Jahrzehnt eigene nationale Ölgesellschaften gründeten und mit einem Fördermonopol ausstatteten, mit einem Verfall ihrer Listenpreise konfrontiert, den die in die Rolle des Kunden gedrängten Ölgesellschaften diktierten - ohne daß dadurch deren USA-internes Geschäft in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Stets verdankte sich der Preis, zu dem die Verbraucher in den kapitalistischen Staaten an Ölprodukte kamen, einer freien monopolistischen Festsetzung durch die Öl-Multis - den sieben ‚Großen Schwestern‘ schlössen die ‚Independents‘ sich da gerne an! —, die dabei immer die Bedingungen ihres Geschäfts mit dem im eigenen Land gepumpten Stoff aufrechterhielten.
Bedingung für die problemlose Realisierung dieses Mindestpreises war auf der anderen Seite, daß das Erdöl in den ‚Verbraucher-Ländern‘ in allen seinen Anwendungsgebieten im Vergleich mit anderen Rohstoffen oder ‚Energieträgern‘ konkurrenzlos billig war; so billig, daß die Zunahme des Ölverbrauchs zwar noch mit erheblichem Abstand, aber doch rasch und kontinuierlich der Vermehrfachung des Angebots hinterherwuchs und die Ölgesellschaften nicht in ihrem Petroleum, sondern in Geld schwammen.
Kleinere nationale Ölanbieter, auch die mancherorts gegründeten staatlichen, existierten und existieren bis heute nicht in Konkurrenz zu den von den Großen gesetzten Geschäftsbedingungen, sondern auf deren Grundlage. Meist handelte es sich sowieso um gänzlich abhängige Vertriebsgesellschaften, die mit dem Abnahme- praktisch auch ihren Abgabepreis diktiert bekamen. Und soweit sie an eigene Lieferverträge mit den Staatsgesellschaften irgendwelcher Förderländer gelangten, konnten sie ja zusehen, wie sie mit ihren paar Millionen Barrels in die Konkurrenz einstiegen und die Preise drückten - sie haben es denn auch gar nicht erst versucht. Schon gar nicht ist der ‚freie Spotmarkt‘ in Rotterdam dafür eingerichtet worden oder je dazu angetan gewesen, im Ölgeschäft Marktkonditionen nach den üblichen Regeln der Konkurrenz herzustellen oder als Börse nach dem Muster sonstiger Warenbörsen zu fungieren. Bis heute dient er im wesentlichen dem Ausgleich kurzfristiger, nicht schon vorab gemanagter Schwankungen im Verhältnis von Zufuhr und Verkauf innerhalb der konzerneigenen Vertriebswege: Da erklärt schon mal die eine große Ölgesellschaft angesichts ihrer Ölbestände die Einschleusung einer Tankerladung in ihre Raffinerien für weniger lohnend und bietet sie feil; eine andere Ölgesellschaft kommt aufgrund ihrer momentanen Geschäftslage zum umgekehrten Schluß, läßt vielleicht auch einen Tanker etwas langsamer oder nach Japan statt nach Holland fahren und kauft ein; und die Nischen dieses Geschäfts sind immer noch groß genug, daß sogar noch ein Haufen Spekulanten und einige hundert oder tausend freie Tankstellen und Vertriebsstellen quasi als untergeordneter Puffer im großen Ölgeschäft davon existieren konnten und können.
Auf der Grundlage eines überreichlichen Angebots, um dessen Aufteilung zwar gegeneinander, aber nie zugunsten des Förderlandes konkurriert wurde (da wäre ja aus dessen politischem Monopol ein regelrechter Monopolpreis geworden!), und eines konkurrenzlos niedrigen Abgabepreises, um den nicht konkurriert wurde, ist es den Öl-Multis somit gelungen, die Ölversorgung der freien Welt von der Exploration bis zur Tankstelle in den Griff zu bekommen. Den nationalen Fördergesellschaften gegenüber, wo es sie gab, traten sie als alleinige Aufkäufer und Repräsentanten einer hinter dem Angebot zurückbleibenden Nachfrage auf, ihrer eigenen Kundschaft gegenüber dagegen als echte Monopolisten. Auf diese Weise haben sie bis heute verhindert, daß aus ihrem Verkaufsschlager eine ‚normale‘ Ware mit weltweiter Konkurrenz um den Produktionspreis wurde.
b) Die Zeiten eines problemlos niedrigen Monopolpreises für Erdöl gingen im Jahr 1973 abrupt zu Ende, und zwar mit dem kurzfristigen Lieferboykott einiger arabischer Länder und der Folge eines Unterangebots, das den in der OPEC kooperierenden Regierungen die Chance bot, den Abgabepreis ihrer nationalen Ölgesellschaften einseitig heraufzusetzen bzw. den Listenpreis der in ihrem Land tätigen Multis um einen entsprechenden Staatsanteil zu erhöhen.
Schon an dieser Konstellation des Jahres 1973 ist abzulesen, daß- entgegen dem ersten Augenschein - der Grund für die seinerzeitigen Preiserhöhungen, und für alle seitherigen gilt dasselbe, nicht in der politischen Absicht der Lieferländer liegt, sich höhere Einnahmen aus dem Geschäft der Ölkonzerne mit ihrem Rohstoff zu sichern. Schließlich war die OPEC bereits dreizehn Jahre zuvor gegründet worden und hatte seitdem noch nicht einmal ihr anfängliches bescheidenes Ziel verwirklichen können, dem Sinken ihrer Einnahmen entgegenzuwirken. Die politischen Maßnahmen einiger Regierungen mit dem Ziel, sich zum ökonomischen Subjekt des Ölgeschäfts zu machen, nämlich die Gründung nationaler Ölgesellschaften, die Übertragung von Förderlizenzen auf diese und eben der Kampf um eine einigermaßen respektable Verhandlungsposition gegenüber den Ölkonzernen, dem die Gründung der OPEC dienen sollte, hatten zwar manche rechtliche Formen der Abwicklung des Ölgeschäfts modifiziert, aber nicht das Geringste an den ökonomischen Prinzipien dieses Geschäfts geändert. Und die lauteten eben: niedriger Monopolpreis, deswegen dauernde Expansion der Absatzmenge, lückenlose einvernehmliche Aufteilung aller in Frage kommenden Fundstätten sowie gegen Null tendierende Gestehungspreise für den Rohstoff ab Quelle bzw. Grenze.
Es waren diese Prinzipien des weltweiten Ölgeschäfts, die zu Beginn der siebziger Jahre zu einer Modifikation ihrer eigenen Voraussetzungen führten. Auf der Seite der Nachfrage nach Erdöl hatte der niedrige Ölpreis seine Wirkung getan und den Markt für Erdölprodukte in dem von den Anbietern gewünschten Umfang ‚explodieren‘ lassen. Umgekehrt war die Aufteilung der Fördergebiete, in denen die Produktionsunkosten, d. h. die zugestandenen Abgabepreise in der gewünschten Relation unter dem feststehenden geringen Monopolpreis lagen, mit der Erschließung der Ölquellen des nördlichen und mittleren Afrika zu einem gewissen Abschluß gekommen, und erweiterte Zufuhr hätte zu gegebenem Preis nicht mehr die gewohnten Gewinne abgeworfen. Die logische Konsequenz, von der die großen Ölgesellschaften sicher zuallerletzt überrascht wurden, war die, daß in dem ‚Schicksalsjahr‘ 1973 erstmals die Nachfrage nach Öl das Angebot überstieg: nur deswegen konnte die Unterbrechung einiger arabischer Lieferungen zu einer zeitweiligen Ölknappheit in der westlichen Welt führen - und auch das nur, weil die Ölgesellschaften, statt ihren auf den Weltmeeren dümpelnden Tankschiffen die Order zu schnellerer Fahrt zu geben, ihrerseits beschlossen hatten, ihre Kundschaft das geänderte Verhältnis zwischen Nachfrage und Zufuhr spüren zu lassen und mit der Erhöhung ihrer Monopolpreise neue Konditionen für die lohnende Ausweitung des Nachschubs zu schaffen. Daß die Herrscher über die kostengünstigsten Fördergebiete auf dem Globus dabei mit der Vermehrfachung ihrer wahrlich minimalen Abgabepreise die Initiative ergriffen und mit ihrem kurzfristigen Ölboykott den politischen Anlaß zur Heraufsetzung des Ölpreises schufen, ändert nichts an dem ökonomischen Sachverhalt, daß sie damit keineswegs den Grund für eine veränderte Kalkulation im Ölgeschäft schufen - bei fortdauerndem Überschuß an Öl zum alten Preis hätte ihr ‚politischer Kraftakt‘ sich sehr rasch als peinlicher Fehlversuch herausgestellt! Wie souverän sie sich politisch auch immer vorgekommen sind und aufgeführt haben: ökonomisch haben sie nichts anderes zustande gebracht, als sich das Zugeständnis zu verschaffen, das die neue Kalkulation der Ölgesellschaften bereithielt. Denn deren Kalkulation ging auf eine fortdauernde, wenn auch weniger rasche Erweiterung ihres Ölabsatzes zu einem höheren Monopolpreis bei wieder rascherer Expansion der Ölzufuhr zu einem höheren Gestehungspreis - beispielsweise durch das bereits entdeckte, aber schwieriger zu fördernde Nordseeöl. Und innerhalb dieser Marge der für die lohnende Ausweitung des Ölgeschäfts erforderlichen Erhöhung des Gestehungspreises bewegte sich die politische ‚Erpressung‘ der Verbraucherländer durch Schah, Ölscheichs und regierende Generäle in Afrika! Danach brachte es dann keine Ölgesellschaft mehr fertig, ‚rote Zahlen‘ auszuweisen. Die Gewinne waren durch keinerlei Techniken der Abschreibung und auch nicht durch die werbewirksam ausgeschlachteten Mammutinvestitionen in aller Welt aus den Büchern wegzubringen.
Sämtliche nachfolgenden Ölpreiserhöhungen bis zu denen der ersten achtziger Jahre sind nach demselben Prinzip abgelaufen. Stets fand sich im Bereich des Orients ein politischer Anlaß, der die Souveräne der ölexportierenden Länder zu Preisforderungen beflügelte. Und allemal war es eine Revision der von den großen Ölkonzernen angestellten Berechnungen über die Unkosten einer erweiterten oder auch langfristig konstanten Erdölförderung, inzwischen auch der Produktion von Energie in anderen Formen, die den ökonomischen Grund dafür abgab, daß die OPEC sich eine Zeitlang nicht blamiert hat - und heute weiß, daß die Ära der Kraftakte vorbei ist. Andernfalls nämlich wären die nachdrücklichsten Preisbeschlüsse an einer um zwei Knoten beschleunigten Fahrgeschwindigkeit der konzerneigenen Großtanker gescheiten - statt dessen fuhren diese langsamer, außerdem seltsame Umwege und stützten so die neue Preisfestsetzung mit der gezielten Erzeugung eines Anscheins von Ölmangel. Inzwischen weiß jeder - oder könnte jedenfalls jeder wissen -, daß es den großen Gesellschaften gelungen ist, zu ihrem neuen Monopolpreis wieder mehr Öl beizuschaffen, als nachgefragt wird. Das schwimmt dann, weil alle Tanklager voll sind, monatelang in der Karibik, in der Nordsee oder im Japanischen Meer herum und bietet die sichere Gewähr, daß die Regierungen der Ölländer nicht zur Unzeit, wenn nämlich für die großen Konzerne eine erneute Neukalkulation ihres Geschäfts noch gar nicht ansteht, auf die Idee kommen, sich als autonome Urheber der Exportpreise ihres Rohstoffs aufzuspielen. Sogar ein so glänzender Anlaß wie der Krieg zwischen Iran und Irak und der Ausfall der Lieferungen beider Länder, eigentlich Anlaß genug für jegliche Preiserhöhung seitens der einschlägigen Scheichs, wenn für die Kostenkalkulation der Konzerne dafür Raum böte, verstreicht unter diesen neuen Bedingungen ‚ungenutzt‘ - nicht einmal verhandelt wurde über einen kleinen Kriegszuschlag (den gab es nur bei den Schiffsversicherern)!
Wie man sieht, geht sogar noch der vorübergehend in Mode gekommene gerechte Zorn über die Extragewinne der großen Ölkonzerne, deren Lagerbestände mit jedem neuen OPEC-Preisbeschluß ganz ohne jeden Aufwand im Wen steigen, ökonomisch in die Irre. Daß die stolzen Besitzer von Ölvorräten oder auch sonstige, inzwischen ungemein preiswerten Ölquellen die schmarotzenden ‚Windfall‘-Profiteure jener Preiserhöhungen wären, die ihnen aus Wien oder Riad unverhofft ins Haus schneien, ist ein politischer Schein, dem das genau umgekehrte Verhältnis als ökonomische Wahrheit zugrundeliegt. Die Potentaten, deren Öl fast umsonst aus dem Boden fließt, haben sich die seltene und absehbarerweise sehr vergängliche Chance erstritten, eben die Differenz zwischen dem von den Konzernen neu angesetzten Kostpreis des Öls und ihren tatsächlichen Unkosten für sich auszunützen - also vom ‚Windfall‘ der Konzernkalkulationen zu ‚profitieren‘.
Das stolze nationale Aufbegehren der Ölsouveräne hat die Ölgesellschaften auf die neue Lage von Angebot und Nachfrage in ihrem eigenen Geschäftsbereich aufmerksam gemacht. Seitdem nützen die Ölkonzerne die segensreichen Wirkungen eines solchen Monopolpreises, der es ihnen erlaubt, schon heute ihr Geschäft auf Grundlage eines Kostpreises zu kalkulieren, der in Wirklichkeit erst in mittelfristiger Zukunft anfallen wird. Und aufgrund und im Rahmen dieser Kalkulation fallen dann sogar noch für die Ölscheichs und Gaddafis einige Milliarden ab: als begleitende Randerscheinung!
c) Das westliche Kapital, weit entfernt davon, seine ‚Ölkasse‘ ständig aufstocken zu müssen, geht mit den höheren Ölpreisen wie mit den anderen Kosten um. Es handhabt sie als gestiegenen Vorschuß, der sich zu rentieren hat, so daß er im Preis der verkauften Ware seine Wirkung tut. Damit belastet die Kalkulation die allgemeine Zahlungsfähigkeit, und die Realisierung in Geld kriegen zunächst einmal nur die zu spüren, die die Kaufkraft ihres Lohnes schwinden sehen und mit den Anstrengungen ihrer ‚Arbeitgeber‘ konfrontiert werden, im Produktionsprozeß die Veränderungen vorzunehmen, die den Kampf um den Absatz der verteuerten Waren bzw. um die begrenzte Zahlungsfähigkeit erfolgreich gestalten. Von einer Krise - welche der wirtschaftliche Sachverstand immer bei veränderten Konkurrenzbedingungen ausmacht - kann freilich nicht die Rede sein. Denn für deren Zustandekommen bedarf es mehr als einer Verteuerung der Produktion. Daß zu gewinnträchtigen Investitionen ausersehenes Geld keine Anlage findet, also Waren unverkäuflich sind, Kredite nicht gegeben werden und die Produktion wegen mangelnder ‚Investitionsneigung‘, wegen mangelnder lohnender Anwendung von Kapital unterlassen wird -dazu muß das Geschäft schon gegangen sein. Und zwar bis zu dem Punkt, an dem die zahlungsfähige Nachfrage, auf die es zur Realisierung seiner Ware angewiesen ist, sich als überstrapaziert erweist. Die ‚Begründung‘ der Krise mit dem gestiegenen Ölpreis (wie etwa 1976) gehört in die ideologische Schatzkammer von Politikern und Unternehmerverbänden samt journalistischem Anhang und stellt eine bequeme Lösung der völlig uninteressanten ‚Schuldfrage‘ dar. Und wenn gar keine Krise eingetreten ist, verfolgt die Schuldzuweisung als Zweck die immergleichen Rezepte, mit den Schwierigkeiten der Konkurrenz in der Korrektur des Verhältnisses von Lohn und Leistung fertigzuwerden.
Der Anlaß für die Beschwörung von Krisen im Zusammenhang mit der Veränderung der Preise für Öl und aus ihm gefertigter Produkte ist deshalb auch immer ein ziemlich nationaler: die unterschiedliche Betroffenheit der Nationalökonomien durch die neuen Kostpreise, ihre Mittel, mit der neuen Konkurrenzbedingung fertigzuwerden - die Situation des Nationalkredits, die Währungsreserven, die Höhe der Mineralölsteuer, der Rückgriff auf eigene Ölvorkommen, deren Anteil an der Gesamtversorgung usw. -, schaffen auch ‚Probleme‘; und wirtschaftspolitische Maßnahmen sind in den armen ‚abhängigen‘ Ländern entsprechend unterschiedlich ausgefallen. Während die USA Zahlungsbilanzdefizite schon aufgrund der glücklichen Fügung, daß ihre nationale zugleich die Ölwährung ist, gelassen hinnehmen und die Regierung Carter im Frühjahr 1979 den Ölimport auch noch subventionierte, hatten manche Partner durchaus Sorgen um die ‚Zerrüttung‘ ihrer Währung und der ihrer lieben Nachbarn. Stützungskredite und Abwertungsdebatten waren da schon fällig - und eine Anleihe von ein paar Milliarden Dollars bei den Saudis ebenfalls.
Daß diese zu derlei Transaktionen bereit sind und überdies noch Kredite für die neueröffnete Rubrik der ‚nicht ölproduzierenden Entwicklungsländer‘ zur Verfügung stellen, zeugt einerseits davon, in welchen Fällen das Gerede von der ‚Verarmung‘ der Verbraucherländer zutrifft: dort, wo der auswärtige Handel eben ohnehin nicht Mittel des nationalen Wachstums ist, stellt ein höherer Preis für Öllieferungen eben tatsächlich einen durch nichts kompensierbaren Abfluß von Geld, eine unmittelbare Minderung nationaler Zahlungsfähigkeit dar. Diese Länder, die ohnehin vom Kredit leben, gewahren dessen Reduktion - was in den imperialistischen Ländern die scheinheilige Empörung über das Elend nährt, das mit den geldgierigen Ölscheichs in die Welt gekommen sein soll.
Andererseits gibt die ‚Anlage‘ von ‚Petro-Dollars‘ bei den besten Kunden und ihrem Staat einen Hinweis darauf, was selbst diese Ausnahmen unter den Ölstaaten in Sachen ‚Entwicklung‘ zustandebringen. Die Nutzung des politischen Monopols über einen Ölhaltigen Flecken Erde erbringt zwar einige Dollarguthaben, einen unübersehbaren Aufwand an Repräsentation sowie ein lebhaftes politisches Sicherheitsinteresse seitens der mächtigen ‚Verbraucherländer‘ ; aber eine einheimische Reichtumsproduktion - der Traum vom Nach-Öl-Zeitalter, in dem ohne Öl die arabische Halbinsel eine Industriemacht ist, kommt ja bisweilen auf - ist nicht in Sicht: die paar fertigen Fabriken, die da in die Landschaft gestellt wurden, ermangeln der Bedienungsmannschaft ebenso wie eines Marktes. Westdeutsche Wirtschaftsfachleute, vielleicht sogar dieselben, die als Berater bei der Erstellung eines petrochemischen Musterkomplexes fungiert haben, rechnen ihren Auftraggebern vor, daß ein lohnender Betrieb nicht abzusehen ist. Sämtliche Projekte erweisen sich als unproduktive Prestigeunternehmen, die nur in einer Richtung etwas bewirken: sie vervollständigen das Werk, das mit der Verwandlung des Staatsgebiets in eine Ölpumpstation vollbracht ward - den endgültigen Ruin der Insassen, die von Landwirtschaft leben. Eine andere Art von Reproduktion als die, die über die Anteilnahme - zivil oder militärisch - am Ölstaat organisiert ist, hat einfach keine Chance. Eingestanden haben die Scheichtümer das längst. Das Quantum Arbeitskraft, das sie für die Ölförderung benötigen oder auch für besagte Projekte, rekrutieren sie nicht bei ihren Beduinenstämmen, sondern in Taiwan und Korea; sogar 10000 Rotchinesen sollen gesichtet worden sein.
So wird aus dem akkumulierten Geld einer Nation, die in der Veräußerung ihres Bodenschatzes das einzige Mittel ihrer ökonomischen Behauptung hat, auch kein Kapital. Denn ihr ökonomisches Mittel ist das 01 gar nicht - und das Geld findet das Material für seine Verwandlung in Kapital folgerichtig nur auf dem Weg über die Kreditlinien des Kapitalmarkts, dessen Bedürfnisse in den USA und in Europa definiert werden.
6. Die Mehrzahl der Ölstaaten sieht sich freilich wie die anderen Nationen, die ihre ‚Entwicklung‘ im Rahmen der Weltwirtschaft zum Programm gemacht haben, vor Problemen ganz anderer An. Die Einkünfte aus ihrem Export reichen nämlich nicht zur Bestreitung der Ausgaben, die sie für das Funktionieren und die Repräsentation ihres Ladens tätigen. Im Namen ihres Volkes, das sie den Konjunkturen des Weltmarkts unterwerfen - so daß es für die Zahlungsbilanz seines Souveräns produziert und hungert -, melden Staatsmänner der ‚Dritten Welt‘ die Bitte um Hilfe an: ihre Kredite werden gestundet, in konzertierten Aktionen der den Weltmarkt bestimmenden Nationen in Schuldenkonten des IWF eingereiht; zugleich wird ein Abkommen des Typs Lome getroffen, das die Kontinuität der vom ‚Markt‘ erwünschten Ausfuhr mit einem Minimum an geldlichem Aufwand regelt. Ganz besondere Interessen an einem bestimmten Entwicklungsland kommen auch zum Zug; da kreditiert schon einmal ein EG-Staat ein Aufbauprojekt bei seinen speziellen Partnern, für die Infrastruktur muß schließlich gesorgt sein. Ohne das nötige Minimum an Straßen, Häfen und sonstigen Kommunikationsmitteln funktioniert eben nicht einmal der Abtransport der begehrten Güter. Doch hat diese Sorte Hilfe für die emanzipationsfreudigen Staaten den eindeutigen Mangel, daß sie die nachteiligen Beziehungen fortschreibt und außer den Bewohnern dieser Länder auch der Staatskasse jene Lasten aufbürdet, die das ganze Projekt namens ‚Entwicklung‘ zum dauerhaften Scheitern verurteilen.
Einige Staaten haben daraus die Konsequenz gezogen, den ökonomischen Grundlagen ihrer Herrschaft auf die Sprünge zu helfen, und versucht, eine nationale Akkumulation einzuleiten. Eine im Lande selbst stattfindende Produktion soll teils für den einheimischen, teils für den Weltmarkt liefern, so daß die Verschuldung ebenso ein Ende nimmt wie die ‚Abhängigkeit‘. Das Ideal der Industrialisierung bewegt vor allem lateinamerikanische Obristen, die in den von ihnen regierten Ländern alle Möglichkeiten lohnender Produktion entdecken: auf der einen Seite einen ungeheuren ‚natürlichen Reichtum‘, andererseits ein ‚Arbeitskräftepotential‘, das lediglich darauf wartet, angewandt zu werden, und nicht einmal unverschämte Löhne verlangt. Und in der Tat handelt es sich bei diesen beiden Posten nur um Möglichkeiten, deren zweckmäßiger Verwandlung in wirklichen Reichtum, so wie er auf dem Weltmarkt gezählt wird, nur eine Kleinigkeit im Wege steht. Die Souveräne, die ihre Untertanen und ihr Hoheitsgebiet mit den Maßstäben des Kapitals beurteilt, verfügen über keines. Als verschuldeten Nationen fehlt ihnen das Geld, um die Produktionsmittel zu erwerben, die jene schier unbegrenzt vorhandenen Produktionsfaktoren in Bewegung setzen - sie sind also auf das Interesse derjenigen angewiesen, die sich in der Geschichte der Zivilisation bereits bewährt haben: auf Nationen und Geschäftsleute, die über die Freiheit verfügen, alle sachlichen Materialien der Produktion zum Hebel ihrer Kapitalvermehrung zu erklären.
Dieser — vom Standpunkt eines ‚Entwicklungslandes‘ gesehen - mißliche Umstand verhindert seit geraumer Zeit nicht mehr die Entstehung von Industriebetrieben der verschiedensten Branchen in Ländern, die nicht bloß Opfer der Zirkulation von Waren bleiben wollten, die Gewinne nur für ihre Partner abwerfen, sondern selbst den Status eines Verwalters des erfolgreichen Produktionsverhältnisses anstrebten, an dem ihre Souveränität so lange ihre Schranke fand. Sie sind zu Mitmachern des weltweiten Kapitalmarkts geworden, allerdings nicht mit dem anvisierten Resultat einer florierenden nationalen Akkumulation. Und das ist gar nicht verwunderlich. Denn um in den Genuß einer eigenen Industrie zu gelangen, mußten sie zuallererst ihren Anspruch in ein Angebot kleiden: es erging an die Staaten der ersten Welt und ihre finanzkräftigen Bürger, signalisierte ‚Kooperationsbereitschaft‘, also die Bitte, doch die eigene Souveränität nicht als Hindernis für Investitionen zu betrachten. In Brasilien, dem Land, das exemplarisch alle Schritte dieser Art Entwicklungsprogramm vorgeführt hat, läßt sich studieren, was aus einer Nation wird, die den Übergang zur Anlagesphäre von Kapital ‚nachholt‘, weil ihre Führer im Anbau und Export von klimatisch begünstigten Agrarprodukten eine miserable Geschäftsgrundlage ausgemacht hatten.
Die erste Konsequenz, die dem ‚Entwicklungsland‘ daraus erwächst, daß sein Angebot akzeptiert wird, ist eine Vermehrung der Schulden; wenn die moderne Maschinerie für den Bau von Kraftwerken, Straßen und für eine eigene Industrie gekauft wird, dann auf Kredit - und um diesen zu bedienen, in Grenzen zu halten und die Kreditwürdigkeit zu erhalten, ist die Forcierung eben jener Exporte vonnöten, von denen die Volkswirtschaft nicht mehr abhängig sein will. Zum Geschäftsinteresse der Großgrundbesitzer gesellt sich das Anliegen des Staates, der um der Industrialisierung willen Devisenbeschaffung in ganz neuen Größenordnungen betreibt, also durch Sonderkredite, Prämien und Preisgarantien die extensive Ausbeutung von Land und Leuten befördert. Der Staat, der seine agrarischen Exporte für eine matte Quelle von Reichtum hält und von dieser Quelle loskommen will, setzt sie als Mittel für sein neues Programm ein und offeriert den Exporteuren durch seine Verschuldung die Freiheit für Spekulationen und Geschäftspraktiken, die für sie alles lohnend machen und darüber ein Warenangebot für den Außenhandel sichern.
Die zweite Konsequenz heißt Inflation. Denn die Handhabung des Nationalkredits zum Zwecke der Herstellung einer funktionierenden Akkumulation ohne die Grundlage bereits lohnender Geschäfte ist eine sehr direkte Vermehrung des Kreditgeldes, weswegen auch die Prozente der Inflationsrate etwas andere Dimensionen annehmen, als sie aus dem in imperialistischen Ländern üblichen Umgang mit dem ‚Währungsproblem‘ bekannt sind. Ungeachtet der ständigen Beteuerungen aller Regierungen des modernen Brasilien, die Inflation bekämpfen zu wollen, ist man längst dazu übergegangen, die Verfallsrate der Währung in Gesetze und Verträge aller Art einzubeziehen - also einzugestehen, daß sich dieser Staat bei der ‚Versorgung‘ des Geld- und Kapitalkreislaufes nicht an der wirklich erfolgten Akkumulation orientiert. Was in manchen anderen Ländern die Fortführung der ‚Industrialisierung‘ vereitelt und sie als verfehlten Weg der ‚Entwicklung‘ zum Abbruch bringt, wird da offensichtlich nicht zum Anlaß genommen, das ‚Projekt‘, Industrienation zu werden, aufzugeben. Der Staat richtet sich offenbar im Verfall seiner Zahlungsmittel wohnlich ein - und er verliert darüber nicht einmal das Interesse des Auslands. Er geht davon aus, daß das von ihm in Umlauf gesetzte Geld untauglich ist als verläßliche Kalkulationsgrundlage, und garantiert durch die wohltaxierte Vermehrung des Kredits doch wieder die Fortführung des Geschäfts. Eine solche Geldpolitik benützt die Finanzhoheit nicht zur Beförderung des laufenden Geschäfts und zur ‚Steuerung‘ von dessen Konjunkturen, sondern setzt sich über die Maßstäbe des Erfolgs und Mißerfolgs von Kapitalanlagen dauerhaft hinweg. Der Staat stiftet mit seiner inflationären Geldpolitik ständig Unternehmen und steht dafür gerade, daß die Anleger an der Geldentwertung keinen Schaden nehmen; daran, daß die Landeswährung eine sehr unsolide Form des Reichtums ist, will er die Geschäfte in seinem Land nicht scheitern lassen, so daß durch die Ruinierung seiner Währung die Rentabilität der Produktion sich herstellt.
Die dritte Konsequenz liegt in der Spekulation, durch die die besitzenden Klassen des In- und Auslandes den staatlichen Auftrag, durch ihre Geschäfte zur ‚Entwicklung‘ des Landes beizutragen, akzeptieren. Der Kredit fließt nicht nur reichlich, er honoriert den Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau auch im bequemen Schuldendienst; um den Anreiz zum ‚Einsteigen‘ zu erhalten, wird die Entwertung von Geld und Wertpapieren großzügig vorausberechnet und von der Staatsbank kompensiert, so daß die Akteure des so mit ‚Liquidität‘ versorgten Marktes die einheimische Währung als Durchgangsstufe einer unfehlbaren Rechnung benützen können. Sie müssen lediglich darauf achten, ihr in Geldform befindliches Kapital nicht dem Verfall preiszugeben, also ihre Guthaben in ‚harten‘ Währungen zu sichern; den Ankauf von Produktionsmitteln und Arbeitskraft vollziehen sie unter Benutzung nationalen Fremdkapitals in Landeswährung, die durch ihre staatlich vorangetriebene Inflation beim Verkauf die Freiheit der Preissteigerung genießen läßt - und das alles braucht noch nicht einmal wie in gewissen lateinamerikanischen Gegenden als ‚Monetarismus‘ veranstaltet zu werden, der auf Anraten von Milton Friedman und seinen Chicago Boys zur wirtschaftlichen Leitlinie erhoben worden ist.
Die vierte Konsequenz einer derart unbekümmerten Wirtschaftspolitik, die jeden Anleger kreditiert, wenn er nur verspricht, ein Stück nationaler Wirtschaftsmacht ins Werk zu setzen, führt der Staat aufgrund des Mißerfolgs seines projektierten Aufstiegs herbei. In der Akkumulation von Staatsschulden gewahrt er, daß er es zu einem Grad der außenwirtschaftlichen Abhängigkeit gebracht hat, gegen den sich der alte und ungeliebte Status einer bloßen ‚Handelsnation‘ fast vorteilhaft ausnimmt. Die Unterwerfung des Industrialisierungsprogramms unter die Maßstäbe ausländischer Investoren, die Einladung zur freien Benützung der ‚Möglichkeiten‘ steht an, weil der chronische Geldmangel den Männern des jeweiligen Planungsministeriums einen Unterschied zu Bewußtsein bringt: den zwischen Anleihen, die sie bedienen und zurückzahlen müssen, ohne es zu können, was die Kreditwürdigkeit in Frage stellt - und Investitionen auswärtiger Firmen und Banken. Während erstere die Auslandsverschuldung vergrößern und dem nationalen Fortschritt soviel Probleme bereiten, weisen wirkliche Investitionen diesen Nachteil nicht auf.
Allerdings gebieten sie einiges Zuvorkommen gegenüber denjenigen, die das ‚Risiko‘ auf sich nehmen, in Bergbau und Chemie, in der Auto- und Elektrobranche oder in der Viehzucht Lateinamerikas einzusteigen. Die bloße Erlaubnis und die niedrigen Lohnkosten sind denen, die kalkulieren, nämlich zu wenig. Damit ein Weltunternehmen, dem der Zugang zu vielen Anlagesphären offensteht, eine Auslandsfiliale für lohnend befindet, bedarf es schon einer gewissen Vorzugsbehandlung auf dem jeweiligen Kapitalmarkt - ein bißchen Steuerfreiheit, keine Umweltauflagen, freie Verfügung über Gewinne; ein möglichst niedriger Anteil an den Früchten des Risikos für den Gastgeber also ist schon fällig. ‚Auflagen‘ wie die, daß es an der Förderung und Verarbeitung der Rohstoffe im Gastgeberland mitzuwirken hat, läßt sich so ein Multi andererseits schon gefallen - ebenso wie er gern der ‚Kondition‘ nachgibt, weitgehend für den Export aus dem gastlichen Entwicklungsland zu produzieren: dieses Bedürfnis, das chronisch verschuldete und auf Devisenbeschaffung erpichte ‚Entwicklungsländer‘ anmelden, wird erfüllt. Flotte Realisierung der Gewinne auf dem gesamten Weltmarkt ist ebenso das Ergebnis wie die zoll- und abgabenfreie Einführung ganzer Fabrikanlagen die Voraussetzung. Die andere Abteilung des Versuchs, den Fortschritt vom ‚Entwicklungs-‘ zum ‚Industrieland‘ zu bewerkstelligen, trotz und nach der dabei erzielten Kombination von Auslandsverschuldung und Inflation, überlassen die kühlen Rechner in den Chefetagen von Weltfirmen dafür den mit ihrer Bilanz unzufriedenen Nationen. Wenn diese unbedingt dem ständig erneuerten Mißverhältnis zwischen Einnahmen und Zahlungen durch Importsubstitution begegnen wollen, so wissen Geschäftsleute Bescheid, daß dieser Entschluß sich vor jeder Gewinnrechnung blamiert. Mit der Erhebung von Zöllen auf die Waren, die im Inland produziert werden oder werden sollen, gesteht ein Land nämlich ein, daß diese Waren wegen ihrer hohen Kosten keinen Preisvergleich bestehen können; wenn zum Zwecke der Gewinngarantie Subventionen für diejenigen Unternehmen gezahlt werden, die zu teure Importgüter im Lande selber fertigen, so besagt das eben nichts anderes, als daß nichts zu teuer ist, wenn es ohne Devisen finanziert werden kann. In Brasilien, dem Musterland der hier skizzierten ‚Entwicklung‘, sind die Techniken zum Anheizen von Staatsausgaben damit gerechtfertigt worden, daß ‚die Auslagen in Cruzeiros anfielen und Ausgaben in US-Dollars für Importe verringerten‘ - so im Falle eines Werks zum Abbau und zur Verhüttung von Kupfer. Mit dem Gütesiegel mutiger und vorwärtsweisender Experimente wurde die Herstellung von Autotreibstoff aus Zucker und von Dieselersatz aus pflanzlichen Ölen versehen. Die Kosten für Charterschiffsraum, die zum Defizit in der Leistungsbilanz beitrugen, waren der Anlaß für den Aufbau einer nationalen Werftindustrie, die nun bei der Feier ihres 25Jährigen Bestehens über Nicht-Auslastung ihrer Kapazitäten klagt - denn inzwischen ist dem Wirtschaftsministerium klar geworden, daß solche Projekte das Importvolumen erheblich steigern. Sparprogramme sind an der Tagesordnung, das ‚Schwellenland‘ bekennt, sich übernommen zu haben.
Das Fazit des zum Regierungsprogramm gewordenen Wunsches nach ‚Entwicklung‘ ist im übrigen jedem Zeitungsleser bekannt. Aus dem brasilianischen ‚Wirtschaftswunder‘ ist - nationalökonomisch betrachtet - wie aus anderen Ländern derselben Bauart ein Konkursbetrieb geworden, der für die Nation nicht als Quelle von Gewinn, sondern nur zur Akkumulation von Verbindlichkeiten taugt. Daß dieser Betrieb weltweit anerkannt und kreditiert wird, die Nation also nicht von einem internationalen Gerichtsvollzieher ihrer Auflösung zugeführt wird, liegt allerdings nicht am Idealismus ihrer Macher, sondern daran, daß er sich für die auswärtigen Gläubiger und ihren Materialismus lohnt. Denn deren Rechnungen gehen allesamt auf, vom Abtransport der ‚natürlichen Reichtümer‘ bis zu den in die exotischen Landschaften gestellten Fabrikhallen. Und auch die Gastgeber, die Verwalter des fortschrittlichen ‚Entwicklungslandes‘, fahren nicht schlecht, auch wenn sie nach Jahren der Unterwerfung ihres Landes unter die Kriterien des Weltmarkts ihre Wirtschaft für ‚überfremdet‘ halten und mehr nationale Erträge wünschen, für die sich immer auch die politische Konkurrenz stark macht.
Genau umgekehrt sehen es allerdings die engagierten Investoren und Kunden des imperialistischen Auslands, sobald die Akkumulation von Schulden in ‚Entwicklungsländern‘ das Funktionieren des weltweiten Kreditüberbaus zu beeinträchtigen droht. Ihnen erscheint angesichts der Zahlungsunfähigkeit, welche die Konten von Geschäfts- und Nationalbanken erschüttert - Banken, die mit einer Krise, also eingeschränkten Anlagemöglichkeiten des von ihnen gehandelten Kredits konfrontiert sind und mit Verlusten kalkulieren -, der national verwirtschaftete Anteil am Geschäft zu hoch. Zur Vermeidung des Vertrauensschwundes in den Kredit, der weiterhin als Kapital taugen soll, beschließen die Sachwalter kapitalisierter und kapitalisierbarer Schulden, daß die Zahlungsunfähigkeit auf keinen Fall festgestellt und exekutiert werden darf. Unter ausgiebiger Verkündung von rührenden ‚Hilfsangeboten‘ an die insolventen Geschäftspartner verlängern und erweitern die maßgeblichen Geldinstitute und ihre nationalen Beaufsichtiger die Kredite - und erbitten sich bei den Konkursnationen die Bedingungen für die Fortführung des geregelten Verhältnisses zwischen Gläubiger und Schuldner: und die heißt Senkung oder Tilgung des in den ‚Entwicklungsländern‘ verbleibenden Ertrags. Damit wird zwar die Zahlungsfähigkeit nicht hergestellt noch gesteigert, stattdessen die Verfügung über Kredit und der Umgang mit ihm den Behörden und privaten Interessenten vor Ort untersagt. Wo diese über ‚Überfremdung‘ klagen, werden sie darauf hingewiesen, daß ihr Kapital nie etwas anderes war als ein konzessioniertes Geschäft, zu dessen Fortführung sie nun offensichtlich nicht mehr in der Lage sind. Den nationalistischen Projektemachern wird bedeutet, daß sowohl ihre wirtschaftspolitische Souveränität wie die Gewinne ihrer besitzenden Klasse überflüssig geworden sind - und einschneidende Maßnahmen der Expropriation anstehen: Umschuldungsverfahren und die Unterstützung ganzer nationaler Führungsmannschaften finden über den IWF oder durch bilaterale Abkommen statt- jedoch unter der Bedingung, daß das Geschäft seine Rentabilität ausschließlich im imperialistischen Ausland beweist. Als faux frais für dessen Interessen werden sämtliche nationalen Ansprüche behandelt, also sehr sparsam, was die Teilhabe der mexikanischen, brasilianischen oder anderer Staatsgewalten am ökonomischen Ertrag der stattfindenden Produktion betrifft. Sie sollen regieren und ihr Volk beaufsichtigen, die jeweiligen Souveräne, aber ihre Träume von nationaler ‚Entwicklung‘ aufgeben; ihre Exporterlöse sind, kaum gebucht, immer schon verpfändet; und wie ihr nächster Haushalt aussieht, wird nicht mehr in ihrer Hauptstadt beschlossen. Die finanzielle Souveränität über Geschäfte in ihren Ländern wird ihnen genauso entzogen, wie sie den in der Phase der Entkolonialisierung geschaffenen Souveränen einst übertragen wurde, so daß sich die regierenden Nationalisten in eigenem Interesse mit der Kolonialisierung unter dem weltweiten Kreditsystem abfinden müssen und in der Bedienung der Schulden beim engagierten Ausland die Prioritäten berücksichtigen dürfen, die mit der Hierarchie der ‚Industrienationen‘ und ihrer Gewalt feststehen.
Etwas anders sieht es schon immer für die Manövriermasse der ‚Entwicklung‘ aus. Das Volk bekommt nämlich die Anstrengungen seines Souveräns, durch die Beteiligung am internationalen Kapitalmarkt die Größe der Nation zu mehren, in aller Härte zu spüren. Daß es in Ländern mit diesem Programm ein ‚Privileg‘ darstellt, überhaupt zu den Lohnarbeitern von VW, Bosch oder Philip Morris zu gehören, sagt schon einiges über die Rücksichtslosigkeit aus, mit der jeder Schritt der Modernisierung gegen die Bevölkerung durchgesetzt wird. Die Verhältnisse, unter denen ein Bauer weitgehend außerhalb des Zugriffs staatlicher Verwendung seines Lebensbereiches, also ohne ‚in die Geldwirtschaft integriert‘ zu sein, sich und seiner Familie ein Auskommen sichern konnte, sind gründlich überwunden. Wo neue Industriezentren entstehen, hört das Leben auf. Außer für die Minderheit, die als Bewerber um einen Arbeitsplatz erfolgreich ist, nachdem sie den Musterungstest bestanden hat, ist die Existenz, das schiere Überleben eine äußerst fragwürdige Angelegenheit. Hunderttausende ‚wohnen‘ in den obligatorischen Slums rund um das betreffende Industriegebiet und befleißigen sich der seltsamen Ernährungsgewohnheiten, die den politischen Wortführern der Weltwirtschaftskonferenzen und der Entwicklungsgipfel das Material liefern, wenn sie das ‚Welthungerproblem‘ angehen. Die Behandlung des übrigen Landes nach dem Kriterium, ob es für devisenträchtige Rinderzucht, als Nebenerwerb von VW zum Beispiel, taugt oder eher für großzügigen Sojabohnenanbau, führt zu nicht minder harten Resultaten. Unter diesen Gesichtspunkten, die der Staat im Verein mit den interessierten Politikern und Wirtschaftsmanagern aus den USA und Europa zur Anwendung bringt, ist noch der letzte Flecken Erde im tiefsten Amazonien zu schade, um als Lebensmittel irgendwelchen Subsistenzbauern überlassen zu bleiben. Was dem politischen Souverän zugestanden wird - daß er sich und diejenigen, die für das Funktionieren der Ordnung zuständig sind, erhält -, ist eben für das in die ‚Weltwirtschaft‘ einbezogene Menschenmaterial keine Selbstverständlichkeit. Die Zerstörung der überkommenen Produktionsweisen führt nämlich sehr unmittelbar zur Verelendung, und nur sehr unbekümmerte Apologeten der ‚Entwicklung‘, die in der Verwandlung von ganzen Kontinenten in Anlagesphären ihren Inhalt hat, vermögen diesem Prozeß die Schaffung von Arbeitsplätzen als Zweck zuzuschreiben, um dann Mißernten, ökologische Katastrophen oder gar die gestiegenen ölpreise für die ‚Schattenseiten‘ verantwortlich zu machen.
Die Lüge, daß in den ‚Entwicklungsländern‘ Armut und Elend vorfindlich und ein moralischer Auftrag für diejenigen seien, die ‚mit 10 DM einem Bauern eine Hacke stiften‘ (dieser schöne Vorschlag stammt von Bundespräsident Karl Carstens im Rahmen eines Aufrufs zur ‚Welthungerhilfe‘), kontrastiert zwar offenkundig mit der Tatsache, daß die Wirtschaftspolitik der ‚Industrienationen‘ jene Armenhäuser als lohnende Anlagesphäre erst dahin gebracht hat, daß ihnen das ‚Hungerproblem‘ quasi als ihr Begriff und die ‚Bevölkerungsexplosion‘ als ihr Fehler zugesprochen i. werden kann. Dennoch gelten eher die Aussagen dieses Buches als zynisch, als daß einem demokratischen Staatsmann einmal etwas Ehrenrühriges nachgesagt wird, wenn er die von seiner Wirtschaftspolitik für ‚Entwicklungsländer‘ angerichteten Schäden als leider noch unzureichende Hilfe bezeichnet und die Opfer der Caritas seiner Untertanen anheimstellt. Während die Vollstreckung des kapitalistischen Maßstabs der Nützlichkeit an Millionen Menschen, ihre Scheidung gemäß der Brauchbarkeit für die Vermehrung fremden Reichtums von den Moralisten der Entwicklungshilfe als Versäumnis und Unterlassung verharmlost wird, verfallen die Idealisten einer nützlichen und guten Herrschaft angesichts der Terrorisierung, in deren Genuß die hungernden Massen bei jeder oppositionellen oder bloß störenden Regung auch noch gelangen, auf eine andere Kritik: sie vermissen Demokratie in den ‚Entwicklungsländern‘ und fordern die Menschenrechte für die geschundenen Kreaturen in fremden Kontinenten. Daß sie es bei den Zuständen, über die sie sich empören, mit einem genuinen Produkt der Demokratien zu tun haben, die Weltwirtschaftsgipfel veranstalten und deren Führer bei Gelegenheit - wie im Herbst 1981 in Cancun - über eine ‚Welternährungsstrategie‘ diskutieren, sei an dieser Stelle nochmals vermerkt.
7. Ungeachtet dessen, was aus der Natur und den Menschen wird, sobald sie zum Material des Weltmarkts deklariert sind, vermehrt sich außer dem Reichtum der ‚Industrienationen‘ auch die Anzahl der Subjekte, die an der Weltpolitik mitwirken. Sowenig die dem Kolonialsystem entsprungenen Souveräne über eine ihren Ambitionen entsprechende ökonomische Grundlage verfügen, so sehr wird ihnen mit der Anerkennung ihrer Zuständigkeit für die Ordnung in ihrem Herrschaftsbereich jene höchstförmliche Berechtigung zuteil, im Namen ihrer Nation, von Staat zu Staat, Beziehungen zu unterhalten und Interessen zu verfechten. Die Quellen für ihre Anliegen und Beschwerden sind kein Geheimnis: geworben und gefeilscht wird zuallererst um die Behebung ihrer Armut, wobei sich mühelos der Standpunkt der nationalen Zahlungsbilanz mit dem Elend der Massen verknüpfen läßt, deren politisches Mandat in der UNO so vielfältig vertreten wird. Entsprechend dem Vorbild der großen Demokratien, in denen schon längere Zeit der Grundsatz gilt, daß die Abhängigkeit der Untertanen von ihrem Staat dessen Erfolg zum Anliegen aller werden läßt, blüht unter Berufung aufs Volk daheim der Nationalismus der ‚Dritten Welt‘ auf - und gerät zur offenkundigen Farce. Denn die an der diplomatischen Börse repräsentierten ‚Bürger‘ sind gewöhnlich nicht nur mit Nahrungsmitteln, sondern auch mit der Kenntnis des Alphabets kaum ausgerüstet, so daß der politische Wille ganz getrennt in der Hand der Regierung liegt und als der des Volkes daheim in allerlei brutalen Techniken mobilgemacht werden muß - wenn er nicht für überflüssig erachtet wird.
Das Werben um besondere Berücksichtigung, das Staatsmänner der ‚Dritten Welt‘ in den hohen Zeiten der ‚Entwicklungspolitik‘ betrieben haben, hat von Anfang an darunter gelitten, daß ihnen außer speziellen Konditionen der Nutzbarmachung ihres Landes kein Mittel zu Gebote stand, die Aufmerksamkeit der ‚reichen Nationen‘ auf sich zu ziehen. Bei den einschlägigen Offerten verfielen sie, als gelehrige Schüler diplomatischen Verkehrs, zwar auf die Möglichkeit, die Interessen gegeneinander auszuspielen und ihre Nation als Mittel für den Meistbietenden ‚auszuschreiben‘; doch konnte ihnen die Wahrheit des Weltmarkts nicht lange verborgen bleiben: die Wirklichkeit entpuppte sich als Konkurrenz der ‚Armen‘ um wohlwollende Rücksichtnahme auf ihre nationalen Ressourcen. So gibt jeder Almanach Auskunft darüber, wieviel Bodenschätze und verfügbare ‚Arbeitskräfte‘ von den Gestaltern des Weltmarkts bisher zumindest nicht für geschäftsfähig erachtet werden.
Deshalb ist auch manchem Regime aus der ‚Dritten Welt‘ die Alternative in den Sinn gekommen, die der prinzipielle Gegensatz zwischen dem freien Westen, d. h. den ihn bestimmenden Wirtschaftsmächten USA und Europa, und dem realen Sozialismus eröffnet. Ob sich die nationalen Anliegen nicht besser an der Seite der Sowjetunion realisieren lassen - mit dieser Überlegung hat die Volksrepublik China den ersten Abschnitt ihrer nationalen Entwicklung bestritten. Mit dem Ideal des Sozialismus, der als offizielles Ziel schon für den Befreiungskampf nach der Spaltung von der Kuomintang ins Auge gefaßt wurde, machte die Partei um Mao Tse-tung insofern ernst, als sie sich - einmal an der Macht - so gut wie gar nicht auf die Geschäftsbedingungen des Weltmarkts einließ. Was den ‚Aufbau des Sozialismus‘ in China anbetraf, setzte die KP auf russische Hilfe, und wenn Notwendigkeiten der elementarsten Versorgung etwa zu Getreidekäufen zwangen, so wurde die Integration in den internationalen Geld- und Kreditmarkt prinzipiell vermieden, statt dessen mit Gold bezahlt. Das ‚Bauen auf die eigene Kraft‘, die Kalkulation mit der Arbeit von Millionen Chinesen als sicherer Reichtumsquelle sollte den Weg zur nationalen Größe bereiten, welche eine Zeitlang als unmittelbar identisch mit den Interessen des Volkes gelten konnte: schließlich hatte der ‚Sieg im Volkskrieg‘ nach Jahrzehnten des Kampfes wieder die Perspektive des Lebens eröffnet! Der Bruch mit Moskau gründete nicht in einer Gegnerschaft, die aus ökonomischer Benutzung zum Schaden der Chinesen resultierte, so daß sich die chinesische Führung im Namen ihres Volkes gegen die Ruinierung ihrer Wirtschaft durch sowjetische Bereicherungspraktiken zur Wehr setzen mußte. In der Auseinandersetzung zwischen den Regierungen wurde auch nicht über den Nutzen sowjetischer Techniker und Werkzeuge gestritten, oder um die Ausgleichung der chinesischen Handelsbilanz. Im Interesse des weltpolitischen Kurses, den Kommunisten gegenüber dem imperialistischen Lager einzuschlagen haben, konfrontierte die KP Chinas den Kreml mit dem Vorwurf des ‚Großmachtchauvinismus‘, ereiferte sich gegen die russische Strategie, über die Konkurrenz der Rüstung den Frieden sichern zu wollen - und bezichtigte die Sowjetunion nicht nur der Sabotage an nationalen Befreiungsbewegungen, sondern auch der ‚Zusammenarbeit‘ mit den USA, des ‚Entgegenkommens‘ in der ‚Atomerpressungspolitik‘, um ‚das sozialistische China an der Schaffung seiner nuklearen Verteidigungsstreitmacht zu hindern.‘ (Die chinesische wie die sowjetische Position, auch in bezug auf die Politik des sozialistischen Aufbaus, ist der ‚Polemik über die Generallinie‘ zu entnehmen.) Seiner Stellung zur internationalen Politik nach verrät ein solcher Einwand gegenüber der Sowjetunion durchaus das nationale Anliegen, auch im sozialistischen Lager möglichst schnell das gesammelte ökonomische und militärische Arsenal einer schlagkräftigen Souveränität zur Verfügung zu haben. Selbst in den Punkten, wo die KP Chinas den sowjetischen Umgang mit Befreiungsbewegungen und potentiellen Partnern in Afrika geißeln und den sehr berechnenden, aber wenig revolutionären Kurs der Weltmacht Nr. 2 treffen wollte, lag ihr sehr wenig an der Unterscheidung zwischen den betreffenden Politikern und den betroffenen Völkern, sehr viel jedoch an einem Internationalismus, der nach guter Sitte proletarisch hieß und als Respekt zwischen Staaten, ‚Nicht-Einmischung‘ und ‚eigener Weg‘ gemeint war.
Daß sich mit einer gegen den Imperialismus erkämpften Souveränität nicht auch gleich die Wucht weltpolitischer Bedeutung einstellt, welche die führenden Nationen des Westens über Kolonialismus, Krieg und kapitalistische Akkumulation daheim, die Sowjetunion durch einigen staatlich akkumulierten Reichtum und dessen Einsatz für die Selbstbehauptung als Militärmacht erlangt hatten, blieb auch nach der Spaltung des kommunistischen Blocks das Problem chinesischer Staatsmänner. Während es ihnen nach innen stets gelang, den speziellen Patriotismus des Volkes über alle Konkurrenzkämpfe um die Führung hinweg zu mobilisieren und unter der Losung ‚Die Massen vermögen alles‘ die Perspektive eines großen China im Jahre 2000 zu entwerfen, gewahrten sie durchaus und trotz einiger Atomversuche und eines Satelliten, der die Internationale vom Himmel herunterspielte, die Beschränktheit ihrer Rolle in der Welt. Daß nicht ‚nur‘ die Russen daran schuld waren, daß das ‚große China‘ nicht zustandekam, ist ihnen allerdings in eigenartiger Weise zu Bewußtsein gekommen. Nach einer Kulturrevolution, in der die politische Moral für eine Produktivkraft galt, die Wissenschaft und Technik ohne weiteres ersetzt; in der die Erfahrung der einfachen Knochenarbeit gegen alle rationelle Produktion hochgehalten wurde, standen sie mit einigen Prestigeobjekten chinesischer Schöpferkraft und einer revolutionären Operettenkultur, ansonsten aber mit einer Ökonomie da, die nicht einmal die kontinuierliche Subsistenz der Massen gewährleistete. Der Hauptfeind Sowjetunion erfreut sich mit seinem ‚kapitalistischen Weg‘ zwar weiterhin der chinesischen Feindschaft, die sich auch gelegentlich in der Unterstützung von antisowjetischen Befreiungsbewegungen und Nationen der ‚Dritten Welt‘ äußert - die Mittel jedoch, die die KP Chinas so schmerzlich vermißt, um das Ihre zur Weltrevolution beizusteuern, hofft sie über den Wechsel ins Lager der ‚Entwicklungsländer‘ zu gewinnen. Die Wende der chinesischen Außenpolitik, die im übrigen während des Vietnamkrieges eingeleitet wurde, nimmt sich wie die Karikatur einer Selbstkritik aus: Eine nationale Führung, die mit Parolen wie ‚Der amerikanische Imperialismus ist von den Völkern der Welt umzingelt‘, ‚. . . sitzt auf einem Vulkan‘, ‚. . . ist der bestialischste Feind der Völker der Welt‘ die Weltpolitik auf den Kopf stellen wollte, wirbt inzwischen um die ökonomische und politische Indienstnahme ihrer Gesellschaft - durch die USA und Europa. Ausgerechnet darüber soll im Verein mit der unerbittlichen Gegnerschaft zur Sowjetunion aus China etwas werden!
Die ersehnte ‚Unterstützung‘ wird China seither auch zuteil - allerdings mit einer Maßgabe, deren Wucht offenbar sogar der ‚reformfreundlichen‘ Führung einen gewissen Eindruck gemacht hat: Sie geschieht, wenn überhaupt, zu den Konditionen der westlichen Polit- und Geschäftswelt, die es in sich haben. Beispielsweise als Export‚chance‘, für die die westlichen Abnehmer Gebrauchswert und Preis diktieren; als Güterlieferung, für die dasselbe gilt; als Kredit, der dem Land mit jedem so finanzierten Fortschritt erweiterte Zins- und Tilgungsverpflichtungen, erweiterten Kreditbedarf und eine entsprechend erweiterte Geschäftemacherei mit der ‚Volkskraft‘ auferlegt, auf die die Führung dieser Volksrepublik ja seit jeher baut. Das politische Ideal, aus China eine respektierte Macht werden zu lassen, wird auf diese Weise wahrgemacht. Auf seinen Realismus reduziert, erlaubt es der souveränen Staatsgewalt in Peking, als bedingter Teilhaber des Nutzens aufzutreten, den die Führungsmächte von Weltwirtschaft und Weltfrieden aus der strategischen Bedeutung, den Bodenschätzen und einer beschränkten Benutzung des so umfänglichen Volkes ziehen.
8. Auch andere Länder haben den Irrtum, der Ost-West-Gegensatz ließe sich für ihre ‚Entwicklung‘ ausnützen, längst gebeichtet. Allerdings ist ihr ‚Lernprozeß‘ nicht so spektakulär verlaufen wie der chinesische. Nationen wie Ägypten haben keine weltkommunistische Strategie erfunden und sich deswegen mit der Sowjetunion zusammengetan und auseinandergesetzt. Dem Staatsmann Nasser erschien seine nationale Sache zunächst einmal, wie anderen Potentaten der arabischen Welt auch, durch den Staat Israel gefährdet. Von dem Bündnis mit der Weltmacht Nr. z erwartete er sich die militärische Garantie der ägyptischen ‚Entwicklung‘, und was dieser an ökonomischen Mitteln fehlte, sollte durch die Nationalisierung des produktiven Eigentums, Handel mit dem Westen und dem Osten sowie dessen Hilfe zur Herstellung größerer Produktivität vor allem in der Landwirtschaft geschaffen werden. Die Bekehrung, die Lösung der politischen ‚Bindung‘ an die UdSSR, die Sadat vornahm, ist das Ergebnis verlorener Kriege, akkumulierter Schulden und der Sorge um ein Denkmal sowjetischer Entwicklungshilfe, den Assuan-Staudamm, über dessen Nutzen und Kosten die Gelehrten ökologisch-ökonomisch streiten. Daß man als Freund Amerikas besser fährt, ist inzwischen weltweit zum weitsichtigen Vermächtnis Sadats erklärt worden. Und dieser Erkenntnis schlössen sich auch Staaten an, die sich von den militärischen Zuwendungen der Sowjetunion Erfolge in der Bestreitung ihres lokalen Nationalinteresses versprachen, dabei aber auf keinen grünen Zweig kamen, sei es, daß sie der politischen Feindschaft der USA und ihrer Freunde nicht gewachsen waren, die ökonomische Grundlage ihres Gemeinwesens den Dienst versagte oder beides!
Gerade die arabischen Staaten liefern für die sehr beschränkten Perspektiven, die ein in die außenpolitische Selbstbehauptung verwandelter Nationalismus, der Anspruch auf Erhaltung und ‚Entwicklung‘ nationaler Größe hat, die eindeutigsten Materialien:
- Ihr Panarabischer Internationalismus betätigt sich als negative Gemeinsamkeit gegen Israel, mit dem der freie Westen - sogar noch unter Zustimmung der Sowjetunion - eine militärisch-strategische Gründung gegen den Einspruch ihrer geballten Souveränität vorgenommen hat; eine Gründung, gegen die mehrere Kriege, finanziert durch Öleinkünfte und mit Waffenhilfe der Sowjetunion, nichts ausrichten konnten.
- Ihrem positiven Inhalt nach verweist diese Gemeinsamkeit nicht auf ein materielles Interesse einer nationalen Ökonomie, von der sich die Untertanen abhängig wissen und um dessentwillen sie zu Parteigängern ihres Staates werden. Im Idealismus des gemeinsamen Glaubens, des Islam, gründet die militante Bereitschaft, der ‚arabischen Sache‘ zum Recht zu verhelfen.
- Dem Staat und dieser ‚Sache‘ zu dienen, wird zur einzig sicheren Erwerbsquelle, wo das öl und sein Abtransport die ganze Ökonomie der Nation definiert: ein Ölstaat unterhält eine Militärgesellschaft, und seine auf die Kontinuität der Einkünfte gerichteten Interessen bringen die Solidarität der Moslem-Brüder verschiedener Nationalität bisweilen ins Wanken;
- und zwar einerseits im Rahmen des anti-israelischen Programms, bei dem die Ölpotentaten die Finanziers spielen, auf die ‚Weltwirtschaft‘ Rücksicht nehmen und sich von ihrer westlichen Kundschaft auch einmal zur Sanftmut überreden lassen - während die Habenichtse an der radikalen Verfolgung der ‚Sache‘ Gefallen finden;
- andererseits im Rahmen der Konkurrenz um das Geschäft, das die Nutznießer des Öls zum institutionalisierten Streit in der OPEC, ihrem Bündnis, bewegt.
So ist dafür gesorgt, daß aus der Kombination und Wechselwirkung dieser Gesichtspunkte des arabischen Nationalismus ein Konfliktherd entsteht, der durch die Konkurrenz um die Macht in den einzelnen Staaten ständig zusätzlich geschürt wird. Mit russischen, europäischen und amerikanischen Waffen und mit islamischen Argumenten finden Rebellionen und Zerwürfnisse, Regierungswechsel und Kriege statt. Während Israel mit den USA im Rücken darüber sein Territorium vergrößert hat, die UdSSR immer mehr Abstand davon nimmt, die Verfechter des militanten Islam zu kriegerischen Taten zu ermuntern - sie wollte Ägypten glatt von seinem letzten Waffengang mit Israel abhalten -, aber in Syrien und Libyen noch Gerät zur Verfügung stellt, während im Iran eine islamische Revolution über die Bühne ging, versuchen die in ihrem Nationalismus wenig erfolgreichen Akteure des Nahen Ostens, aus ihrer Lage das Beste zu machen. Manche mit einem ganz ihrer Souveränität gewidmeten Krieg, andere mit mehr oder minder regelmäßigen Waffengängen gegen Israel, ein dritter (Gaddafi) verteidigt seinen Luftraum gegen US-Manöver - und in gewissen Regierungen reift die Einsicht, daß der eigenen Geltung am besten gedient ist, wenn man dem freien Westen im Interesse einer ‚Nahost-Lösung‘ behilflich ist, sich zum ‚Sicherheitsfaktor‘ ausrüsten läßt und den Anteil an den Ölpreisen moderat beziffert.
Als Zeichen ihrer Schwäche wollen Staatsmänner aus den ‚Entwicklungsländern‘ ihre weltpolitischen Niederlagen und Rückschläge, ihre Kurskorrekturen und Frontwechsel allerdings nicht auffassen. Immerhin betätigen sie sich auf diese Weise als ‚politischer Faktor‘ und erfreuen sich der Aufmerksamkeit an der diplomatischen Börse. Alles was sie tun oder lassen, wird ja nicht daran gemessen, ob es den jeweiligen Untertanen bekommt. Ob sie sich wieder einmal eine Maßnahme zur Stabilisierung ihrer Währung oder eine zur Festigung der Ordnung im Lande einfallen lassen, ob sie einen Atomreaktor bauen oder eine Wahl ausschreiben - stets gewahren sie, daß mit dem weltweiten Interesse an ihren Ländern von ihnen das eine oder andere Vorgehen verlangt oder mißbilligt wird, also ihre Souveränität gefragt ist, wenn sie dem Sorgerecht der Großmächte anheimfallen und zu Urhebern oder Faktoren von allerlei Krisen ernannt werden.
Vom Standpunkt der Schädigung, die ihrer Staatskasse bereitet wird, unter dem Gesichtspunkt der Einschränkung, die ihre Handlungsfreiheit erfährt, entdecken sie deshalb nicht allein die härtesten Techniken der Konkurrenz - die bisweilen bis zur ‚Gefahr für den Weltfrieden‘ reifen -, sondern auch die Notwendigkeit von Bündnissen. Die Ölländer, über deren Bedeutung in der Welt schon die Charakterisierung ihrer Wirtschaft durch einen Stoff alles sagt, haben sich zur OPEC zusammengetan, innerhalb derer sie nun ihren Streit um Preise und Förderquoten abwickeln. Afrikanische Führer haben den gleichartigen Umgang, der ihnen von selten der Weltmächte und besonders durch Südafrika zuteil wird, in das gemeinsame Interesse aller Afrikaner umdefiniert. Und aus dem Vergleich mit dem Erfolg ihrer gewichtigen Handelspartner, den sie bestehen wollen, sind gemeinsame Ansprüche in bezug auf die Behandlung im Kommerz erwachsen; so gibt es einen gemeinsamen Markt für Zentralamerika, AKP-Staaten (die sich als Unterzeichner des Lome-Abkommens definieren) und anderes mehr. Die Mitgliedschaft in einem Militärbündnis erscheint manchen Souveränen wie eine Überlebensgarantie - und die Spekulation auf bessere Konditionen ihrer staatlichen Existenz in Abhängigkeit vom Weltmarkt des Westens und auf die hilfreiche Funktion des Ostens hat ganz viele Staaten zur Bewegung der Blockfreien zusammengeführt. Viel bewegt hat sich da freilich nicht; das Aufregendste war wohl die Wahl eines roten Vorstands. Denn um Forderungen vorzubringen und durchzusetzen, fehlen den versammelten Repräsentanten der ‚Entwicklungsländer‘ genauso die Mittel wie jedem einzelnen unter ihnen; zudem versagt die ‚Drohung‘ mit der Orientierung am Osten - falls sie in Erwägung gezogen wird - immer ihren Dienst. Der Ostblock ist weder willens noch in der Lage, den Bedürfnissen jener Herrschaften dauerhaft zu entsprechen; die einschlägigen Versuche jedenfalls, Ernst zu machen mit der alternativen Sorte weltpolitischer Zusammenarbeit, scheitern regelmäßig daran, daß die Sowjetunion ‚zu wenig‘ zu bieten hat, wenn sie auf Freundschaft aus ist - und daß der freie Westen jedem Versuch mit ökonomischen und militärischen Manövern ein Ende bereitet. Deshalb ist Kuba auch keine Bastion, die die USA in Verlegenheit bringt, sondern ein Zuschußbetrieb für die Sowjetunion. Wenn überhaupt eine Partnerschaft mit ihr Bestand hat, dann nicht durch Geschäft, sondern auf Grundlage von Kosten!
Die Illusion, gemeinschaftlich politisch kalkulieren zu können, haben die ‚Blockfreien‘ einzeln und in Gruppen selbst begraben -zumindest was Kalkulationen anlangt, die auf eine wie immer geartete Stärke gegenüber dem freien Westen abzielen, der ihnen ihre Herrschaft konzessioniert. Denn wenn im Pentagon und im Entwicklungshilfeministerium jede Million Auslandskapital, Kredit oder zusätzliche Spesen für die auswärtige Ordnung und ihr ‚Überleben‘ als ‚Kampf gegen den Kommunismus‘ firmiert, in dessen Hände der Hunger die Menschen treibt, so stimmt die Umkehrung dieser Ideologie noch lange nicht. Und schon gar nicht gelingt der praktische Vorstoß, mit der Abwanderung ins andere Lager zu drohen - eine solche Politik erfreut sich noch allemal der herzlichsten Kriegserklärung durch die zuständige Weltmacht.
9. Was die Instanzen und Gremien der ‚Entwicklungsländer‘, im Rahmen der UNO und außerhalb, zustandegebracht haben, beschränkt sich auf die Klage, dem Elend in ihren Breiten nicht steuern zu können und Opfer einer verkehrten und ungerechten ‚Weltwirtschaftsordnung‘ zu sein. Von dem Bemühen, sich an der Seite der Sowjetunion eine neue Geschäftsgrundlage zu verschaffen, haben sie nicht viel gehalten - im Gegenteil. Anklagen gegen die Weltmacht Nr. 2 sind vorgebracht worden. Als ob nicht das Tun der imperialistischen Partner, sondern die Unterlassungen des Ostens für die Ruinierung der Völker verantwortlich seien, haben die Herrschaften, die das Regieren ihrer verelendeten Landsleute über alles schätzen, den Protest angemeldet, dessen Herkunft eine ausgemachte Sache ist: Während die USA und Europa immerhin soundsoviel Prozent ihres Bruttosozialprodukts wohltätig in die ‚Dritte Welt‘ stecken, so die Botschaft, verlassen den Ostblock höchstens ziemlich kalorienarme Waffenlieferungen in Richtung Süden.
Damit haben sie ihren Beitrag zur intensiven Führung des ‚Nord-Süd-Dialogs‘ geleistet, in dem ihnen Gelegenheit gegeben wird, sich als Geschöpfe der Weltpolitik und entsprechend ihrem Existenzgrund aufzuführen - und zwar im exklusiven Gespräch mit denen, die seit einigen Wirtschaftsgipfeln den Lauf der Dinge auch im ‚Süden‘ verantwortlich fortschreiben. Ein anderer Beitrag stammt aus den Kreisen jener kritischen Idealisten im freien Westen, die ‚Entwicklungspolitik‘ schon immer am hehren Zweck des Helfens messen, deswegen für sie eingetreten sind und seit geraumer Zeit bemerken, daß ihr Erfolg nicht in der Minderung des Elends liegt. Ihre Anregung, daß es so wohl nichts nütze, Milliarden auszugeben, haben die offiziellen Entwicklungspolitiker aufgenommen und befunden, daß Entwicklungshilfe ‚ein Faß ohne Boden‘ sei. Diese zunächst inoffiziellen Feststellungen gaben dann auch die Diskussionsgrundlage für das Nord-Süd-Gipfeltreffen in Cancun ab, das zu dem großartigen Beschluß führte, ‚globale Verhandlungen‘ in Angriff zu nehmen. Während der westdeutsche Außenminister mit einem Redebeitrag brillierte, der mit Hungerstatistiken und -prognosen nur so gespickt war und kundig als Erörterung einer ‚Welternährungsstrategie‘ dargeboten wurde - ‚arbeitsintensive Landwirtschaft in den Entwicklungsländern‘ hieß dann der ‚Bonner Vorschlag‘ -, wartete der Präsident der USA mit einer Empfehlung auf: ‚Reagan empfiehlt freie Wirtschaft‘, und er wollte das als ‚Absage an die Wünsche der Dritten Welt‘ verstanden wissen. Willy Brandt ‚dämpfte die Erwartungen‘, und der Papst richtete dringende ‚Appelle zur Lösung des Hungerproblems‘ an die Welt: ‚Die Ernährung ist ein Grundrecht‘ - so seine tiefergehende Einsicht. Frankreichs Mitterrand ließ alle ‚Verdammten dieser Erde‘ in einem Aufruf grüßen. Nur die Vertreter der anwesenden ‚unterentwickelten Länder‘ hielten unter der Wortführung Chinas an der Vorstellung fest, sie wären auf einer Versammlung, auf der ihnen Gehör geschenkt wird und sie in ihren Gesprächspartnern Leute vor sich haben, die ihre Ansprüche würdigen. Daß die Modalitäten ihrer Herrschaft von den anwesenden Regierungschefs der freien Welt geklärt und bestimmt werden müssen, ist ihnen offenbar in den Wirren von 20 Jahren ‚Entwicklungshilfe‘ klar geworden - und diese Erfolgsmeldung in bezug auf die Leistung ihrer weltpolitischen Strategie nahmen die Führer des Westens entzückt zur Kenntnis. Ihr Blick richtete sich nach vorn, und Cancun wurde ein Erfolg.
- Die Tatsache, daß die Sowjetunion in der ‚Dritten Welt‘ einfach nichts zu bestellen hat und auch kaum mehr Sympathien genießt, wurde wieder einmal gründlich gewürdigt mit der aufgeregten Frage: ‚Warum sind die Russen nicht da?‘ Allerdings nicht ohne den Hinweis darauf, daß die weltpolitische Flurbereinigung noch eine Handvoll Restposten aufweist; einer davon, Angola, erhielt Besuch aus Südafrika, einem treuen Partner, auf den sich der Westen noch immer verlassen durfte in heiklen Situationen auf dem schwarzen Kontinent.
- Breiten Raum räumten die Repräsentanten der USA und Europas der offiziellen Desillusionierung über die bisherigen Leistungen der ‚Hilfe‘ ein. Aber nicht in dem Sinne, daß nun eine Welle von Care-Paketen über die hungerleidenden Völker hereinbrechen sollte. In Cancun wurde ein ‚neuer Umgang‘ mit den ‚Schwierigkeiten‘ der ‚Entwicklungsländer‘ in diplomatische Formeln gepackt, ein Umgang, der Zweck und Mittel ohne große ideologische Umschweife ins Verhältnis setzt und seit geraumer Zeit praktiziert wird. Der freie Westen hat aus dem ‚Mißerfolg‘ der Entwicklungshilfe - sie beseitigt nirgends die vielbeklagte Armut — den Schluß gezogen, daß man dann auch die einschlägigen Spesen sparsamer handhaben kann. Zumal die Bittsteller klar und deutlich zum Ausdruck gebracht haben, daß auch für die ‚Gewinnung‘ der ‚Dritten Welt‘, für ihre reservierte Haltung gegenüber Moskau keine Zuwendungen notwendig sind. Sie argumentierten allesamt wie Einflußsphären, die ihren Platz in der Weltpolitik ‚gefunden‘ haben, und sie distanzierten sich von jeder ‚Einmischung‘ in ihre Angelegenheiten.
- Der Grund für die so gerechtfertigte Sparsamkeit wird selbstverständlich nicht nur den Bürgern in den ‚Industrieländern‘, sondern auch den Partnern aus Übersee erklärt. ‚Wir haben selbst Probleme‘, heißt er, und unumwunden werden sie erläutert. Die ‚Weltlage‘ geht mit der ‚Kriegsgefahr‘ schwanger, die Sicherheit kostet Geld, darauf muß unsere Wirtschaft eingestellt werden, und kein Bürger bei uns hätte Verständnis für sein Opfer, wenn wir erwiesenermaßen unsinnige Entwicklungshilfe zum Fenster hinauswerfen würden. Die Praxis dieser Darlegungen, die den Chinesen in Cancun sicher eingeleuchtet haben, besteht in der Streichung sämtlicher Zusatzkosten, die - ohne direkt dem Geschäft zugutezukommen - bisher für die Funktionstüchtigkeit der ‚Entwicklungsländer‘ verausgabt wurden. Da entfällt nicht nur manches Projekt zum Aufbau einer ‚Infrastruktur‘, das sich erst in 20 Jahren lohnt, und die Kreditlinien im Rahmen des ‚Weltwährungssystems‘ gibt es auch nicht mehr. Die amerikanische Regierung, offen wie immer seit Reagans Machtübernahme, sagt es unumwunden, daß sie zwar laufende und damit lohnende Geschäfte aufrechterhalten will, aber es nicht nötig hat, den Aufbau neuer Rohstoffabkommen und dergleichen zu finanzieren. Eine schöne Gelegenheit für europäische Nutznießer des Weltmarkts, ihren Wunsch auszudrücken, daß ihnen durchaus an verstärkter Zusammenarbeit gelegen wäre.
- Politische, und zwar sehr generalstabsmäßige Gesichtspunkte spielen eben in Zeiten des ‚verschärften Ost-West-Gegensatzes‘ die wichtigste Rolle im Verkehr mit einer ‚Dritten Welt‘, deren ökonomische Dienste entweder gesichert oder zweitrangig sind. Nicht mehr die heuchlerische Rede von ‚ihren Problemen‘ ist an der Tagesordnung, nein: ‚Wir haben Probleme mit Euch!‘ Die Stabilität der Herrschaft in jenen Staaten steht zuallererst zur Debatte, und damit auch keinem verborgen bleibt, was Reagan damit meint, sieht er mit seinem Außenminister überall, wo sich Opposition regt, ob am Golf oder in Südamerika, die Russen am Werk. Wo es um das Problem der Weltpolitik schlechthin geht, mag sich die Weltmacht Nr. i ‚vor ihrer Haustür‘ keine Bürgerkriege mehr leisten und zusehen, wie sie mit der neuen Regierung ins alte Geschäft kommt.
- Deswegen hört auch die Hilfe der großen USA nicht einfach auf: statt Hunger-, Entwicklungs- und Kapitalhilfe verstärkt die Staatenwelt der NATO nämlich ihre exquisite Waffenhilfe - und auf diesem Felde läßt sie sich auch nicht den Vorwurf machen, geizig zu sein. Der Leiter der amerikanischen Entwicklungsbehörde überreicht herzlich lachend seinem nicht minder froh gestimmten US-Präsidenten einen plakatgroßen symbolischen ‚Scheck an den amerikanischen Steuerzahler‘ über 28 Mill. Dollar - sie sind bei Entwicklungsprojekten eingespart worden. Und der Präsident bedankt sich mit der Ankündigung bei den amerikanischen Bürgern, daß er Asien, Afrika und China mit Waffen vollstellt! Denn die Welt, auch die der ‚Entwicklungsländer‘ ist voller strategischer Lücken und Interessen, die verteidigt werden müssen. Auf europäisch lautet der Kommentar von Willy Brandt: ‚Leider droht der Ost-West-Gegensatz den Nord-Süd-Dialog zu ersticken!‘
- Vom ‚Süden‘ her ist Protest kaum zu vernehmen. Die Geschöpfe des Imperialismus haben die Lektion '81 längst begriffen. Wenn ihre Souveränität und das Wohlwollen derer, die sie garantieren, nun nicht mehr von der ökonomischen Brauchbarkeit allein abhängen, wenn nur geregelte Handelsbeziehungen und bereits funktionierende Kapitalanlagen zählen, die Spekulation auf künftige Erwerbsquellen in den Hintergrund tritt, so wissen sie, wie der Genuß achtbaren Mitmischens in der Weltpolitik zu erhalten ist. Man muß sich die Völkerfreundschaft eben über die politische Dienstbarkeit sichern! Statt mit einem weltweiten Aufbegehren der ‚Blockfreien‘ sieht sich die Führungsmannschaft der westlichen Freiheit mit Angeboten aller Nationalismen konfrontiert: Mexiko will Mittelamerika stabilisieren und dafür Waffen in jeder Menge borgen; Saudi-Arabien moderiert den Ölpreis und will sich Ägypten bei der Lösung des Nahost-Konflikts anschließen, natürlich gegen Barzahlung und mit Blick auf die ständige Gefahr, daß Moskau ein strategisches Interesse an der Region hat. AWACS-Flugzeuge wären auch China recht, genauso wie Leopard-Panzer und ein paar Raketen - ein bloßer Horchposten ist für die Bezwingung des russischen Feindes zu wenig. Ägypten will es mit Libyen aufnehmen, und in Südamerika ist man hocherfreut, auch strategische Aufgaben übernehmen zu können . .
- Solche Interessen - sie werden von Tag zu Tag mehr — erfahren seitens der westlichen Allianz ihre kalkulierte Befriedigung; kalkuliert deshalb, weil die Ausrüstung dieser Staaten zum Material der Offensive den beschränkten Charakter des jeweiligen Nationalismus in Rechnung zu stellen hat. Untereinander sollen sie das umweltfreundliche Kriegsgerät nämlich nicht zur Anwendung bringen - es sei denn gegen jene Ausnahmen, die es immer noch an ‚sowjethörigen‘ Regimes gibt. Das andere Interesse, das nur noch bei Idealisten christlichen oder humanistischen Denkens Fürsprecher findet - die Sache mit dem Hunger -, wird statistisch befriedigt. Präsidenten westlicher Demokratien übertreffen sich, wie etwa in Cancun auch bei Sammlungen aus der Lohntüte ihrer Untertanen, im Verlesen der neuesten Vorhersagen, wieviel ‚Menschen‘ in den nächsten Jahren auch ohne Krieg krepieren.
Krieg und Hunger haben übrigens eines gemeinsam. Sie gehören zu den Tatsachen, auf die sich die NATO-Politik so gerne beruft, weil sie sie schafft.
3. Die Weltmächte und ihre unverbrüchliche Feindschaft
3.1 Die NATO: Friedensgarantie durch die Vorbereitung des Dritten Weltkriegs
Der ‚freie Westen‘ hat sich als Militärbündnis konstituiert; von der NATO bis zum ANZUS-Pakt und mit einer Vielzahl bilateraler Bündnisverträge haben die USA sich nach ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg eine ganze Welt von Verbündeten geschaffen.
Von diesen Bündnissen, speziell von der NATO, hat ein anständiger Bürger des freien Westens eine gute Meinung, nämlich die, sie hätten ‚uns den Frieden gesichert‘, insbesondere den Westdeutschen ‚die längste Friedenszeit ihrer Geschichte‘ beschert. So, wie sie genommen werden will, ist diese Vorstellung deswegen albern, weil sie als Grund für den einstweiligen Frieden gleich zwei Kriegsgründe unterstellt, ohne von diesen auch nur das Geringste wissen zu wollen: vom Gegner Sowjetunion wird angenommen, er wolle, warum auch immer, den ‚freien Westen‘ überfallen; in dieser Gewißheit bereitet die NATO ihrerseits den Krieg vor. Die angebliche Friedensgarantie durch die integrierte Militärmacht des ‚freien Westens‘ reduziert sich so der Sache nach auf die Banalität, daß die beiden Seiten den Grund für den Krieg, den sie unmittelbar gegen die andere Seite vorgesehen haben, bislang offenkundig noch nicht für eingetreten erachtet haben. Diesen Umstand der eigenen Militärmacht als ihre Leistung zugute zu halten, ist nichts als die genauso banale Manier, in bezug auf den vorgesehenen Krieg die Reinheit des eigenen Gewissens kundzutun und die Schuldfrage zu Lasten des Gegners vorab für entschieden zu erklären: im Ernstfall hat der sich nicht mehr genug gefürchtet, um seinen Angriff zu unterlassen. Kein Wunder, daß dieser begriffslose, ja zur Ahnungslosigkeit bezüglich der wirklichen Kriegsgründe fest entschlossene Moralismus der Kriegsschuldfrage bei jedem loyalen Ostbürger sein genaues Spiegelbild vorfindet: dort ist es der Warschauer Pakt, der drei Jahrzehnte lang und länger den Frieden machtvoll gerettet hat. Wer hat nun recht?
1. In einer Hinsicht ist das Kompliment an die NATO, ‚Kriege verhindert‘ zu haben, allerdings nicht bloß töricht moralisch, sondern zugleich sehr verräterisch, dann nämlich, wenn es mit dem Glückwunsch an die betroffenen Völker des ‚freien Westens‘ verbunden wird, sie hätten offenbar endlich so manche ‚Erbfeindschaft‘ begraben und sich zu friedfertigen Umgangsformen miteinander entschlossen. Die Doppelbödigkeit dieses Aufatmens liegt darin, daß es mit einem ‚eigentlich‘ rechnet: daß die Staaten des ‚freien Westens‘ offenkundig fest entschlossen sind, ihre militärischen Gewaltapparate grundsätzlich nicht gegeneinander einzusetzen, wird da als erfreuliche Errungenschaft und insoweit als Ausnahme von der weltpolitischen Regel, verbucht. Realitätsnähe läßt sich dieser Betrachtungsweise tatsächlich nicht absprechen. Kriege sind schließlich auch nach Beendigung des Weltkriegs in der modernen Staatenwelt an der Tagesordnung; Forschungsinstitute zählen die seit Mitte 1945 verflossenen Wochen ohne größere ‚bewaffnete Auseinandersetzungen‘ und kommen stets auf recht geringe Zahlen. Und wo die Mächte des ‚freien Westens‘ nicht unmittelbar als Partei engagiert sind, da geben Firma und Versandort der eingesetzten Waffen, einschließlich der Lieferungen für einen zeitweiligen Spitzenbedarf an Munition, lauter liebevoll verschleierte eindeutige Hinweise darauf, wie geläufig diesen Mächten Gewalt als Mittel der Politik ist. Im Ernst erwartet auch niemand etwas anderes (selbst jene kindlich-idealistische Zutraulichkeit in eine ganz, ganz ‚eigentliche‘ Gewaltlosigkeit des politischen Geschäfts, wie sie aus einschlägigen Appellen professioneller Vertreter der Gutgläubigkeit an ihre politischen Oberen spricht, kommt ohne eine Portion Heuchelei nicht aus!), schon gar nicht die Macher aller weltpolitischen Verwicklungen, an denen immer niemand schuld sein will, und ‚Problemlösungen‘, für die sich alle zuständig erklären. Die wissen aus und bei ihrer Praxis ja am besten, daß sie für einen Materialismus der Staatsgewalt einstehen - und mit gleichgearteten Nationalisten zu tun haben -, der andere Zwecke verfolgt und daher auch noch ganz anders zu Werke geht als Geschäftsleute in ihren Erpressungsmanövern. Staaten treten einander gegenüber als höchste Gewalten, die über das Geschehen in ihrem Herrschaftsbereich verfügen, also jedem fremden Interessen diesem Geschehen entweder abschlägig oder genehmigend begegnen. Ihre Repräsentanten legen einigen Wert darauf, auswärtige Ansprüche auf nützliche Alternativen im eigenen Hoheitsgebiet abzulehnen; und umgekehrt liegt ihnen viel daran, selbst auf die Ausgestaltung von Politik und Ökonomie im Ausland Einfluß zu nehmen. Der formelle, ganz abstrakte Widerspruch einer Mehrzahl höchster Gewalten, die lebhaftes Interesse an allem haben, was die anderen verwalten, verfügt in der wechselseitigen Anerkennung der Souveräne über seine diplomatische Verlaufsform. Sie eröffnet als offizieller Akt den Verkehr zwischen Staaten, die es auf wechselseitige Benutzung abgesehen haben und die dabei auftretenden Gegensätze einvernehmlich abwickeln wollen. In getreuer Nachbildung des bürgerlichen Rechts im Innern eines modernen Staates - der Anerkennung von Person und Eigentum, durch die der bürgerliche Schacher und die gedeihliche Benutzung ganzer Klassen rechtsstaatlich geregelt wird - erklärt da eine Staatsgewalt, daß sie in all ihrer grundsätzlichen Betroffenheit durch die Entscheidungen einer anderen deren Souveränität nicht antasten will. Auf dieses negative Verhältnis, das ein Staat heutzutage mit -zig anderen unterhält, gründet sich der Schein eines gemütlichen Umgangs der grundsätzlich von gleich zu gleich miteinander verkehrenden "Nationen. Der Glaube an diesen Schein ist freilich nicht einmal in den UNO-Gebäuden verbreitet, also dort, wo ihm einige Pflege zuteil wird. Einerseits ist es kein Geheimnis, daß es nicht auf die ideelle Allzuständigkeit jeder Republik ankommt, die diese in der Unterhaltung diplomatischer Beziehungen mit allen Staaten dieser Welt prätendiert. Der materielle Inhalt und das entsprechende Gewicht der Interessen, die eine Nation an den Affären der anderen geltend zu machen hat, sind schon von einiger Bedeutung. Danach entscheidet sich schließlich, ob einem Staat an der Mitwirkung am diplomatischen Weltzusammenhang gelegen ist, weil er die Fähigkeit besitzt, auswärtige Regierungen für sich zu funktionalisieren - oder ob ein Souverän an der Börse politischen Kredits nur mit dem einen ernstgenommenen Interesse beteiligt ist, sich überhaupt als alleinzuständige Obrigkeit zu Hause zu behaupten, und deshalb anderen zu Willen ist. Es ist eben ein gewaltiger Unterschied, ob eine Staatsgewalt zu den Machern der Weltpolitik gehört oder zu ihren Geschöpfen. Andererseits verläßt sich kein Staat auf die unwiderstehliche Wirkung der unter seiner Herrschaft entstandenen Geschäftsinteressen, von deren gelungener Durchsetzung er sich abhängig weiß. Diese Abhängigkeit faßt er als Aufgabe auf, die er im Umgang mit anderen Souveränen zu bewältigen hat, indem er sich Respekt durch seine Gewaltmittel verschafft. Damit ein Staat überhaupt seiner nationalen Geschäftswelt auswärtige Quellen zusätzlicher Bereicherung erschließen kann, muß er sich - ganz gemäß" dem negativen Inhalt, der in seiner Anerkennung gegeben ist - von der kommerziellen Kalkulation seiner ökonomischen Basis unabhängig machen und einiges an Reichtum und Einsatz von Menschenmaterial.‚opfern‘, um der Freiheit anderer Regenten auch unliebsame Bedingungen plausibel werden zu lassen. Was aus der Geschichte der Aufteilung des Erdballs unter politische Gewalten jedermann vertraut ist - die gewaltsame Eroberung fremder Ländereien und die Unterwerfung des vorfindlichen Personals schuf gedeihliche Geschäftsbeziehungen-, gilt begrifflich erst recht für den Verkehr zwischen Nationen auf dem aufgeteilten Globus: Die Souveränität einer Staatsgewalt nach außen hat ihr unmittelbares Maß in ihrer militärischen Stärke; denn da Waffengewalt das letzte, also das Mittel ist, sich den Zumutungen auswärtiger Machthaber zu widersetzen und seinerseits außenpolitische Zumutungen durchzusetzen, bemißt sich an ihr die politische Freiheit einer Nation. Ihr Reichtum taugt in dieser Hinsicht grundsätzlich nur so viel wie die Militärmacht, die der Staat sich dank seiner leisten kann. Und dies ist nicht einmal ein Widerspruch: denn mit der Größe der wirtschaftlichen Potenz wachsen auch die staatlichen Mittel die die Handlungsfreiheit im Umgang mit anderen Nationen sichern. Auf dieser Grundlage erfährt immerhin auch das auswärtige Geschäftsleben als solches seine Würdigung als Instrument staatlicher Durchsetzungsfähigkeit: vom Standpunkt außenpolitischer Souveränität bewertet eine Staatsgewalt alle auswärtigen Geschäftsbeziehungen nicht mehr nach ihrem ökonomischen Nutzen, sondern als mögliches Gewaltmittel für sie - oder auch in den Händen eines Gegners und damit als zwar bedingte, aber je nach dem doch fühlbare Schranke ihrer Freiheit. Im Zeitalter des weltweiten Kapitalismus gibt es daher kein Geschäft, das nicht auch den strategischen Interessen der zuständigen Staatsgewalt untergeordnet, diplomatisch als Machtmittel verwendet, deswegen unter gewissen Umständen auch trotz noch so verlockender Profite preisgegeben würde - und das ist alles andere als ein Verstoß gegen die Interessen des Geschäfts. Ohne Staatsgewalt ist Kapitalismus nun einmal nicht zu machen; und daß diese in ihren weltpolitischen Kalkulationen die Geschäfte ihrer Lieblingsbürger mit Kanonenbooten und Fallschirmjägern auf eine Stufe stellt, beweist nur, daß kapitalistische Geschäftemacherei im Weltmaßstab schon gar nicht ohne ihre - als Sphäre der Politik abgetrennte - Gewaltsamkeit funktioniert. Wenn Politiker die weltwirtschaftlichen Beziehungen ihrer Nationalökonomie als Auftrag an den von ihnen verwalteten Gewaltapparat behandeln, so entsprechen sie ihrer ökonomischen Funktion als notwendige ‚faux frais‘.
Es ist daher tatsächlich bemerkenswert, wenn gerade die mächtigsten Staaten des ‚freien Westens‘ - die weniger maßgeblichen Randstaaten der NATO nehmen sich zu Entspannungszeiten schon einmal eher die Freiheit zu einer kleinen Schlacht gegeneinander in Cypern oder der Ägäis - unter sich einen so stabilen Frieden etabliert haben. Denn damit ist ja nicht erst für den Fall eines eigentlich kriegsträchtigen Zerwürfnisses auf die Anwendung militärischer Gewalt gegen ihresgleichen Verzicht getan. Schon die Entstehung solcher Zerwürfnisse ist zwischen ihnen per Beschluß ausgeschlossen; denn ohne die ernstliche Bereitschaft, einen Kriegsgrund auch als solchen zu behandeln, sind ordentlich ‚gespannte Beziehungen‘ nicht zu haben. Nur die glaubwürdige Androhung von Gewalt erhält friedliche Beziehungen zwischen Staaten bis zu einem solchen Grad wechselseitiger oder einseitiger Schädigung aufrecht, daß schließlich die eine oder andere Seite Waffengewalt zur Durchsetzung ihrer Ansprüche anwendet. Und nicht nur das: im normalen außenpolitischen Verkehr gilt die Ansicht eines Staates über jeden beliebigen Gegenstand, auch über die geringfügigsten Streitigkeiten und deren Regelung, genau so viel, wie der Staat an Machtmitteln einsetzen kann und will und an Entschlossenheit zu jeder nötigen Gewalttätigkeit glaubhaft macht, um seiner Ansicht der Dinge praktische Gültigkeit zu verschaffen. Das genau macht Ja das Geschäft der Diplomatie so lebhaft und in der bekannten Weise so doppelbödig: daß da immerzu Gewalt‚fragen‘ reinsten Wassers zur Debatte gestellt werden, und zwar in der passenden höflichen Form des Einigungsstrebens und wechselseitiger Bescheide der Staaten darüber, was sie von den erzielten Resultaten halten.
Zwischen den Bündnispartnern des ‚freien Westens‘ ist das alles nun keineswegs außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: bei ihnen handelt es sich ja in jeder Hinsicht um die Veranstalter des Weltzusammenhangs; ihre dezidierten materiellen Interessen, die Benutzung fremder Länder und Reichtümer durch ihre Nationalökonomie und deren Macher betreffend, sind so universell, daß sie eine wirkliche Weltwirtschaft hervorbringen; und der Geltungsanspruch ihrer Souveränität reicht genauso um den ganzen Globus wie die Einsatzmöglichkeiten ihrer Machtmittel, mit denen sie diesem Anspruch Respekt verschaffen. Sie treffen daher nicht nur dort aufeinander, wo sie sich unmittelbar auf den jeweiligen Kontrahenten beziehen, sondern überall: in der ganzen Welt bekommen sie ständig miteinander als Konkurrenten um ökonomisch nützlichen politischen Einfluß zu schaffen. An allen diplomatischen Börsen sind sie die Hauptakteure, und feine Sitten herrschen zwischen ihnen auch bloß im diplomatischen Sinn. Nur steht ihr Umgang miteinander tatsächlich unter dem einen großen Vorbehalt: Krieg, also auch die Drohung damit, kommt zwischen ihnen nicht in Frage. Die Anwendung von Gewalt gegeneinander ist auf dasRepertoire ökonomischer Erpressung beschränkt; dem allerdings kann sich im Rahmen der Nachkriegsordnung des Welthandels und Kapitalverkehrs kein Souverän entziehen. Für den Urheber und Hauptnutznießer der modernen Weltwirtschaft, das Land mit der Leitwährung und exportiertem Kapital in allen in Frage kommenden Staaten, sind die Mechanismen des internationalen Handels und Finanzwesens durchaus taugliche Waffen gegen jeden Staat, der seine Beteiligung daran nicht ziemlich grundsätzlich aufkündigt; mit diesem Problem hat noch kein Bündnispartner der ‚freien Welt‘ seine Führungsmacht konfrontiert. Die Souveräne des zweiten Glieds suchen sich ihrerseits, über die Vorteile einer weitgehenden ökonomischen. Einigung untereinander Erpressungsmittel gegeneinander zu verschaffen; all die berühmten Absonderlichkeiten der innereuropäischen Diplomatie, die Mechanismen und Errungenschaften des EG-‚Einigungswerks‘, geben Zeugnis von ihrem gemeinsamen Bemühen, einen Einigungszwang zu konstruieren, der sich als ergänzendes Mittel zu den nach wie vor üblichen ‚Handelskriegen‘ nutzen läßt. Und doch fehlt all diesen Erpressungsmitteln die letzte Härte; in letzter Instanz taugen sie nur so viel, wie die Konkurrenten sich an Vorteil ausrechnen, sind also nur schlechte Äquivalente für das verbotene Mittel der militärischen Drohung. Kein Wunder, daß so mancher erfolgreiche Europäer sich nach richtigen ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ sehnt: eine gegen unbotmäßige Partner einsetzbare Bundespolizei wäre erst der vollgültige Ersatz für all die nicht durchführbaren patriotischen Scharmützel, für die das Gemeinschaftsleben eigentlich genügend Gründe schafft.
Der wirkliche Grund dafür, daß die kapitalistischen Demokratien des ‚freien Westens‘ dem Gebrauch ihrer Souveränität gegeneinander diese Schranke auferlegen, ist - jenseits aller idealistischen Faseleien über Völkerversöhnung und Friedensliebe - mit dem Verweis auf die friedenssichernde Funktion der NATO zwar nicht gemeint, ironischerweise aber tatsächlich benannt. Die Teilhaber dieses Bündnisses wollen nur einen Gegner kennen, der den Einsatz ihrer vollen militärischen Gewalt verdient, und das ist die Sowjetunion. Diese gemeinsame Feindschaft schließt die Freiheit der Verbündeten, ihre Konflikte untereinander zu regulären Kriegsgründen zu machen, prinzipiell aus; dieser einen Kriegskalkulation ordnen sie das letzte Mittel ihrer außenpolitischen Souveränität, den Gebrauch ihrer Nation als Kriegsmaschine, ein und unter; nur hier soll es sich um den Krieg handeln, den Weltkrieg, in dem die verbündeten Akteure des Weltgeschehens ihre Souveränität in Frage gestellt sehen und daher für einen Sieg aufs Spiel setzen wollen.
Daß demokratische Souveräne derart prinzipiell sämtliche Kriegsgründe, die sie füreinander in die Welt setzen oder im schädlichen Wirken ihrer Konkurrenten erblicken könnten, a priori für nichtig erachten, setzt natürlich mehr voraus als den Idealismus des (bereits zitierten) NATO-Vertragstextes, der die Unterzeichner darauf festlegt, die ‚Prinzipien‘ ihrer demokratisch-rechtlichen Staatsform zum obersten Zweck und Inhalt ihrer Staatsgewalt zu machen; und auch mit der Vision einer befriedeten Welt im Sinne des Kautskyschen ‚Ultra-Imperialismus‘ hat das Ganze herzlich wenig gemein. Praktisches Gewicht und tatsächliche Verbindlichkeit für die Kalküle der beteiligten Souveräne bekommt der im ‚freien Westen‘ durchgesetzte einzigartige Supranationalismus nationaler ‚Verteidigung‘ durch das Gewicht und die Geltung, die die anerkannte Führungsmacht des Bündnisses ihm verleiht: der ‚Ost-West-Gegensatz‘ ist ihr nationales Anliegen Nr. 1. Da der supranationale Charakter, den dieser Konflikt der USA für deren europäische Verbündete besitzt, speziell in der BRD so selbstverständlich ist, mag es nützlich sein, daran zu erinnern, daß er als die neue, alles beherrschende Richtlinie jeglicher Außenpolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erst einmal durchgesetzt sein wollte. Die USA waren so frei, alles, was sich auf der Welt so tat und tun sollte, auf ihren Beschluß zu beziehen, die Sowjetunion in ihrem mit Kriegsende erreichten ‚Besitzstand‘ festzuhalten, ihr jeden weiteren politischen Einfluß zu verwehren und ihren ‚Block‘ nach Möglichkeit zu schwächen. Nationale Zielsetzungen der alten Großmächte, speziell die Nachkriegsgestalt Europas betreffend, hatten sich - soweit sie nicht ohnehin auf der gleichen Linie lagen - dieser maßgeblichen Front unterzuordnen, wollten sie sich nicht ihrerseits die "USA zum Gegner machen; umgekehrt wurden ganze Staaten, allen voran die BRD, unter den Auspizien dieser Globalstrategie ins Leben gerufen und als souveräne Sachwalter eines entsprechenden NATO-Auftrags in ein selbständiges Dasein entlassen. Zwischen der Entschlossenheit, die Konfrontation mit der Sowjetunion mitzutragen, und der Erklärung der Feindschaft des Westens dulden die USA eine dritte Position um so weniger, je größer die Macht ist, die ein Staat in das Ungleichgewicht dieses Gegensatzes einzubringen hat. Die quasi ex officio neutrale alpine Sparkasse der kapitalistischen Welt und das ebenfalls schon im Zweiten Weltkrieg unmittelbar engagierte Schweden ausgenommen, gibt es keinen Staat von Gewicht, den die USA hier hätten abseits stehen lassen - und auch in diesen Fällen ist die Himmelsrichtung ihrer ‚Neutralität‘ ebensowenig eine Frage wie bei Österreich oder der Republik Südafrika. Die Probe auf die Bündnistreue ihrer Partner haben die USA im übrigen nie zu machen brauchen. Daß die Sowjetunion sich ihrerseits der Feindschaftserklärung der USA gestellt und eine Militärmacht aufgebaut hat, der keiner der kleineren Verbündeten des freien Westens allein für sich gewachsen wäre, hat diese nicht an der Weisheit ihres Entschlusses irre werden lassen, sich als Parteigänger des amerikanischen Antisowjetismus zu bewähren. Im Gegenteil: Die Bedrohung durch die sowjetische Militärmacht, die sie sich als regionale Sachwalter des NATO-Zwecks - in einigen Fällen auch als engagierte Scharfmacher: die BRD möchte da immer noch ihre ‚nationale Frage‘ gelöst haben, und klar ist, auf wessen Kosten! - eingehandelt haben, interpretieren sie unerschütterlich als eine Gefahr, gegen die sie sich des Beistands der USA als Schutzmacht zu versichern hätten. Zweifel an dieser höchst linientreuen Auffassung ihrer geopolitischen und -strategischen ‚Lage‘ lassen die europäischen NATO-Staaten allesamt nicht zu; eher darf man an der Uneigennützigkeit des amerikanischen ‚Hilfsversprechens‘ zweifeln oder besser noch an dessen Glaubwürdigkeit: ‚Mehr Amis her!‘ ist die Parole des bündnisinternen Antiamerikanismus, an dem bisweilen sogar ein regierungsamtlicher Nationalismus sich wärmt. Der feste Wille, sich auf die von den USA gesetzte globale Alternative einzulassen und auf Seiten der USA zu deren Konditionen mitzumachen, wird durch nationalistische Nörgeleien dieser Art erst so richtig demokratisiert und zum nationalen Anliegen.
Das ‚Geheimnis‘ der westlichen ‚Völkerfreundschaft‘, der ‚völkerverbindenden Kraft‘ demokratischer und europäischer Ideale, ist also die ‚pax americana‘, deren Prinzip wiederum eine Feindschaftserklärung an die Sowjetunion, neben der die USA keine ähnlich existenziellen nationalen Sonderinteressen kennen noch erst recht bei ihren Verbündeten dulden. Fragt sich bloß, was eigentlich die USA an der Sowjetunion so bis zur Unversöhnlichkeit stört.
2. Glaubt man den seit Anfang 1980 mit zunehmendem Nachdruck in die Weltöffentlichkeit gesetzten westlichen ‚Diagnosen‘, so hat die Sowjetunion insbesondere und ganz unwidersprechlich mit dem Einmarsch der Roten Armee ins verbündete Afghanistan ihren bedingungslos aggressiven Charakter bewiesen, gegen den die mächtigen Demokratien des Westens sich nicht genug schützen können, auf daß es dem Ruhrgebiet nicht genauso ergehe wie den westlichen Ausläufern des Himalaya. Gegründet wurde die NATO allerdings bereits drei Jahrzehnte früher, und auch damals war der ‚freie Westen‘ um entsprechende Beweise nicht verlegen. Daß die Sowjetunion sich aus den von ihr besetzten Gebieten am Ende des Weltkriegs genauso wenig zurückzog wie die Westalliierten aus ihren Zonen und daß sie ebenso bei der Etablierung neuer souveräner Staatsgewalten diesen die Übereinstimmung mit sowjetischen Interessen als Geschäftsgrundlage diktierte; daß die kommunistischen Partisanen in Griechenland sich nicht widerspruchslos in die Übereinkunft der Siegermächte schickten, ihr Land der westlichen Einflußsphäre zuzuschlagen; daß die sowjetische Regierung ihr Mitspracherecht über die politische Zukunft ganz Deutschlands nach der ökonomischen Eingliederung der Westzonen in die Dollarzone durch einen so hilflosen. Erpressungsakt wie die Blockade Westberlins durchzusetzen suchte: das waren die damals hinreichenden Belege für die fraglose Notwendigkeit, sich vor der Sowjetunion zu Tode zu fürchten. In einer Phase, in der die Sowjetunion das Verbrechen beging, bei ihren Verbündeten gewaltsam Botmäßigkeit zu erzwingen, von Übergriffen über das eigene ‚Lager‘ hinauf aber nirgends die "Rede sein konnte - das ‚containment‘ war eben tatsächlich gelungen! -, reichte der Hinweis, daß sie dazu immerhin doch in der Lage gewesen wäre, als Begründung für die Unentbehrlichkeit der NATO:
Nur die auf ein gewaltiges Industriepotential und den Besitz der Atomwaffe gegründete Macht Amerikas konnte das überwältigende Mißverhältnis der Kräfte ausgleichen. (NATO-Handbuch 1961)
Ein knappes Jahrzehnt später, zu Beginn der ‚Entspannungsära‘, wurde der Sowjetunion ihre Militärmacht gleich als Gefahr für die Lösung des ‚Problems‘ zum Vorwurf gemacht, als welches die NATO die ‚Spaltung Europas‘, also die Erstreckung sowjetischer Macht auf ihr ost- und mitteleuropäisches Vorfeld definierte:
Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß das Bündnis bestehen bleiben wird, solange die Notwendigkeit gegeben ist, sich vor der militärischen Macht des Ostens zu schützen und Lösungen für die noch offenen politischen Probleme in Europa zu finden und zu garantieren. (NATO-Generalsekretär Brosio 1969)
Und seit der Aufkündigung der ‚Entspannungspolitik‘ lauten die diensthabenden NATO-‚Argumente‘: kubanische Truppen in Angola und Äthiopien; eine sowjetische Kampfbrigade auf Kuba; Afghanistan; Polen . . .
Nähme man all diese Hinweise als Gründe für die bedingungslose Feindschaftserklärung des ‚freien Westens‘ an den ‚Ostblock‘ ernst, so müßte zumindest an den neuesten Sprachregelungen auffallen, wie verräterisch und gleichzeitig wie absurd sie sind. Sollten denn wirklich bewaffnete, durch verbündete Hilfstruppen bewerkstelligte Interventionen irgendwo in der Welt als solche eine Gegnerschaft begründen, wo sie doch allemal ohne Frage ins Repertoire auch der westlichen Weltpolitik gehören? Blamiert sich nicht jedes ‚Argument‘, das sich, um der Sowjetunion aggressive Absichten gegen die ‚freie Welt‘ und ihre mächtigen Demokratien nachsagen zu können, im zentralafrikanischen Busch und in der altweltlichen Wüstenzone auf die Suche begeben muß, um unter den gut 150 souveränen Staaten dieser Welt wenigstens drei bis fünf ausfindig zu machen, deren Regierungen sich ohne östliche Hilfe nicht an der Macht halten könnten - wo doch gleichzeitig jeder weiß, daß für die Regierungsgewalt praktisch im gesamten Rest der Welt die westliche Seite verantwortlich zeichnet, vom Frontwechsel Chinas ganz zu schweigen? Die Denker und Macher der NATO selbst sind jedenfalls die letzten, die auf ihre eigenen Propagandaparolen von der bedrohlichen Übermacht der aggressiven Sowjetunion und deren weltweiten Vormarsch hereinfielen. Ihre Lagebeurteilung lautet eher so:
Im Unterschied zur NATO, einem Bündnis von 15 mehr oder weniger großen und hochentwickelten Industriestaaten, die außerdem zu Bündnissen oder Interessengemeinschaften mit Staaten im Westpazifik und sogar mit der VR China gefunden haben, besitzt die zum Teil noch unterentwickelte Sowjetunion mit ihren 6 kleinen WP (Warschauer Pakt)-Bundesgenossen bzw. 9 COMECON-Partnern keinen einzigen größeren und leistungsfähigen Verbündeten auf der Welt.
Die Sowjetunion ist ein größeres weltweites Engagement eingegangen, das, und zwar besonders in Afrika, auch eine Eigendynamik entwickeln dürfte. Da die Unternehmungen weit vom Heimatland und dem eigenen Hegemonialraum ohne eine gesicherte und leistungsfähige strategische Basis durchgeführt werden, haben sie den Charakter riskanten Abenteurertums. Sie werden sich zunehmend als kräftebindend und -zehrend erweisen, da fast ausnahmslos alle sowjetfreundlichen Länder Notstandsgebiete ohne besondere Leistungsfähigkeit für die Unterhaltung von modernen Streitkräften [das ist doch mal ein Kriterium!] sind. (G. Poser, Die NATO, München 1979, S. 9 und 47, stellvertretend für viele; alle Hervorhebungen im Original)
Hoffnungsfrohe NATO-Schriftsteller versteigen sich bis zu Prognosen über einen alsbaldigen sowjetischen Zusammenbruch - und doch stört sich niemand an der gelegentlich unmittelbar daneben aufgestellten und jedenfalls als Grunddogma der ‚freien Welt‘ unbezweifelten Behauptung, die Sowjetunion wäre seit Ende des Zweiten Weltkriegs eigentlich ununterbrochen in der Offensive und schädigte und bedrohte die Partnerstaaten des ‚freien Westens‘ weltweit aufs Schwerste.
Gerade in ihrer unverfrorenen Weltfremdheit ist diese Behauptung in allen ihren Abwandlungen und mit jedem ihrer ‚empirischen Belege‘ überaus verräterisch. Sie gibt klare Auskunft nicht über die Weltlage, um so eindeutiger aber über den Standpunkt, den die ‚freie Welt‘ unter Führung der USA zur Weltlage einnimmt und auch praktisch geltend macht. Offenkundig fühlen die paar verbündeten westlichen Demokratien sich grundsätzlich für nichts Geringeres als die Macht und ihren Gebrauch auf der ganzen Welt zuständig und zwar so, daß sie diese Zuständigkeit mit niemandem zu teilen bereit sind. Nichts ist ihnen selbstverständlicher, als daß noch der abgelegenste Potentat ihre Freundschaftsangebote akzeptiert, sich nach ihren Ratschlägen und Direktiven richtet, ihnen nötigenfalls mit Stützpunkten behilflich ist, Coca Cola, Dollars und GIs im eigenen Land zirkulieren läßt. Umgekehrt ist nichts ihnen so unerträglich wie gleichartige Ansprüche der Sowjetunion, selbst wenn diese unvergleichlich bescheidener dimensioniert sind; russische Soldaten sind spätestens außerhalb ihrer Heimatgarnison schon ein einziger Übergriff, russische Stützpunkte in warmen Meeren eine einzige Provokation, russische Interessen an botmäßigen Verbündeten gleichbedeutend mit Aggression, Unterstützungsaktionen für befreundete Regierungen - um solche handelt es sich immerhin in Äthiopien, Angola und sogar Afghanistan - ein nicht hinnehmbares ‚schlechtes Benehmen‘; und Kuba, die russische Basis ‚vor Amerikas Haustür‘, stellt sowieso ein unerträgliches rotes Ärgernis in der ansonsten sauberen westlichen Hemisphäre dar. So selbstverständlich wissen die USA und ihre Verbündeten sich auf der Welt zu Hause, daß alles ihre Sicherheitsinteressen berührt, was sich in der weiten Welt abspielt. Tatsächlich sind sie auch längst überall so engagiert, daß jeder sowjetische Versuch, wo auch immer auswärts politisch Fuß zu fassen, zum gegen sie gerichteten Vormarsch gerät und die westliche Selbstverteidigung allen Ernstes an jeder Staatsgrenze und jeder Bürgerkriegsfront beginnt, wo auch immer sie verläuft. Vom Standpunkt der errungenen Weltherrschaft aus stellt der westliche Zugriff auf die Welt sich tatsächlich als Defensive dar - und jedes gleichartige östliche Bemühen eben mangels Erfolg als Aggression. Daß noch dazu der Westen seine politische Vormundschaft nicht bloß auf Waffen, sondern überdies auf die ökonomische Benutzung fremder Länder und ihrer Herrschaft gründet, macht seine Position erst recht nicht etwa anrüchig, sondern legitimiert erst vollständig jede bewaffnete Intervention - so wie umgekehrt sowjetische Eingriffe dadurch von vornherein besonders verdächtig sind, daß sie noch nicht einmal auf einen geschäftlichen Vorteil verweisen können, der dadurch gesichert wäre. Der erfolgreiche , Materialismus desavouiert eben nicht den Moralismus, mit dem er sich schmückt - in der Weltpolitik noch weniger als im bürgerlichen Leben -, sondern hat ihn exklusiv ‚gepachtet‘. Wer sich nicht blamiert, wenn er in seinen Beschwerden über die ‚gestörte Weltlage‘ sein nationales ‚wir‘ und ‚unser‘ ganz selbstverständlich bis in die fernste Region erstreckt, weil er dafür das wirkliche weltweite ‚Kräfteverhältnis‘ auf seiner Seite hat, der setzt eben damit auch die Maßstäbe für das Weltgewissen; der agiert grundsätzlich für die Menschenrechte - und läßt seinerseits weniger handfeste moralische Instanzen wie Amnesty International oder sogar den Papst matt aussehen, wenn die sich mit Kritik an ihm vergreifen. Die Fakten sind für die herrschenden Ideen eben auch noch ein Argument !
Der Grund dafür, daß der selbstsichere Standpunkt westlicher Dominanz sich so eindeutig und so massiv gegen die Sowjetunion richtet, ist denkbar einfach - und hat mit deren inneren politischen Verhältnissen denkbar wenig zu tun. Sie stört grundsätzlich, weil sie sich seit jeher und seit den Tagen der Beendigung des Zweiten Weltkrieges dem ‚Angebot‘ einer friedlich-freundschaftlichen Oberaufsicht der USA nicht fügt. Nicht die Grenzziehung zwischen Ost und West, die Frage einer Provinz oder eines Staates hüben oder drüben, hat USA und Sowjetunion so unversöhnlich entzweit, sondern das russische Unterfangen, die eigene Frontlinie zur Schranke für die amerikanische Absicht einer Neueröffnung der internationalen Konkurrenz unter ihrer Obhut zu machen und nicht als Demarkationslinie innerhalb der schiedsrichterlichen Zuständigkeit der USA zu behandeln. Was heutzutage rückblickend als Beweis für eine - tief bedauerte! - amerikanische Vertrauensseligkeit und naive Friedfertigkeit gedeutet wird, nämlich Roosevelts Demobilisierungsplan sowie Trumans ‚Verzicht‘, die sowjetische Macht mit der Atombombe zu zerschlagen, solange die USA noch das Monopol auf diese Waffengattung besaßen (ein imperialistischer Wunschtraum, dessen Nichtverwirklichung, ärgerlich genug vom Standpunkt dieses Wunsches aus, dann wenigstens jeden Vorwurf des Imperialismus an die USA entkräften soll!), das gehört gerade umgekehrt zur Politik einer Weltmacht, die nach ihrem Sieg überhaupt nicht mehr Partei sein will, sondern Patron und oberste Instanz einer von ihr zugelassenen Welt der Staatenkonkurrenz und des Parteienstreits. Mit ihrer praktischen Weigerung, sich dieser ‚pax americana‘ zu beugen, hat die Sowjetunion denn auch nicht mehr bloß die alte Konkurrenz der Großmächte mit neu verteilten Machtpositionen und -mitteln fortgesetzt, wie es ihre Vorstellung und Absicht gewesen sein mag, sondern sich der von den USA angestrebten ‚Weltordnung‘ widersetzt, am ‚Weltfrieden‘ als solchem versündigt und außerhalb der ‚Völkergemeinschaft‘ gestellt - so jedenfalls sahen und sehen es die USA; und mit ihrem Erfolg beim Aufbau einer ‚westlichen Welt‘, die in der gewünschten Weise der amerikanischen Oberhoheit und dem Fungieren amerikanischen Reichtums funktional eingeordnet ist, hat ihre Sicht der Dinge sich als die praktisch maßgebliche durchgesetzt. Weltweit, oder jedenfalls unter fast allen Staaten der Welt, darunter allen, deren Macht und Reichtum zählen, haben die USA ihre politische und militärische Führerschaft als BündnisPartnerschaft, eine auf ihren Vorteil zugeschnittene Benutzung allen Reichtums und jeglicher Armut als ‚Wirtschaftsordnung‘ und 'Weltmarkt‘ durchgesetzt; deswegen heißt der ideologisch wie praktisch gültige Vorwurf an die Sowjetunion: sie will nicht Partner sein. Weil und in dem Maße, wie der moderne Imperialismus der USA die Souveränität der fremden Staatsgewalten prinzipiell relativiert und als relative konstituiert, das Ideal von Weltherrschaft also wahrgemacht ist, deswegen und insoweit ist die Politik der Sowjetunion nicht mehr das Konkurrenzgebaren einer Großmacht, sondern ein Aufstand gegen eine ordentliche Weltherrschaft, also Anti-Imperialismus in der ganzen negativen, abstrakten Bedeutung des Wortes : Auf ihre Ziele kommt es überhaupt nicht an - nämlich nur insofern, als sie den durchgesetzten Prinzipien widersprechen, nach denen die Souveräne dieser Welt sich gefälligst ihre Zwecke zu setzen und um deren Realisierung zu kümmern haben. Die gemeinschaftliche Macht des Westens definiert sie praktisch als Störenfried - das ist der imperialistische Begriff der Sowjetunion.
Dessen praktische Konsequenzen liegen auf der Hand; sie machen den Alltag des ‚Ost-West-Gegensatzes‘ aus. Erst angesichts der Unbotmäßigkeit der Sowjetunion, angesichts dieser aber um so härter und entschiedener, bekam die Einrichtung einer unter der Obhut der USA und zu deren Nutzen und Vorteil konkurrierenden Staatenwelt ihre polemische Zweckbestimmung, der Sowjetunion das Überleben möglichst schwer zu machen, vor allem sie von der Konkurrenz um politischen Einfluß fernzuhalten. Zur praktischen Durchsetzung des Standpunkts, von dem aus die USA die ‚Vereinten Nationen‘ gegründet hatten und auszubauen gedachten, wurde aufgrund sowjetischer Hartnäckigkeit die ‚Ergänzung‘ der UNO durch ein System von Paktorganisationen nötig: Die weltweite Einheit der Nationen unter amerikanischer Führung, das Ideal der UNO, war ‚zerbrochen‘, die ‚freie‘ Staatenwelt hatte sich als bedingungslos feindliche ‚Umwelt‘ gegen die Sowjetunion zu bewähren. Daß dies den USA mißfiel, eine ideal funktionierende UNO ihnen lieber gewesen wäre, gilt heute als weiterer Beleg für den nicht-imperialistischen Charakter der amerikanischen Nachkriegspolitik - und beweist doch genau das Gegenteil: wie hätte den USA die Zurückweisung ihres Anspruchs auf weltweite Respektierung als Weltordnungsmacht recht sein können!
Auf der Grundlage weltumspannender Militärbündnisse haben die USA die zuerst als ‚Kalter Krieg‘ populär gewordene spezielle Diplomatie der Sowjetfeindschaft- amerikanisch: ‚containment‘ - durchgesetzt, deren Prinzipien durch die Reagan-Regierung so nachdrücklich in Erinnerung gebracht werden, als wären sie je außer Kraft getreten. Grundsätzlich werden die außenpolitischen Interessen und Angebote der Sowjetunion nicht in die Vorteilsberechnungen der anderen Souveräne einbezogen, sondern zurückgewiesen. Bündnisse mit ihr kommen nicht in Frage, schon gleich nicht für Staaten von Gewicht; entschließt ein weniger maßgeblicher Staat sich zu einem Freundschafts- oder gar Beistandspakt mit dem ‚Ostblock‘, so kostet ihn das - bis zum Widerruf und tätiger Reue - jeden politischen Kredit im Westen. Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung um Gott und die Welt sind nicht der diplomatische Normalfall, sondern finden, wenn überhaupt, unter gehörig geltend gemachten Vorbehalten gegen die prinzipielle Verhandlungswürdigkeit der anderen Seite statt. Selbst wo nicht mehr unbedingt die Maxime von der grundsätzlichen Vertragsuntreue der ‚Soffjets‘ gilt, möchte doch jeder westliche Staat und wollen vor allem die USA bereits ihre bloße Bereitschaft zu Gesprächen als Zugeständnis gewürdigt und honoriert sehen. Bezüglich der Sowjetunion steht eben - sogar in ‚entspannten‘ Zeiten - immer wieder die Frage zur Debatte, ob sie die ihr zugestandene politische Anerkennung überhaupt verdient. Daß Staaten letztlich nur die ‚Sprache der Gewalt‘ verstehen, ist zwar auch sonst die grundlegende Lebensweisheit der Diplomatie; im Falle der Sowjetunion soll dieser Spruch aber so unmetaphorisch gelten, daß das diplomatische Geschäft mit ihr sich immerzu schon als gefährliche Nachgiebigkeit verdächtig macht; von der ‚Detente‘ haben nach dem inzwischen gültigen Urteil - das in der Sache wirklich nicht das Geringste für sich hat - ‚nur die Russen profitiert‘. Das Verlangen nach Koexistenz wird im Westen bereits als Aufforderung zur Kapitulation aufgefaßt - in der Tat hieße das ja auch, vom Verdikt der Untragbarkeit dieses Staates abzurücken; es wurde daher mit der Gründung der NATO abschlägig beschieden, noch ehe die Sowjetunion es vorgebracht hatte. Inzwischen gelten bekanntlich schon sowjetische Angebote, die Aufnahme von ‚Rüstungskontrollverhandlungen‘ mit dem einstweiligen Stop ihrer Mittelstreckenraketenrüstung zu honorieren bzw. im Rahmen dieser Verhandlungen mit einseitiger Abrüstung dem Westen etwas von seiner Waffengattung abzuhandeln, als ziemlich unverschämter Anschlag auf die Einigkeit und Entschlossenheit des westlichen Bündnisses.
3. Außer der Sowjetunion und ihren Bündnispartnern gibt es nur wenige Staaten, die die ‚freie Welt" ähnlich entschieden für untragbar befunden hat; die betroffenen Regierungen haben diesen Befund meist nicht lange, die dazugehörigen Völker in manchen Fällen nur teilweise überlebt. Tatsächlich hat es in den letzten Jahren auch nurmehr der militante Islam in Iran und Libyen zu einer Staatsgewalt gebracht, die, ebenso kompromißlos wie der Revisionismus an der Macht, ihre Gefügigkeit gegenüber der imperialistischen Weltordnung und den partnerschaftlichen Verlaufsformen der darin eingerichteten Benutzungsverhältnisse aufgekündigt hat und dafür vom Westen als nicht hinzunehmende Gefahr für die zivilisierte Staatenwelt verurteilt worden ist. Gemeinsam mit der Sowjetunion dürfen solche Staaten sich als Vaterländer des ‚internationalen Terrorismus‘ beschimpfen lassen: mit dem Entzug westlicher Anerkennung bleibt, vom maßgeblichen Standpunkt aus gesehen, von ihrer Staatsgewalt eben bloß noch die Gewalt übrig. Solche Verdikte, ebenso wie die Unbefangenheit, mit der ein und dieselbe fromme Idiotie in Afghanistan als unauslöschlicher Freiheitsdurst gelobt, nebenan als blutdürstiger ‚Rückfall ins Mittelalter‘ verteufelt wird, zeigen übrigens schlagend, wie vollständig die imperialistische Schätzung eines Souveräns erhaben ist über jede Kenntnisnahme von seinen positiven politischen Zwecken und Vorhaben: die Feststellung seines Anti-Imperialismus liefert in allen Fällen die ausreichende Grundlage für die kompetente und maßgebliche Beurteilung und läßt sich für diplomatische Zwecke ebenso wie für den demokratischen Hausgebrauch allemal leicht in einen ganzen Katalog von Verbrechen gegen die ‚Menschenrechte‘ übersetzen. Solchen ‚Unrechtsregimen‘ gegenüber führen die westlichen Führungsmächte sich mitnichten als gegnerische Partei auf, sondern nehmen ‚schweren Herzens‘ die ‚ungeliebte‘ Rolle des ‚Weltpolizisten‘ auf sich, der nie anders als im Namen der Ideale und eines passend gewählten Prinzips wohlgeordneter internationaler Verhältnisse den Übeltäter ‚in die Schranken weist‘ - die innere Abteilung erledigt derweil die CIA, so gut sie kann, und allemal in der unanfechtbaren moralischen Gewißheit, mit ihrem Terror dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Das Realistische an der ideologischen Redeweise vom ‚Weltpolizisten‘ ist dabei der Umstand, daß die USA und ihre Verbündeten in solchen Fällen tatsächlich nicht ernstlich die reale Gefährdung ihrer weltpolitischen Position abschätzen und abwehren - was hätte die geballte Macht dieser Nationen denn da zu fürchten! -, sondern schon den praktischen Zweifel an ihrer universellen und unwidersprechlichen Entscheidungsmacht und -kompetenz: die Unbotmäßigkeit einer fremden Staatsgewalt verfolgen.
Es ist nicht die Abwägung einer Notlage, auch nicht immer die Berechnung eines geschäftlichen Nutzens und noch nicht einmal immer die Kalkulation eines strategischen Vorteils, die die US-Regierung zum Gebrauch von ‚Gewalt als Mittel der Politik‘ schreiten lassen. Sie spielt die Frage der Interpretation einer sowjetischen Brigade auf Kuba als Kampf- oder Ausbildungseinheit zum Grundsatzproblem der Weltpolitik hoch - und auch wieder herunter; sie bremst den Einsatzeifer der CIA und der Republik Südafrika gegen eine unliebsame, nicht anerkannte Regierung in Angola - um ein Jahr darauf beider Geschöpf und Kampftruppe gegen die MPLA, der Unita, Waffen zu versprechen und durch südafrikanische Soldaten gleich bis mitten nach Angola hinein liefern zu lassen; sie zögert lange Zeit, einen am Ende erfolgreichen, bedingungslos verurteilten Aufstand in Nicaragua militärisch niederzuwalzen, duldet die neue Regierung unter explizitem Vorbehalt - und organisiert gleich drei Nachbarstaaten zur schlagkräftigen Militärmacht, die sich zuerst gegen Partisanen in Salvador bewährt; sie plaziert Seemanöver ihrer Mittelmeerflotte mitten in ein von Libyen beanspruchtes Gebiet, stimmt diese Aktion zeitlich mit ägyptischen Heeresmanövern an der libyschen Grenze ab, treibt den geplanten und planmäßigen ‚Test‘ auf Libyens Militanz mit dem Abschuß feindlicher Abfangjäger bis zur weltöffentlichen Blamage des islamischen Anti-Imperialismus voran und tut dann ganz gelassen kund, man hätte einen Sieg ausgerechnet für das goldene Prinzip der ‚Freiheit der Meere‘ errungen; bis dieses Buch einem Leser in die Hände fällt, wird die Liste noch um etliche Positionen länger sein. Und stets beweisen die USA mit ihrem Eingreifen einerseits die Freiheit, mit der sie über die Wichtigkeit von Ereignissen auf der Welt befinden, andererseits die Bedingungslosigkeit des Respekts, auf dem sie als Weltmacht in sämtlichen Angelegenheiten bestehen. Der Materialismus der amerikanischen Weltpolitik: Fähigkeit und Wille zu freier geschäftlicher Benutzung der gesamten Staatenwelt, ist allemal der Ausgangspunkt. In den Kalkulationen der zuständigen Regierung, und besonders deutlich eben, wenn diese eine - in der Regel blutige - Machtdemonstration für angezeigt hält, übersetzt er sich aber in einen Idealismus der nationalen Ehre, der in seiner Abstraktheit und Empfindlichkeit lächerlich wäre - wo er von Machthabern minderen Ranges beansprucht wird, ist er das auch! -, entspräche er nicht so genau der Universalität und der Wucht des weltpolitischen Materialismus, aus dem er sich ableitet und dem er dient und nützt. Die Freiheit, sich allem Weltgeschehen gegenüber den Standpunkt des verletzten Ehrgefühls leisten und alles daran messen zu können, macht die bemerkenswerte Bequemlichkeit der politischen Oberaufsicht der USA über die Staatenwelt aus.
Nebenher klärt sich damit auf, weshalb ein amerikanischer Präsident schwerlich zu dumm oder ungeschickt und sein Bewußtsein gar nicht falsch genug sein kann, um seinen so ungeheuer ‚schweren‘, ‚einsamen‘ usw. Job sachgerecht zu erledigen. Dafür genügt nämlich völlig die Gewißheit, daß er sich nichts gefallen zu lassen braucht, und der Wille, sich auch nichts gefallen zu lassen. Damit hat er zwar noch nicht jeden Erfolg in der Tasche - auch amerikanische Präsidenten können politisch ‚scheitern‘: wenn sie ihre Stärke nicht skrupellos genug nutzen! -, auf alle Fälle aber den entscheidenden Punkt getroffen. Die Stärke der Nation, gegen deren Zwecke kein anderer Souverän mit seinen Anliegen Recht behält, macht die Gleichung von Erfolg und Eitelkeit in beiden Richtungen gültig. Ein so wohl fundiertes Ehrgefühl wie das eines amerikanischen Präsidenten ist eben nicht das unglückliche Bewußtsein der Schwäche, sondern die Selbstverständlichkeit des imperialistischen Erfolgs und kann, als Spiegelbild der Freiheit amerikanischen Verfügens, auch deren adäquater Leitfaden sein. Von seinen Verbündeten, die diese Gleichung durchaus zu spüren kriegen - sie beschweren sich dann über ‚mangelnde amerikanische Sensibilität‘ und kühlen ihren Ärger mit abschätzigen Kommentaren zum Bildungsstand ihrer vorgesetzten Kollegen -, wird einem amerikanischen Präsidenten im Ernst auch gar nichts anderes abverlangt: die Forderung Nummer eins an ihn heißt ‚Leadership‘, und deren Brutalitäten werden regierungsamtlich noch allemal als die begrüßenswerte Tugend der Klarheit und Entschiedenheit verdolmetscht. Schon gar nicht braucht er sich, wenn er die Arroganz der Macht zur Regierungsmaxime auch im Innern macht, vor Wählern in acht zu nehmen, die ‚Number One‘ für den Begriff ihrer Nation halten; die nichts lieber mögen als ‚the flag‘; die keine Hemmungen haben, als Vergeltung für so in Teheran festgesetzte Volksgenossen ‚Nuke Iran‘ zu fordern, und vorsorglich selber demonstrierende Perser verprügeln; die keinen Vorbehalt kennen gegen die ihnen aufgeherrschte Gleichung von Erfolg und Recht, Erfolg und persönlicher Ehre, Erfolg und Frömmigkeit; für die der ‚pursuit of happiness‘ allen Ernstes erste patriotische Pflicht ist, die also ihren Nationalismus im Konkurrieren praktisch werden lassen. Auch der Imperialismus der USA hätte schließlich nicht die Freiheit zu jeder Rücksichtslosigkeit nach außen, wenn seine demokratischen Untertanen sie ihm nicht verschaffen würden: durch bedingungslosen Fleiß und eine Loyalität, die die innenpolitischen Brutalitäten der Staatsgewalt unerschütterlich als Sorge um die eigene Freiheit interpretiert.
4. Was der Sowjetunion die fortdauernde Feindschaftserklärung der USA und ihrer Verbündeten eingetragen hat, das war und ist ihre Weigerung, die eigene Macht in den Dienst der von den USA angestrebten demokratischen Neuordnung der Staatenwelt zu stellen; zum Hauptfeind, der mit seiner Unbotmäßigkeit den einzigen wirklichen Weltkriegsgrund schafft und gegen den daher die gesamte übrige Staatenwelt zu mobilisieren ist, hat sie es durch den Aufbau einer Militärmacht gebracht, dank derer sie diese Feindschaftserklärung bis heute durchgestanden hat, ohne sich der ‚pax americana‘ zu beugen. Das härteste NATO-‚Argument‘ für Angriffswillen und Gefährlichkeit der Sowjetunion besteht bekanntlich in dem Hinweis, sie hätte schließlich - und wozu wohl? - weit mehr und größere Waffen, als zu bloßer Verteidigung notwendig - ein ‚Argument‘ von wahrhaft atemberaubender Dreistigkeit: man soll es ja akzeptieren neben der NATO-Ideologie von der unabdingbaren Verteidigungsnotwendigkeit eines ‚ungefähren militärischen Gleichgewichts‘. Die Weisheit, daß Angriff die beste Verteidigung sei, ist eben eine sehr moralische: sie gilt nach Bedarf. Auf alle Fälle gilt der Sowjetunion gegenüber allein schon der Hinweis auf ihren Waffenbesitz als schlagender Vorwurf; und das sagt alles über den Standpunkt des westlichen Urteils. Für zulässig erachtet die ‚freie Welt‘ die Bewaffnung fremder Souveräne bloß dann und in dem Maße, wenn und wie sie diese- ‚zur Erfüllung legitimer Verteidigungsbedürfnisse‘ - konzediert. Deutlicher als mit diesem Anspruch, über Umfang und Schlagkraft anderer Staatsgewalten zu befinden, ist der Standpunkt schlechthin überlegener Weltmacht kaum geltend zu machen. Und genau mit diesem Anspruch scheitern die USA an der Sowjetunion: sie nimmt sich hier jede Freiheit heraus.
Sie scheitern damit im übrigen nur an der Sowjetunion. Alle übrigen Nationen, die sich eine auch nur näherungsweise vergleichbare Militärmacht überhaupt leisten könnten, haben die USA sich zu Verbündeten gemacht, und zwar zu so ‚verläßlichen‘, daß deren Aufrüstung ihnen nie als mögliche Konkurrenz, sondern nur in einer Hinsicht bedenklich erscheint - das allerdings immerzu -: Im Verhältnis zum gemeinsam festgelegten einzigen Kriegsgrund, der Existenz der ‚Supermacht‘ Sowjetunion, ist sie allemal gering. Allen anderen Staaten gegenüber haben die USA sowieso das imperialistische Ideal wahrgemacht, jederzeit an jedem beliebigen Ort schlechterdings überlegen zu sein. Mit der Atombombe und ihrer Fähigkeit, diese im Bedarfsfall überall sofort zum Einsatz bringen zu können, haben die USA sich tatsächlich das der Universalität und Unbedingtheit ihres Machtanspruchs angemessene militärische Mittel geschaffen. Der Unsicherheit und Unberechenbarkeit des Erfolgs auf dem Schlachtfeld, wo trotz aller Fortschritte die Kategorie des ‚Kriegsglücks‘ noch zählt, sind sie mit dieser Waffe prinzipiell enthoben. Ihr Einsatz realisiert unmittelbar den Einsatzzweck eines modernen Militärs: durch Vernichtung gegnerischer Machtmittel, Reichtum und Volk eingeschlossen, den widerspenstigen Willen einer fremden Staatsgewalt zu brechen und bedingungslos gefügig zu machen. Allerdings hat der Besitz dieser Waffe die übrigen militärischen Machtmittel, die seither ‚konventionell‘ heißen, und deren Perfektionierung keineswegs überflüssig gemacht. Denn zwar entbindet der abstrakte Zweck moderner Kriege, die Freiheit feindlicher Souveräne zu vernichten, das dafür angewandte Mittel der Zerstörung von allen Schranken und Vorbehalten bezüglich späterer Benutzung, erst recht von so kriegskrämerischen Gesichtspunkten wie dem einer zu machenden Beute; schon der ‚konventionelle‘ und erst recht der in Japan bereits geführte atomare Bombenkrieg geben deutlichsten Aufschluß darüber, daß das moderne Kriegsziel ‚bedingungslose Kapitulation‘ heißt und diesem Ziel das Rezept ‚verbrannte Erde‘ am besten angemessen ist. Andererseits sind damit die Gesichtspunkte der materiellen Benutzung der Welt doch keineswegs außer Kraft gesetzt. Gerade das bedingungslose Ehrgefühl einer Weltmacht erfüllt sich keineswegs in der Alternative von Botmäßigkeit oder totaler Auslöschung, sondern in der Freiheit zu jeder beliebigen Erpressung. Bedingungslose Kapitulation sieht eben in jedem Konfliktfall anders aus, und es sind jeweils andere Mittel die dafür adäquaten. Dadurch, daß die bedingungslose Kapitulation als eigentlicher und auch durchsetzbarer Kriegszweck mit der Atomwaffe allemal sichergestellt ist, sind jedoch für alle ‚Kriegsszenarios‘ minderer Güte die Maßstäbe gesetzt: Wenn schon nicht durch atomare Vernichtung, so muß um so mehr für die Gewißheit einer zweckentsprechend totalen ‚konventionellen‘ Niederlage des Gegners gesorgt sein. Gerade weil sie im Grunde die ideale und totale Waffe ist, hebt die Atombombe militärische Gewalt in anderen Formen nicht auf, sondern schafft die Freiheit, jedes Mittel nach Belieben einsetzen zu können, nämlich ohne auf seinen Erfolg letztlich angewiesen zu sein, und setzt genau damit die Gewalt mit allen je erdachten Formen, vom Bajonett eines ‚Green Beret‘ bis zu den raffiniertesten Kampfgasen und den dicksten Schlachtkreuzern, erst richtig frei. Gerade der Vietnamkrieg war ein jahrelanges Beispiel dafür, daß für die atomare Weltmacht USA ein ‚konventionelles‘ Schlachtfeld allemal ein Schlachtfeld ‚unter Vorbehalt‘ ist, nämlich ohne daß die amerikanische Militärmacht dort wirklich bedingungslos gefordert wäre; es war insoweit daher geradezu ein Experimentierfeld für eine nahezu unendliche Vielfalt von Mitteln, den Grad der Zerstörung exakt nach dem jeweils aktuell gewünschten politischen Zweck einzurichten. Diese indirekte ‚Anwendung‘ der Atombombe hat die bekannten auserlesenen Brutalitäten dieses Krieges hervorgebracht - bis hin zu dem Höhepunkt, daß Unterhändler Kissinger während seiner Pariser ‚Friedensverhandlungen‘ quasi stündlich die für seinen momentanen Verhandlungszweck optimale Bombenmenge auf Hanoi und Haiphong ‚abrufen‘ konnte.
Diese Freiheit der USA wäre schrankenlos - und vielleicht hätten sie auch noch den Vietnamkrieg ähnlich wie die Schlacht um Japan 1945 mit der ‚humanitären Geste‘ abgeschlossen, dem ‚endlosen Leid der Bevölkerung‘ durch zwei bis fünf Atombomben ein ; schnelleres Ende zu bereiten und ‚amerikanisches Leben zu schonen‘ (dies die gängige Rechtfertigung für Hiroshima und Nagasaki) -, hätte das russische Militär sich nicht seinerseits diese Waffe und die entsprechenden Transportmittel besorgt. Es hat damit den USA genau die alte Kriegskalkulation, alle ‚Unwägbarkeiten‘ der ‚Entwicklung auf dem Schlachtfeld‘ eingeschlossen und die Existenz der eigenen Souveränität selber in Frage stellend, ‚aufgezwungen‘, von der die USA sich gerade allen anderen Staaten gegenüber freigemacht hatten. Von der Position des überlegenen Schiedsrichters sahen die USA sich wieder zur Partei reduziert, im Gegensatz gegen die sowjetische Atommacht nämlich, und vor die ‚Notwendigkeit‘ gestellt, einen Krieg ohne vorentschiedenen Ausgang zu planen: den ‚Weltkrieg‘ - dessen Begriff eben nicht die Anzahl der Beteiligten ist, sondern die prinzipielle Infragestellung der ‚Weltordnung‘; und heute spielt sich eine solche Konkurrenz der Waffen von vornherein auf dem Niveau des atomaren ‚Schlagabtauschs‘ ab.
5. In der amerikanischen Weltkriegskalkulation und -planung kommt das Kriterium der bedingungslosen Kapitulation, an dem die USA den ihnen als Weltmacht ‚zustehenden‘ militärischen Erfolg allein zu messen bereit sind, zu ganz neuen Ehren. Maßstab ihrer strategischen Überlegungen ist von vornherein nicht ein Begriff realer Gefährdung, der die geliebte amerikanische Heimat ausgesetzt wäre. Sie beziehen sich erstens auf die mögliche Gefährdung, zweitens der von ihnen durchgesetzten und gehüteten Einrichtung der Welt - und sind entsprechend maßlos. Die Wahrheit, daß der amerikanische Reichtum praktisch alle Staaten der Welt außerhalb des ‚Ostblocks‘ zu seiner Heimat gemacht hat und die amerikanische Macht alle Weltgegenden als ihre Machtmittel zu benutzen versteht, übersetzt sich in dieser Kalkulation in lauter Notwendigkeiten eines globalen Krieges: Allen Ernstes verdolmetschen US-Strategen sich die Weltmachtansprüche ihrer Nation mit der Vorstellung ihres Kontinents als einer ‚Weltinsel‘, die als solche nur in Freiheit überleben könnte, wenn sie die ‚Herzlandmacht‘ Sowjetunion von den als amerikanische ‚Gegenküste‘ definierten Rändern der alten Kontinente Europa und Asien sowie aus dem fast als deren Anhängsel betrachteten afrikanischen Kontinent fernhält. Und diese sehr frei und souverän eingebildete geopolitische ‚Notlage‘ der USA bemißt sich von diesem Standpunkt aus eben nicht an den tatsächlich ausmachbaren Vorhaben des vorgestellten Gegners, sondern wird auf die nackte Tatsache bezogen, daß es die Sowjetunion als Widerpart überhaupt gibt, und dementsprechend als unbedingt und unermeßlich aufgefaßt. Für die amerikanische Weltkriegsplanung geht es um nichts Geringeres als darum, die mögliche Gefahr auszuschalten, die allein in der Existenz einer unbotmäßigen, militärisch standhaltenden fremden Staatsmacht liegt: diese ganz abstrakte, prinzipielle ‚Gefahr‘ ist für sie der Weltkriegsfall. ‚ Verteidigung‘ bekommt so für die USA ganz logischerweise den höchst ungemütlichen Inhalt, die Sowjetunion als Kontrahenten auszuschalten und wieder zur nationalen Figur unter anderen innerhalb der ‚pax americana‘ zu reduzieren; ‚Selbstschutz‘ heißt ganz selbstverständlich -.Negation der Ausnahme, die die Sowjetunion darstellt; Aufhebung der ‚zweiten Welt‘, die das ‚sozialistische Lager‘ sein will.
Für die Militärmacht des ‚freien Westens‘ folgt aus dieser Weltkriegsidee eine Aufgabe, die unter dem NATO-Firmennamen ‚Abschreckung‘ als Prinzip erst einmal schlicht das Ideal wiedergibt, die russische Militärgewalt bereits wieder unter amerikanische Oberhoheit gebeugt zu haben: jeder denkbaren Militäraktion des Gegners schlagartig so machtvoll entgegenzutreten, daß der realistische Schaden für den Gegner allemal höher ist als jeder von ihm allenfalls erhoffte Vorteil. Diese Anforderung ans eigene Militär ist keineswegs aus der Vorstellung abgeleitet, der Feind würde seine Kriege um den Staatsschatz von Österreich oder den Genuß freier Verfügung über den Hamburger Hafen anzetteln; sie rechnet im Gegenteil mit der Entschlossenheit der Sowjetunion, unter bestimmten Bedingungen alle ökonomischen Vorteilsrechnungen aufzugeben - schließlich ist die Sowjetunion der letzte Staat, der durchs Kriegführen reicher würde! - und für die Durchsetzung ihrer Souveränität die äußersten Opfer zu bringen. Deren Vernichtung soll also die westliche Militärmacht im Ernstfall garantieren können - wahrhaftig kein anspruchsloses Ziel, aber noch längst nicht das ganze. Man sollte der westlichen Verteidigungs‚doktrin‘ nämlich auch nicht die Fahrlässigkeit unterstellen, sie nähme ihrerseits für den ‚Vorteil‘ einer erfolgreichen Zurückweisung jeden militärischen Durchsetzungswillens der Sowjetunion eine Schädigung in Kauf, die die Durchsetzungsfähigkeit der alliierten Staatsgewalten unmöglich oder auch nur zweifelhaft machen würde. Zum Ideal der ‚Abschreckung‘, auf das die NATO sich festgelegt hat, gehört logischerweise eine gewisse Einseitigkeit: dem Gegner militärisch so entgegenzutreten, daß der dadurch realisierte eigene Vorteil, der Erfolg über ihn, allemal größer ist als der allenfalls zu befürchtende Schaden. Das ganze Konzept der ‚Abschreckung‘ enthält so überhaupt nichts anderes als die triviale Maxime, die seit jeher für Kriegsvorbereitungen aller Art maßgeblich war, nämlich daß man ihn gewinnen will; jetzt allerdings mit einem Kriterium für den angestrebten Sieg, der den Zeiten des modernen Imperialismus angepaßt ist: die Souveränität der feindlichen Staatsmacht als solche zu vernichten.
Man hätte also wirklich nicht erst die von der Reagan-Regierung wieder in alter Frische in Umlauf gesetzten Klarstellungen abzuwarten brauchen, um auf die ebenso banale wie brutale Wahrheit der NATO-‚Abschreckungsdoktrin‘ zu stoßen. Zumal ja nicht bloß diese ‚Doktrin‘ jede wünschbare Auskunft über die Ernsthaftigkeit des westlichen Siegeswillens gibt, sondern erst recht die Praxis der Kriegsplanung und -Vorbereitung zu keinerlei diesbezüglichen Zweifeln je Anlaß gegeben hat. Deren Kriterium jedenfalls ist eindeutig: Nachdem der Feind sich die Kapazitäten für einen vernichtenden atomaren ‚Zweitschlag‘ zugelegt und damit den entscheidenden strategischen Vorteil eines westlichen Atomwaffenmonopols zunichte gemacht hat - das Ideal nämlich, mit dem einseitigen Einsatz dieser Waffen den äußersten Kriegszweck unmittelbar zu realisieren -, steht die Inszenierung eines die Atomwaffen mit umfassenden Kriegsschauplatzes an, auf dem sich nach klassischem Muster Sieg und Niederlage entscheiden. Sicher, ein Gefechtsfeld dieser Art hat seine Tücken; denn eigentlich sind Atomwaffen für die Logik einer regulären Schlacht z‚wuchtig: sie waren ja gerade das verwirklichte Ideal der Emanzipation vom Kampf ums schließliche ‚Kriegsglück‘. Das war und ist aber noch lange kein Grund für die - von Friedensforschern und Amateur-Strategen nach dem falschen Motto: ‚Die Waffe macht den Krieg!‘ gepflegte - törichte Hoffnung, mit Atomwaffen wäre ein regulärer Kampf um Sieg und Niederlage gar nicht mehr zu machen, weil im allgemeinen Inferno dieser Unterschied abhanden käme. In der zivilisierten Welt von heute sind Probleme schließlich dazu da, gelöst zu werden; schon gleich, wenn die fünfzehn mächtigsten und reichsten Nationen der Welt dafür zusammenwirken. Das strategische und taktische Ziel war ja von Anfang an klar: Wenn Atomwaffen die Dimensionen des herkömmlichen Schlachtfeldes sprengen, dann muß man eben ein für sie geeignetes Schlachtfeld erfinden und dem Gegner als Stätte der Entscheidung aufzwingen.
Genau für dieses schöne Ziel ist, wie inzwischen jeder weiß oder wissen könnte, mit der Entwicklung der Neutronenbombe auf der einen Seite, von Pershing II und Cruise Missiles auf der anderen Wesentliches geleistet. Letztere sind die einstweilen - und von allen Geheimentwicklungen einmal abgesehen - fortschrittlichsten militärischen Instrumente, um die Idee einer atomaren Kriegführung, die nicht unmittelbar die gesamte Oberfläche und Bevölkerung des feindlichen Staates vernichtet, Wirklichkeit werden zu lassen. Vermittels ihrer extremen Zielgenauigkeit können diese Apparate ein begrenztes atomares Schlachtfeld herauspräparieren und praktisch zurechtdefinieren, auf dem Sieg und Niederlage durchaus deutlich geschieden bleiben. In logischer Ergänzung dazu kommt gleichzeitig das Gefechtsfeld der alten, ‚klassischen‘ Machart, wo es eine Front und Abwehrstellungen gibt und zu dem noch regulär hinmarschiert oder -gefahren wird, zu neuen Ehren. Das paradoxe Ideal, die Logik des mit Sieg und Niederlage endenden Gefechts ‚alter‘ Machart mit dem Vorteil der Atomwaffe, die das Hin und Her der Schlacht überwindet und den Sieg garantiert, zu verbinden, wird hier mit sinnreich zu Geschossen verkleinerten Atomwaffen seiner Verwirklichung nähergebracht. Eine andere ‚Perversion des Denkens‘ als dieses Atomkriegsideal ist an jener berüchtigten ‚atomaren Gefechtsfeldwaffe mit verminderter Druck- und Hitzewirkung‘ jedenfalls kaum auszumachen. Ausgerechnet die auch von Militärs und Politikern geteilte Abneigung gegen eine ‚atomare Selbstvernichtung der Menschheit‘, im Klartext also: gegen ein Krieg ohne eindeutige Siegerchancen, wird so zum Motor für die Konstruktion und praktische Vorbereitung einer größtmöglichen Vielfalt von ‚Kriegsszenarios‘, innerhalb derer man den Feind zu einer letzten Entscheidung zwingen können möchte. Die Vielzahl von Optionen für jeden erdenklichen ‚Ernstfall‘ wird damit zum entscheidenden Zweck der Aufrüstung: von der Bundeswehr bis zum letzten chinesischen Soldaten, der sich zum Ussuri in Marsch setzen läßt, und von entmotteten Weltkrieg-II-Schlachtschiffen der US-Navy bis hin zu den weniger wissenschaftlichen Gerätschaften, die ‚Space Shuttle‘ in den Weltraum transportiert, geht es um die Freiheit, an der sich für die USA ihre wirkliche militärische Weltmacht entscheidet: die Freiheit, den Gegner dort zu stellen, wo man ihn haben will, ihm Kriege jeder Sorte und jeden Ausmaßes antragen und aufzwingen zu können und selber nie in eine gleichartige Zwangslage zu geraten.
In dieser Freiheit liegt denn auch die strategische Wahrheit des über lange Zeit speziell in Europa liebevoll gepflegten Ideals eines ‚militärischen Gleichgewichts‘: der Wille, der Sowjetunion in keiner Hinsicht unterlegen zu sein, macht militärisch bloß Sinn als die Kehrseite der festen Absicht, Alternativen vorauszuhaben. Es ist daher kein ‚Mißbrauch‘ des ‚Gleichgewichtsprinzips‘, sondern liegt in der Logik seines Erfinders, daß es gar nicht genügend ‚Gleichgewichte‘ zur Sowjetunion geben kann: neben dem ‚strategischen‘ der USA ein ‚eurostrategisches‘ bei den westeuropäischen NATO-Partnern, ein westpazifisches in Japan und Korea, am besten noch ein innerasiatisches zwischen Sowjetunion und China - gerade so, als wäre die sowjetische Militärmacht mehrfach, nämlich für jeden ihrer neu eröffneten ‚gleichgewichtigen‘ Kontrahenten erneut vorhanden. Erst so wird die ‚Abschreckung‘ völlig ‚glaubwürdig‘; freilich auf Kosten der für den internen Gebrauch damit verknüpften Ideologie der ‚Kriegsverhinderung‘ . An die haben die Praktiker der westlichen Militärpolitik allerdings ohnehin nie geglaubt. Daß sie inzwischen mit der Produktion und Dislozierung von punktgenauen Mittelstreckenraketen und Neutronengranaten den Übergang vom Aufrüsten zur Gefechtsklarheit ihrer Militärmacht vollziehen - dies der militärische Inhalt des ‚Endes der Entspannung‘ -, zeigt deutlich genug, mit welchen Wirkungen ihrer ‚Gleichgewichts‘-Politik sie rechnen.
3.2 Die Sowjetunion: ‚Archipel Gulag‘, ‚Sozialimperialismus‘ oder ‚Weltfriedensmacht‘?
1. Daß auch die sowjetische Politik auf einer strategischen Betrachtung der Welt gründet, läßt sich nicht bestreiten. Die Einschätzung des eigenen Landes, seiner natürlichen Ausstattung und der sowjetischen Völkerscharen im Hinblick auf einen Krieg ist sämtlichen Zentralkomitees im Kreml geläufig gewesen - und in der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs können russische Staatsmänner sogar darauf verweisen, daß ihre militärischen Kalkulationen ihren defensiven Charakter sowie ihre Bestimmung, nicht nur staatliche Interessen, sondern auch den Schutz des Volkes im Auge zu haben, schon einmal unter Beweis gestellt haben. Dennoch genießt die Sowjetunion als Militärmacht keineswegs die moralische Anerkennung, die sie als Bollwerk im Kampf gegen faschistische Eroberungsabsichten für sich reklamiert. Die Notwendigkeit dieses Staates, seit seiner Gründung mit Waffengewalt seine Wiederabschaffung zu verhindern, wollen westlich inspirierte Freunde einer friedlich geordneten Welt einfach nicht gelten lassen. Wer ihnen die außenpolitischen Zwecke der Sowjetunion auch nur andeutungsweise klarmachen will, setzt sich sofort dem Verdacht aus, um Verständnis zu werben für einen Staat, dessen Anliegen nicht einmal in ihrer elementaren Form, der puren Selbstbehauptung, so etwas darstellen wie politische Interessen, denen ein politisch kundiger Weltbürger dieselbe ‚natürliche‘ Existenzberechtigung zugesteht wie denen seiner politischen Führung. Und dies hat mit den rationellen Gründen, die sich gegen die Verwendung des Militärs in der und für die Außenpolitik des Kreml ins Feld führen lassen, herzlich wenig zu tun. Da wird ja keineswegs der Gebrauch der außenpolitischen Handlungsfreiheit kritisiert, die sich die Sowjetunion mit ihrer waffentechnischen Aufholjagd verschafft hat: der Versuch, sich sehr ungemütliche politische Herrschaften zu Partnern zu machen und jeden auswärtigen Nationalismus ‚Sozialismus‘ zu taufen, wenn er nur der ‚Weltfriedensmacht‘ diplomatisch gewogen ist. Ein solcher Einwand schlösse nämlich die Gegnerschaft gegen die einschlägigen Praktiken des freien Westens nicht aus! Das russische Vorgehen erfährt allein dadurch seine Verurteilung, daß es in Konkurrenz zur westlichen Art tritt, völkerfreundschaftliche Bande zu knüpfen. Daß der Einmarsch in Afghanistan das ‚Gleichgewicht‘ störe, welches sich durch die Allgegenwart westlichen ‚Einflusses‘ definiert, geht da lässig als Argument durch, dem die Beschwörung des Gütesiegels freiheitlicher Weltpolitik auf dem Fuße folgt: Der Export russischer Interessen ist keiner, den eine Demokratie veranstaltet! Diese dem NATO-Vertrag abgelauschte Unterscheidung zwischen guten, weil demokratischen Nationen zu verdankenden Auswärtsspielen von Kommerz und Luftwaffe und schlechten Besuchsreisen undemokratisch entsandter Panzer könnte einen fast zu der dummen Wiederholung der bürgerlichen Spruchweisheit veranlassen, mit der ansonsten mißbilligte Umgangsformen von Individuen wie Staaten miteinander kommentiert werden: ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘! Denn was wird mit dem Maßstab ‚Demokratie‘ eigentlich schön und erträglich an einem Bombardement in Vietnam, an einem Einmarsch in Angola und einem Luftangriff auf Bagdad? Die Lüge des Arguments ‚Demokratie‘ ist freilich viel gründlicher inszeniert, als daß man ihr mit dem Hinweis begegnen könnte: das mag ja ein feiner Zweck sein, die Menschheit mit Demokratie zu beglücken, wenn ihm keine Gewalttat den Dienst als Mittel versagt! Die Generalabsolution, die jedem imperialistischen Siegeszug des Geldes und der Waffen mit dem Verweis erteilt wird, er werde immerhin im Namen einer freiheitlichen Grundordnung vollzogen, beruft sich auf die demokratische Abwicklung von Herrschaft, als wäre sie ein Zweck, für den man schweren Herzens auch mit schwerem Gerät auffahren müsse. Daß dies nicht der Fall ist, läßt sich durch einfaches Nachzählen der Demokratien ermitteln, die sich in der Staatenwelt finden, welche sich des Einflusses der NATO erfreut. Und wo frei, gleich und geheim gewählt werden darf, weil es das Gesetz so befiehlt und das Militär gewöhnlich nur für äußere Aufgaben und nicht für die innere Ruhe des Staates zuständig ist - wo das Volk also nach einer erzdemokratischen Kennzeichnung der Unterwerfungsbereitschaft ‚reif‘ ist -, umschreibt das Markenzeichen ‚Demokratie‘ keineswegs Verhältnisse, die durch Abwesenheit von Gewalt, Armut und Elend glänzen. Wenn das gemeint wäre, so würde sich die amerikanische Demokratie mit ihren Millionen Paupers, ihren Negern und mexikanischen Grenzgängern an der bescheidenen Solidität des Lebens in den Sowjetrepubliken noch allemal blamieren! Und ob die individuelle Unterdrückung ‚des einzelnen‘ Russen, der seine fünfzig Jahre vor sich hinarbeitet, einen Krieg mitmacht und übersteht, um dann mit kyrillischen Buchstaben auf seinem Grabstein unter der Erde zu landen, unerträglicher ist als ein amerikanischer Lebenswandel unter dem Schutz der Nationalgarde, die Studenten und Streikende zum sozialen Frieden auf amerikanisch überredet, ist auch nur für Leute ausgemacht, die in ihren Lobhudeleien auf die Freiheit ihre Freiheit erkennen und in katholischen Dissidenten ihre Gesinnungsgenossen.
Die obligatorische Würdigung der Sowjetunion in ihrer weltpolitischen Rolle, die ihr mit dem Doppelbeschluß ‚undemokratisch = gefährlich‘ jede Rüstungsmaßnahme als Aggression, jedes Angebot als diplomatisches Betrugsmanöver und ihre Präsenz im Ostblock und anderswo als imperialistische Knechtung echter Völker zur Last legt, zeugt in ihren armseligen und scheinheiligen Argumenten nur von einem: von der Bequemlichkeit im ideologischen Umgang mit einer Nation, die man als Feind ausgemacht hat. Der Anti-Kommunismus ist eben die negative und inhaltslose Lehre von der unbezweifelbaren Verwerflichkeit einer Staatsmacht, die wegen ihrer Unbrauchbarkeit als ‚Partner‘ stört und deswegen sogar den tautologischen Vorwurf der ‚Gewalt-Herrschaft‘ über sich ergehen lassen darf. Die Zielsetzungen der sowjetischen Politik brauchen keines Blickes gewürdigt zu werden, weil sie von den Parteigängern der Freiheit längst im Willen zur Unterdrückung, in der Fesselung der Individualität und in der teuflisch-bolschewistischen Sucht nach Macht geortet worden sind. Zwar blüht dieser Unsinn in den ihm eigenen Sprachregelungen, in Reinkultur also, ‚nur‘ im ZDF-Magazin und den Kraftsprüchen historisch denkender Christen und amerikanischer Spitzenpolitiker so ungeniert vor sich hin, daß ihn bedächtigere Zeitgenossen als ‚zu plump‘ ablehnen. Doch ‚subtil‘, nämlich als ständige Verpflichtung demokratisch-nationalistischer Politik, hat er seine Gültigkeit in den Paradiesen der freien Meinungsäußerung nie verloren. Ohne eine vorsorglich abgelieferte Treueerklärung zu ‚unserem‘ System, also ohne die Anerkennung des ‚Arguments‘: ‚Geh' doch rüber!‘, ohne das Bekenntnis zur vergleichsweisen Unerheblichkeit des eigenen Einwands gegen die demokratischen Herren hierzulande ist Kritik nicht opportun; bleibt die mit Blick auf die Sowjetunion geübte Selbstzensur aus, darf man der mit vollem Recht nach östlichen Bräuchen durchgeführten Zensur sicher sein, die dann im Namen der Freiheit ad personam exekutiert wird. Der westdeutschen Linken ist zu bescheinigen, daß sie diese Lektion nicht nur begriffen, sondern auch stets gründlich beherzigt hat. In ihren Versuchen, ihre sozialistischen ‚Perspektiven‘ populär zu machen - was das Gegenteil einer rationalen Überzeugung der Opfer von Staat und Kapital darstellt, sich per Klassenkampf die lebenslange Erfahrung zu ersparen, als Mittel in Fabrik, Kaserne und schließlich im Krieg zu dienen und damit unzufrieden sein zu dürfen -, haben sie immer betont, keine Russen zu sein. In der Annahme, ihre Adressaten seien letztlich nur wegen des schlechten Vorbilds drüben so schwer für den Sozialismus zu gewinnen, war ihnen die Klage über den eigenen Mißerfolg durchaus als Argument geläufig, das - übersetzt in: Wir möchten einen echten Sozialismus einführen, nicht den der östlichen Supermacht! - den Nationalismus der in die NATO-Demokratie befohlenen ‚deutschen Arbeiter‘ auf seine Kosten kommen ließ. Inzwischen stellen die Reste dieser Linken, nicht einmal die wegen ihrer Sympathie für die UdSSR einstmals ‚berüchtigte‘ DKP mag da noch eine Ausnahme machen, die Aktivisten einer ‚Friedensbewegung‘. Und die will in konsequentem Verständnis für den vorgefundenen Nationalismus und Freiheitsdrang des Publikums vor der Arroganz der - ihrer Überlegenheit sehr sicheren - NATO-Macht nur unter Vorbehalt erschrecken; brav betont sie, daß MC die SS 20 genauso wenig leiden kann wie jene amtierenden Experten, die damit die Unerläßlichkeit einer für die Sowjetunion ausreichenden atomaren Vernichtungskapazität in Westeuropa rechtfertigen. In der freien öffentlichen Meinung des Westens geht in Sachen Sowjetunion keine Auffassung durch, die nicht eine eindeutige Parteinahme gegen sie erkennen läßt - mindestens unter dem Rechtstitel einer gleichmäßigen Verurteilung von Ost und West: solche Ausgewogenheit ist schon längst einvernehmlich auseinanderdividiert in die genehme und daher seriöse Abteilung, in der das kritische Urteil sich mit der offiziellen Sprachregelung deckt und seine ganze Wucht entfalten darf, und in die andere, die je nach Bedarf als ehrlich gemeinte, aber naive ‚Schwarmgeisterei‘ oder als bedenklicher Erfolg einer ‚vom Kreml angezettelten demagogischen Propagandakampagne‘ rubriziert wird. Traurig zu sehen, daß sich, was in der BRD ‚sozialistische Linke‘ heißt, da lückenlos einfügt, sogar mit besonderem Eifer. In diesen Kreisen hat man die möglichst energische Verurteilung des ‚realen Sozialismus‘ und seiner Streitkräfte sogar als willkommenes Beweismittel für die Seriosität des eigenen Anti-Kapitalismus entdeckt. Die so um Anerkennung angebettelte bürgerliche Öffentlichkeit notiert das gelassen als ersten Schritt zurück in die demokratische Normalität: Wer wegen Kritik an auswärtiger Herrschaft Verständnis für das Mitmachen im eigenen Land entwickelt, weiß schließlich, was sich gehört. Und spätestens drei bis vier vom östlichen Feind verbrochene Untaten in den ‚Satellitenstaaten‘ lassen ihn, bei entsprechender Zubereitung durch die freie und demokratische Öffentlichkeit, zu der Überzeugung gelangen, daß ‚Sozialismus ohne Demokratie unmöglich‘ ist. Deswegen bescheidet er sich dann vorläufig, aber gerne mit der realen ‚Demokratie mit Kapitalismus‘ . . .
Sachkundig will dieser perfekt durchgesetzte Kriegsmoralismus sich - sogar da, wo er NATO-kritisch auftritt - nur in einer Hinsicht machen, nämlich ausgerechnet in Angelegenheiten der militärischen Strategie. Dabei teilt er einerseits die berufsmäßige Borniertheit des demokratischen Uniformträgers, der sich um Grund und Zweck staatlicher Gewaltaktionen nicht kümmert, sondern dem antizipierten Tötungsauftrag seiner Nation - zusammen mit seinem unverwüstlich guten Gewissen - als gehorsamer Beamter die Aufgabe entnimmt, alternative Schlachten mit einer möglichst günstigen Relation zwischen Vernichtungserfolgen und Verlustrisiken vorzubereiten - wobei das meiste schon mit der vertrauten Maxime ‚Nicht kleckern: Klotzen!‘ erledigt ist - und auf Befehl durchzustehen, auch wenn das Kampfgeschehen sich weniger günstig als vorgesehen entwickelt. Dem moralischen Urteil gerät die fachliche strategische Abwägung, wie dem Gegner optimal zu begegnen, zuvorzukommen und der Sieg am sichersten zu erreichen sei, allerdings andererseits zu einer Spekulation über die heiße Frage, wer in Ansehung aller Ausstattungsmerkmale des ‚Kriegstheaters‘ als der Hauptschuldige auszumachen sei - bzw., weil diese Frage ohnehin nicht zu entscheiden ist und bloß in fester Absicht überhaupt gestellt wird: inwiefern der feststehende Bösewicht aufgrund des geplanten Schlachtablaufs als der Hauptschuldige dingfest gemacht werden kann. Die eine, bedingungslos kampfbereite Mehrheitsfraktion im zulässigen demokratischen Meinungsstreit ist mit ihrer prätendierten Sachkenntnis an nichts als an Belegen für eine ‚unerträgliche‘, möglichst noch für eine rapide wachsende Überlegenheit der sowjetischen Militärmacht und ihre entsprechend unendliche Gefährlichkeit interessiert; daß ihre Schreckensgemälde oft genug die Frage provozieren müßten, weshalb die Rote Armee dann eigentlich noch nicht längst vor Brüssel steht, läßt sie kalt. Ebensowenig läßt diese Mehrheitsmeinung sich irritieren, sieht sich vielmehr gleich doppelt bestätigt, wenn das fachkundig errechnete Mißverhältnis zwischen russischer Offensiv- und westlicher Defensivstreitmacht an einem Tag auf 1: 4 und am nächsten auf 1:8 beziffert wird; und ungerührt hält sie an beiden Ideologien zur westlichen Aufrüstung fest, wie offensichtlich auch immer diese miteinander in Konflikt geraten: Das Versprechen des amerikanischen Präsidenten, zum Zwecke eines ‚Sicherheitsvorsprungs‘ die Sowjetunion ‚totzurüsten‘, und das 1,5-Billionen-Dollar-Programm, mit dem dieses Versprechen wahrgemacht werden soll, verdolmetscht man sich da je nachdem als ein höchst defensives Ringen um die Abwendung westlicher Erpreßbarkeit -gerade so, als ließen Genscher, Schmidt oder Kohl, Mitterrand und Thatcher auch nur die geringsten einschlägigen Symptome erkennen; oder aber man übernimmt die militärische Kalkulation, nach der dem Feind nur mit einem siegreich zu führenden Krieg wirksam zu drohen ist, und verklärt den Kampf um Überlegenheit zur allerendgültigsten Friedenssicherung - vielleicht hat irgendein sprachgewaltiger Interpret dieser Ideologie bis zum Erscheinungsdatum des vorliegenden Buches schon die Parole vom ‚Gleichgewichtsvorsprung‘ in Umlauf gesetzt: sie wäre der ‚Nachrüstung‘ kongenial. Die friedensbewegte Gegenseite, ob in oder außerhalb der SPD, sorgt sich angesichts jeder neuen waffentechnischen Errungenschaft der USA darum, ob damit nicht ‚die Atomschwelle herabgesetzt‘ und ‚der Atomkrieg wieder führbar‘ gemacht werde - ein in jeder Hinsicht kurioses Bedenken. Wenn nämlich die offiziellen Strategen sich um die ‚Führbarkeit des Atomkriegs‘ gesorgt haben und noch Gedanken machen, dann meinen sie keineswegs, der Einsatz ihrer Kernwaffen machte militärisch womöglich gar keinen Sinn, sondern beklagen die Schwierigkeiten, mit diesem Gerät einen gleichartig gerüsteten Gegner in eine so ausweglose Lage zu bringen, daß ihm nur noch die bedingungslose Kapitulation bleibt. Und wenn sie sich um die Überwindung dieser Schwierigkeiten kümmern, dann können sie nach derselben Logik des ‚Gleichgewichts des Schreckens‘, die gegen sie ins Feld geführt wird, darauf verweisen, daß zum gleichgewichtigen Schrecken noch allemal dessen Realismus gehört und fremdländische Militärs nur durch eigene Siegeschancen zu beeindrucken sind - genauso wie sie selbst. Gegen die Ideologie von einem ‚Näherrücken‘ des Atomkriegs, das durch Waffenentwicklungen bewerkstelligt würde, wird inzwischen sogar schon die Wahrheit ins Feld geführt, daß schließlich nicht die Waffen selbst oder ihre Bedienungsmannschaften, schon gar nicht die Herstellerfirma und noch nicht einmal die militärischen Befehlshaber über deren Einsatz befinden, sondern die obersten demokratischen Politiker - das aber nicht im Sinne einer Hetze gegen eine Politik, die sich mit derartigen Mitteln ausstattet, sondern als Entschuldigung jeglicher Rüstungsmaßnahmen, deren Harmlosigkeit damit für bewiesen gelten soll. Und man muß schon sagen: Kriegskritiker, die sich für ihre Kritik auf das Kriegsgerät berufen und dessen Verwender vor ihm warnen, haben es nicht besser verdient.
Auf die Kriegsgründe der einen wie der anderen Seite und damit auf den wirklichen politischen Zweck der Rüstung im Osten und im Westen bezieht die Sachkunde, die heute jeder Meinung über die Sowjetunion und ihre Feindschaft zum ‚freien Westen‘ abverlangt ist, sich also nicht. Darüber Bescheid wissen zu wollen, würde sich auch schlecht vertragen mit dem moralischen Beschluß, entweder im Namen der ‚Bedrohung des Westens‘ einseitige oder im Namen der ‚drohenden Kriegsgefahr‘ ausgewogene Verurteilungen über die Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion auszusprechen. Und das nicht einmal bloß aus dem allgemeinen Grund, daß der in strategische Debatten eingekleidete Moralismus einer vorweggenommenen Kriegsschuldfrage allemal etwas anderes ist als die Analyse weltpolitischer Zwecke eines Staates. Wie wenig erhellend erst recht im Falle der Sowjetunion die, sei es einseitige oder ausgewogene, Überzeugung ist, sie sei mindestens genauso schlimm wie ihr westlicher Kontrahent, kann schon das bloße Gedankenexperiment verdeutlichen, dieses ‚genauso‘ allein in der Vorstellung einmal wirklich Gestalt annehmen zu lassen. Was wäre auf der Welt wohl fällig, wenn eine den USA ebenbürtige und gleichgeartete Weltmacht ihrerseits den eigenen Rubel nicht bloß aus dem Diktat der Konvertibilität herausgehalten, sondern allen Handelspartnern vermittels einer frei festgesetzten Rubel-Gold-Parität als Maßstab ihrer nationalen Währungen und Grundlage ihrer nationalen Zirkulation auferlegt hätte? Wenn sie mit gleicher Wucht den Geschäftsvorteil ihres nationalen Kapitals zur Geschäftsgrundlage ganzer Staaten gemacht hätte? Wenn sie mit der gleichen Selbstverständlichkeit, und weil sie es für das Gedeihen ihrer Nationalökonomie zu benötigen beschlossen hat, die Bodenschätze in aller Welt, vom arabischen Erdöl bis zum katangischen Kupfer, als ihre angestammte Interessenssphäre reklamieren würde? Wenn sie, genauso wie die USA bezüglich Afghanistans, ihrerseits die ‚ordnungsstiftenden‘ Eingriffe der USA in jedem mittelamerikanischen Land als beleidigenden Angriff gegen ‚uns‘ definiert hätte? Wenn sie für alle diese Unternehmungen ihrerseits alle anderen wichtigen und reichen Nationen auf Bündnistreue verpflichtet und mit einem weltweiten Netz von Bündnissystemen ein ‚Containment‘ ihres Gegners auf dem nordamerikanischen Subkontinent durchgesetzt hätte? Wenn sie sich weltweit als letzte quasi-polizeiliche Instanz aufspielen würde? Usw. usw. Wahrlich, im Vergleich zur Konkurrenz zweier imperialistischer Weltmächte von amerikanischem Kaliber nimmt sich der ‚Ost-West-Gegensatz‘ von heute matt aus. Da gibt es ja glatt noch Regierungen, deren Sturz die USA offen betreiben und die gleichzeitig in den USA ihren wichtigsten Erdölkunden haben; kubanische Truppen stützen ein im Westen verteufeltes Regime, das sein Land nach Kräften in eine Tomatenplantage für den westeuropäischen Winter verwandelt; feindliche Staatshandelskaufleute betteln im Westen um günstige Handelsverträge, die Gewährung der Meistbegünstigungsklausel und die Stundung von Krediten. Solange derlei Kuriositäten zum Alltag des Imperialismus gehören, ist der große Krach immerhin noch eine Frage der Zeit - der Zeit, die die USA noch brauchen, um mit einer Sowjetunion, die sich das alles nicht mehr leisten kann und will, aus einer ‚Position der Stärke‘ zu verhandeln.
Die wohlfeilen ausgewogenen Analogieschlüsse auf einen ‚Imperialismus‘ der Sowjetunion taugen für einen Begriff der Weltpolitik dieser Nation und der Weltlage genausowenig wie der Glaube an die bedingungslose Eroberungswut des ‚roten Zarenreiches‘.
2. Wenn sowjetische Politiker die ökonomischen Interessen ihrer Staatsmacht nach außen vertreten, dann repräsentieren sie - im Unterschied zu ihren westlichen Kollegen- nicht die nationale Zusammenfassung ihrer Geschäftsanliegen. Der realsozialistische Staat verläßt sich nicht auf die wirtschaftliche Effizienz, die im Westen durch die Scheidung von Kapital und Arbeit zustandekommt und durch die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen des Staates konjunkturgemäß befördert wird. Sein ‚System‘ hat schließlich die Zwänge und Erfordernisse der Kapitalakkumulation außer Kraft gesetzt und duldet nicht das Geschäft von ‚Charaktermasken‘, die ihre Freiheit und ‚persönliche Initiative‘ auf die erfolgreiche Benützung der Lohnarbeit verwenden, welche sie zu Liebhabern des Marktes werden läßt.
Daß dennoch weder ein idyllisches Arbeiterparadies noch die programmatisch anvisierte Beschämung des kapitalistischen Wachstums mit seinen als ‚Systemschwächen‘ verurteilten Krisen und Härten zustandegekommen ist, liegt an der Art und Weise, wie ‚drüben‘ von Staats wegen die gesellschaftliche Produktion - und in ihrem Gefolge die Verteilung und Konsumtion - organisiert ist. Da ‚plant‘ der Staat, indem er den Betrieben einen Gewinn als Maß ihres Erfolgs vorschreibt, der im Unterschied zum gleichnamigen Kriterium betriebswirtschaftlicher Rentabilität im Westen jedoch dem Staat zur Verfügung steht. Als Posten eines staatlich verwalteten abstrakten Reichtums soll er den Fortschritten der Produktivität wie dem Wohlstand der Massen zugutekommen, was zum mit Marx- und Engelszungen beschworenen Widerspruch zwischen ‚Akkumulation und Konsumtion‘ auch im Sozialismus führt. Neben Betrieben, die in Befolgung der staatlichen Auflagen Überschüsse in unzweckmäßiger Form produzieren, gibt es andere, die einen offenkundigen Mißerfolg in Sachen Rentabilität vermelden - und der auf seine ‚Planung‘ stolze Staat schreibt den Mangel ebenso fort, wie er die ‚Leistungen‘ der in Recheneinheiten prächtig gedeihenden Betriebe honoriert. Mit seinem Prämienwesen führt er seinen Nutzen als Bedingung für alle Wohltaten in die Ökonomie seiner Gesellschaft ein und gebietet Sparsamkeit auch dort, wo sie der Entwicklung der geliebten Produktivkräfte unmittelbar zuwiderläuft. Während im verhaßten und überwundenen Kapitalismus Kosten jeden Ausmaßes fällig sind, wenn sie nur die richtige Relation zum Überschuß ergeben, kennt der reale Sozialismus gesamtgesellschaftliche Sparsamkeit als Zweck, ganz als wären in ihm die bürgerlichen Ideologien Wahrheit geworden. Der Arbeitslohn erfreut sich auch in dieser alternativen Volkswirtschaft einer Kalkulation als Kostengröße, und die Erhaltung der Arbeitskraft - die ironischerweise als die Produktivkraft gefeiert wird - findet unter der ‚Planung und Leitung‘ des idealen Arbeiter- und Bauernstaates zwar statt, nimmt aber recht kärgliche Züge an. Bisweilen scheitert ihre ordnungsgemäße Abwicklung nicht einmal an der Zahlungsfähigkeit des Entlohnten, sondern am Mangel an Käuflichem. Die sozialistischen Errungenschaften beschränken sich auf das Notwendige; Wohnung, Gesundheitswesen und Ausbildung sind wie der Arbeitsplatz selbst fester Bestandteil staatlicher Fürsorge, doch liefert der Staat den Beweis, daß die Fährnisse kapitalistischer Konkurrenz und Krisen beseitigt sind, durchaus auf Kosten der geliebten Arbeiterklasse. Wie den Kredit setzt der Staat nämlich auch die Preise als ‚Hebel‘ für die Akkumulation des ihm disponiblen Reichtums ein, eröffnet nicht nur unter seinen Betrieben, sondern auch zwischen den ‚Werktätigen‘ einen sozialistischen Wettbewerb, in dem Pflichterfüllung und Leistung die Tugend des sozialistischen Menschen ausmachen und der Lohn dieser Tugend eher in Anerkennung denn in Genüssen entgolten wird. Der herausragende Einsatz für den Sozialismus schlägt sich nicht einmal bei ‚Helden der Arbeit‘ in materiellem Vorteil nieder, zum Luxus der Bedürfnisbefriedigung, des schönen Lebens zugelassen zu werden - dergleichen ist im Osten die Ausnahme, die eher über spezielle Einsätze in Staatsangelegenheiten zustandekommt.
Freilich stört es schon seit geraumer Zeit die Parteivorstände der östlichen Arbeiterparteien, daß nicht nur die kompensatorischen Ideale eines gesicherten und guten Lebens der arbeitenden Klasse auf der Strecke bleiben, sondern auch die staatlich organisierte Armut nicht die Früchte zeitigt, die ihr ‚System‘ im ständig besprochenen Vergleich mit dem Westen gut aussehen lassen. In regelmäßigem Turnus inszenieren sie ökonomische Reformen, in denen sie mit einem erheblichen Aufwand an Moral und Gewalt die Fehler ihrer Untertanen — der leitenden wie der betroffenen - zu korrigieren suchen. Auf der einen Seite bemängeln sie die Bilanzierungsschwindel prämienbeflissener Betriebsführungen, die sich Techniken ersinnen, aus den staatlichen Normen- und Kennziffern Vorschriften durch den Schein von Leistung ihr Geschäft zu machen. Andererseits ist den Sachwaltern der ‚volkswirtschaftlichen Effizienz‘ im Sozialismus die Anstachelung des Leistungswillens gerade der geliebten Arbeiterklasse ein staatliches Herzensanliegen, wobei es ihnen keineswegs peinlich ist, in jeder Kampagne einzugestehen, daß sie sich im Gegensatz zu ihren ‚sozialistischen Bürgern‘ befinden und genausowenig wie ihre westlichen Kollegen ohne moralische Verpflichtung aufs Allgemeinwohl, ohne ökonomische Erpressung und Androhung von ordnungsstiftender Gewalt auskommen. In Stilblüten der folgenden Art:
Das Planungssystem muß sichern, daß die als Gesamtwille der sozialistischen Gesellschaft beschlossenen Planaufgaben zur optimalen Entwicklung der Volkswirtschaft jedes Teilsystem bis zum Betrieb zu sachkundigem, ideenreichem, eigenverantwortlichem Handeln zwingen, das den volkswirtschaftlichen Aufgaben und Interessen entspricht und gleichzeitig mit ihren kollektiven und persönlichen und moralischen Interessen übereinstimmt . . . unter schöpferischer, demokratischer Mitwirkung der werktätigen und der Führungsorgane aller Ebenen . . . die Vorschläge des gesamten Volkes ... in bewußter Unterordnung unter die Gesamtinteressen . . .
faßt sich die politische Anstrengung der Regierenden im realen Sozialismus zusammen, die letzten ‚Hebel‘ der sozialistischen Akkumulation zur Anwendung zu bringen; und so sehr man sich hierzulande in albernen Witzen über die geringen Erträge der Ausbeutung hinter dem ‚eisernen Vorhang‘ mokiert, so lässig man über den ‚sozialistischen Wettbewerb‘ als einen matten und ineffektiven Versuch herzieht, das kapitalistische Geschäftsleben mitsamt den ihm eigentümlichen Brutalitäten zu kopieren, so wenig will man bemerken, daß eine solche Ökonomie des Imperialismus gar nicht fähig ist. Da kommt es nämlich zu keinen Überschüssen, die als Ware oder Kredit im Ausland profitable Verwendung zu erzielen imstande sind. Ein grenzüberschreitender Materialismus dieser Art ist den Nationalökonomien des an die Macht gelangten Revisionismus - so der Taufname dieser sozialstaatlich-volkswirtschaftlichen Uminterpretation des Kommunismus - fremd: Weder liegt er in den staatlich festgesetzten ökonomischen Zwecken dieses ‚Systems‘, noch verfügen die Staatsbetriebe im realen Sozialismus über dermaßen expandierende Überschüsse, daß ihnen die ganze Welt als Betätigungssphäre gerade recht ist. Umgekehrt hat die Sowjetunion im Interesse des geplanten ‚sozialistischen Aufbaus‘, also zugunsten einer exklusiven Nutzung der nationalen ökonomischen Potenzen durch die zur Volksbeglückung entschlossene Staatsgewalt, ihre Wirtschaft ausländischer Benutzung radikal entzogen; auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat sie dem amerikanischen Versuch widerstanden, in den von ihr beherrschten Staaten Osteuropas und möglichst auch bei ihr eine ‚normal‘ funktionierende Geld-, also eine Kapitalzirkulation in Gang zu setzen - wenn auch mit der verharmlosenden Denunziation der amerikanischen Währungs- und Wiederaufbaukredite als wenig handfester ‚Trugbilder‘ von Reichtum. Auch in dieser Richtung hat die Staatsgewalt ein Monopol auf außenwirtschaftliche Beziehungen und geht diese nur ein, soweit sie auf diesem Wege einen Bedarf zu decken gedenkt, der nicht aus einer freien Wahl des besseren Geschäfts entspringt, sondern der Kompensation eingestandener Mängel dient. Dieser Charakter des auswärtigen Handels macht sich in Art, Umfang und Zahlungsmodus der Geschäfte recht deutlich bemerkbar. Die Sowjetunion hat die Schaffung und Benutzung ökonomischer Abhängigkeiten durch geschäftstüchtige Kapitale anfangs unterbunden, hält Sie noch heute in Schranken und setzt sich deswegen seit jeher dem erbosten Vorwurf aus, sie würde entgegen allen friedfertigen Gepflogenheiten des weltweiten Handels und Wandels das internationale Geschäftsleben durch ihr Autarkiestreben - politisieren.
Als erstes ist also der negative Befund festzuhalten: Was die materielle Grundlage der Staatsgewalt angeht, so ist die Sowjetunion samt ihrem Staatenblock weder Subjekt eines konkurrierenden noch Geschöpf des herrschenden Imperialismus.
Ein weltpolitischer Idealismus, womöglich ein solcher der ‚Weltrevolution‘, bestimmt die Außenpolitik der Sowjetunion allerdings genausowenig - allen christdemokratischen Gerüchten zum Trotz, die die eigene Kreuzzugsgesinnung nicht für die Ideologie, sondern den Grund westlicher Sowjetfeindlichkeit halten wollen und dem Gegner gerne den gleichen Fanatismus mit umgekehrten Vorzeichen ankreiden möchten. Jede kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion und erst recht außerhalb des ‚Ostblocks‘ hat so ihre Erfahrungen mit der kaltschnäuzigen Manier ihrer herrschenden Genossen, die Solidarität mit der proletarischen Opposition andernorts dem Wunsch nach guten oder wenigstens mit Anstand geregelten Beziehungen zu den politischen Herren der jeweiligen Länder unterzuordnen; nicht wenige haben daraus ja sogar schon den Schluß gezogen, sich ihrerseits, und nun durchaus auch gegen die regierungsamtlichen Anliegen der Sowjetunion, auf den Standpunkt der Sorgen ihrer nationalen Herrschaft zu stellen und den Patriotismus zum höchsten proletarischen Anliegen zu erklären - unter dem Präfix ‚Euro-‘ ist aus diesem Abgang des Revisionismus in den Nationalismus inzwischen schon die herrschende Linie geworden. Statt durch die im Westen ideologisch herbeigefürchtete revolutionäre Subversion - nicht einmal der normale staatliche Geheimdienst kann der CIA das Wasser reichen, was das Schüren von Aufruhr und das Inszenieren von Umstürzen betrifft! - ist das sowjetische Auftreten nach außen durch den Konservatismus einer revisionistischen Staatsgewalt bestimmt, die sich die revolutionäre Parole von der Abschaffung staatlicher Herrschaft durch die ‚Diktatur des Proletariats‘ längst zu dem Eigenlob zurechtgelegt hat, als ‚Staat des ganzen Volkes‘ die gar nicht mehr vorläufige Endstation im ‚Entwicklungsgang‘ der ‚sozialistischen Übergangsgesellschaft‘ zu sein.
3. Von einer nationalen Zwecksetzung, die der Staatenwelt einen entsprechenden zweckbestimmten Zusammenhang aufnötigen, ein weltweites Herrschaftssystem als notwendiges Mittel dafür hervorbringen würde, kann bei der Sowjetunion nicht die Rede sein. Ihre Politik gegenüber dem Rest der Welt ist von dem Anliegen bestimmt, die Realisierung des ökonomischen und politischen Programms im eigenen Herrschaftsbereich durch keinerlei auswärtige Verpflichtungen zu gefährden - und auch nicht durch ausländische Interessen gefährden zu lassen. Der Grund für sie, überhaupt Außenpolitik zu betreiben, liegt nicht in den Zwecken des ‚realen Sozialismus‘, sondern in dem Herrschaftszusammenhang der Staatenwelt, innerhalb derer er Gestalt annehmen soll. Weil die ‚völkerverbindenden‘ Machenschaften des florierenden westlichen Geschäftslebens ‚künstliche‘ Schranken nicht dulden, die dazugehörigen politischen Instanzen einer auswärtigen Herrschaft Souveränität nur bedingt, nämlich nach Maßgabe ihrer Zweckdienlichkeit für ‚die Weltwirtschaft‘ und deren Macher zuerkennen, ist dem Revisionismus an der Macht seine Selbstzufriedenheit verwehrt und die Notwendigkeit auferlegt, sich um die auswärtige Staatenwelt als das zu kümmern, was sie in bezug auf ihn ist: ein einziger Angriff auf seine praktische Weigerung, Land und Leute für den weltweiten Geschäftsverkehr des Kapitals bereitzustellen. Eben weil sie die Anerkennung ihrer Autonomie nicht mit ihrer Nützlichkeit für den Imperialismus erkauft, sondern im Gegenteil mit der Aufkündigung jeder Bereitschaft, sich benutzen zu lassen, aufs Spiel gesetzt hat, war die Sowjetunion von Beginn ihrer Existenz an gezwungen, die internationale Respektierung ihrer Existenz zu erzwingen: gegen die aus Westeuropa unterstützte ‚weiße‘ Konterrevolution, gegen Hitlers Überfall, gegen die Kriegsdrohung, die die USA ihr mit dem Aufbau ihres weltweiten Systems von Militärbündnissen zugestellt hat. So dient der Auf- und Ausbau eines unter allen Umständen und gegen jede Bedrohung respekterheischenden militärischen Gewaltapparats der Sowjetunion nicht der weltweiten ‚Defensive‘ wie den imperialistischen Mächten: der Absicherung ökonomischer Vorteile aus fremden Nationen; die Rote Armee ist selber die materielle Grundlage dafür, überhaupt als souveränes Subjekt auftreten und außenpolitische Aktivitäten aufnehmen zu können. Auch diese sind ihrem Grunde und ihrer Substanz nach nichts anderes als Kriegsdiplomatie : sie gehorchen dem überaus abstrakten, bloß negativen Zweck der nationalen Selbstbehauptung. Und so sehr der ‚freie Westen‘ diesen Standpunkt ideologisch für sich reklamiert, wo immer er seine Interessen in Gefahr sieht, für so gefährlich, anmaßend, ja - ausgerechnet! - egoistisch befindet er ihn, sobald die Sowjetunion ihn eben nicht bloß zur ideologischen Rechtfertigung respektabler imperialistischer Zwecke, sondern praktisch einnimmt.
4. Es ist geradezu von ironischer Folgerichtigkeit, daß ausgerechnet die vom Faschismus angezettelte weltweite Konkurrenz der Waffen der Sowjetunion den ersten und einzigen bedeutenden Erfolg ihrer Politik der Selbstbehauptung und -Sicherung ermöglicht hat. Der globale Eroberungsfeldzug des einzigen alternativen Imperialismus des Jahrhunderts, eben der faschistischen ‚Bodenpolitik‘, die eine deutsche Weltmacht durch eine Eroberung wirtschaftlicher Mittel erst und wieder herzustellen suchte, weil dem Reich durch die Siegermächte des ersten großen Waffenganges der imperialistische Erfolg verwehrt wurde, führte die Gegner in ein Militärbündnis, verschaffte so der Sowjetunion ihre zeitweilige Anerkennung als Mitkämpfer und mit dem Sieg die einmalige und rasch widerrufene Gelegenheit, als Befreiungs- und ‚legitime‘ Besatzungsmacht sich ein Vorfeld botmäßiger ‚Satelliten‘ zu schaffen. Mit Revolution hatte die Einrichtung des ‚Ostblocks‘ genausowenig zu tun wie mit Imperialismus; das rein negative Interesse der Sowjetunion, sich Sicherheiten gegen eine erneute Infragestellung ihrer Existenz zu schaffen, ist an den ‚Schwächen‘ des östlichen Bündnisses nur zu deutlich abzulesen. Dem Materialismus der ihr verbündeten Staatsgewalten - und auf den kommt es im ‚realen Sozialismus‘ zwar in anderer Weise, aber genauso sehr an wie in den kapitalistischen Demokratien und den Geschöpfen ihres Imperialismus - hat die Sowjetunion eben deswegen so arg wenig zu bieten, weil ihre eigene Ökonomie weder darauf aus noch dazu geschaffen ist, deren Herrschaftssphäre geschäftlich auszunutzen; die Tauschgeschäfte im RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) vermitteln nicht die Akkumulation von Kapital, weder auf beiden noch auch nur auf einer Seite, sondern lassen die Abpressung knapper Güter mit verlorenen Zuschüssen abwechseln; Preise sind bei den im Ostblock getätigten Geschäften nie das selbstverständliche Mittel des Gewinns, sondern erfüllen stets die Funktion der Entschädigung - sie messen die Not statt den Überschuß. Da kompensieren verbündete Staaten die Mängel ihrer nationalen Wirtschaft, und nicht selten besteht diese Kompensation darin, daß um der Kontinuität der Produktion willen notwendige Güter außer Landes geschafft werden. Schon gar nicht ermächtigt das Bündnis mit der Sowjetunion deren Partner zu jenen weltweiten Machenschaften, in denen der Imperialismus der ‚Satelliten‘ der USA seine Geschäftsgrundlage, deren demokratischer Nationalismus seine Befriedigung findet. Zählen kann die Sowjetunion einzig auf den Umstand, daß der Selbstbehauptungswille der ihr verbundenen revisionistischen Parteien im Innern wie nach außen materiell auf die ‚Hilfe‘ sowjetischer Machtmittel angewiesen ist - verglichen mit dem Materialismus imperialistischer Abhängigkeit ein wenig überzeugendes ‚Argument‘, dessen praktische Geltung, siehe Polen, rasch in Verfall gerät, wenn eine Regierung sich einmal auf Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen als die leistungsfähigere ökonomische Basis ihrer Herrschaft eingelassen hat und dann vom westlichen Ausland die politische und ökonomische Rechnung präsentiert bekommt.
Immerhin ist es der Sowjetunion mit der Bildung ihres sozialistischen Lagers, vor allem aber mit dem zwar stets verspäteten, aber noch wirksamen Nachziehen in der atomaren Bewaffnung gelungen, sich gegen den ‚Kalten Krieg‘ des Westens mit seinen keineswegs bloß theoretischen Kalkulationen auf einen ökonomischen Zusammenbruch, auf Volksaufstände und auf einen glatten Blitzsieg zu behaupten. Und aus diesem Erfolg hat die sowjetische Politik den fatalen Fehlschluß gezogen, auch ihr müsse es doch möglich sein, sich fortan zu ihrem Vorteil der innerhalb des imperialistischen Machtbereichs geltenden Methoden nationaler Selbstbehauptung zu bedienen. Der sowjetische Entschluß, von der ‚Theorie der Unvermeidbarkeit des Krieges‘ ab- und zu einer ‚Politik der friedlichen Koexistenz‘ überzugehen - eine Entscheidung, die immerhin das Zerwürfnis mit dem größten und einzigen eigenständigen Verbündeten, der Volksrepublik China, mit ausgelöst hat! -, läßt sich nur mit viel böswilliger Parteilichkeit als großangelegte taktische Finte und arglistiges Täuschungsmanöver interpretieren. Was dieser bösartigen Deutung immer wieder als Beleg dient, ist ausgerechnet der Umstand, daß ein imperialistischer Zweck in dieser Wendung der sowjetischen Außenpolitik gerade nicht auszumachen ist - Grund genug für einen am Imperialismus geschulten Verstand, eine ganz besonders perfide Berechnung zu unterstellen. Tatsächlich verfolgt die Sowjetunion damit genau den inhaltslosen, defensiven Zweck, den die bürgerliche Politologie zum Inhalt jeglicher Weltpolitik erklärt: Sicherheitspolitik in der ganzen negativen Bedeutung des Wortes - die nichts zu tun hat mit dem moralischen Freispruch, den der bürgerliche Sachverstand unter diesem Titel jeder von ihm geschätzten Staatsgewalt zugesteht, der Sowjetunion aber konsequent vorenthält. Im Gegensatz zu den imperialistischen Staaten, denen nichts geläufiger ist als die Notwendigkeit, die Realisierung ihrer weltweiten Interessen mit genauso weltweit schlagkräftiger Waffengewalt zu sichern, weil sie jede Ausnahme als mögliche Gefahr und jede mögliche Gefahr als sichere Gegnerschaft kalkulieren, ist die Relativität von Frieden und Anerkennung der revisionistischen Staatsgewalt ein Ärgernis, das im Namen der Ideale dieses Zustandes: zugunsten der Idee vom Frieden als ‚höchstem Gut‘, zu überwinden ist. Die materielle Berechnung, die auf sowjetischer Seite hinter ihren ‚Koexistenz‘-Angeboten und Aufforderungen zu einem gesicherten Frieden steht: der Wunsch, die Rüstungslasten loszuwerden, die die spärlichen Erfolge der ‚bewußten Anwendung des Wertgesetzes‘ stets zunichte machten - dieses Stück materieller Berechnung ist dementsprechend, recht ärmlich, verglichen mit der Wucht des Reichtums, die der Westen hinter den von ihm inszenierten Weltfrieden unter immerwährendem Kriegsvorbehalt zu setzen vermag.
Sowjetische Außenpolitik besteht seither in dem von einem in jeder Hinsicht defensiven Egoismus diktierten Bemühen, mit der Feindschaft des imperialistischen Staatensystems erstens effektiver und zweitens billiger zu Rande zu kommen. Gegen den Inhalt aller zwischenstaatlichen Beziehungen ökonomischer, politischer und militärischer Benutzung und Erpressung ergreift sie mit aller Entschiedenheit die Partei der geregelten, politische Anerkennung als Mittel einschließenden friedlichen Form dieser Beziehungen und bemüht sich beständig um methodische Bekenntnisse zur zweifelsfreien Vorteilhaftigkeit der ‚vielfältigen Formen friedlicher internationaler Zusammenarbeit‘, wo diplomatische Anerkennung und die damit operierenden Weisen des zwischenstaatlichen Verkehrs für dessen maßgebliche Subjekte in Wirklichkeit doch bloß als Mittel für ganz anders geartete Vorteile respektabel sind. Ohne vom Realismus ihrer militärischen Macht Abstriche zu machen, praktiziert sie in ihrer Diplomatie mit allem Eifer einen Idealismus der Weltordnung, um der ganz materialistischen Feindseligkeit des Westens beizukommen - wobei ‚Idealismus‘ hier nicht die Güte und Harmlosigkeit der sowjetischen Staatsgewalt meint, eine moralische Höherwertigkeit, den Verzicht auf unsaubere Mittel und dergleichen, sondern das spezielle Mißverhältnis zwischen dem Zweck und den Mitteln dieser Politik: ihren ‚Fehler‘, sich mit den Verfahrensweisen der ‚pax americana‘ gegen deren Inhalt, eine imperialistisch geordnete Staatenwelt, behaupten zu wollen.
Entsprechend widersprüchlich legt der regierende Revisionismus sich die Weltlage theoretisch zurecht: Den eigenen Erfahrungen, speziell mit dem Imperialismus des Dritten Reiches, entnimmt er einerseits die Überzeugung von der Aggressivität bürgerlicher Herrschaft, identifiziert diese allerdings mit den spezifischen Verfahrensweisen jenes alternativen, eben faschistischen Imperialismus, der seine weltherrschaftlichen Zwecke auf dem Wege der Eroberung, also der Vernichtung, nicht der bedingten Zulassung und Benutzung souveräner Staatsgewalten verfolgt hat; deswegen erklärt er sich den demokratischen Imperialismus andererseits als ein bloß andersartiges ‚sozialökonomisches und politisches- Ordnungssystem‘, mit dem sich doch friedlich ‚koexistieren‘ und sogar ideell konkurrieren lassen müßte.
5. Der illusionäre Charakter dieses Anti-Imperialismus rächt sich bitter. Daß der Wunsch nach friedlicher Koexistenz zweier Welten das sehr einseitige Anliegen derjenigen Seite ist, der die andere sehr frei ihre Feindschaft erklärt hat, nämlich Sache des nationalen Egoismus der Sowjetunion, das läßt der westliche ‚Gesprächspartner‘ den östlichen Antragsteller aufs Härteste spüren. Er behandelt das als überparteiliches Anliegen vorgebrachte Ansuchen um ein anerkanntes Existenzrecht praktisch als das, was es von seinem Standpunkt aus ist: als parteiliche Angelegenheit, als Interesse bloß der Sowjetunion; er behandelt es als Gegenposition zur eigenen Entschlossenheit, die ‚Spaltung‘ Berlins, Deutschlands, Europas und überhaupt der Weltweit gelten zu lassen. So ergibt sich in der Welt der Diplomatie das schöne Bild, daß die imperialistischen Staaten beständig die Verhandlungswürdigkeit der Sowjetunion in Zweifel ziehen und sich bereits mit ihrer bloßen Verhandlungsbereitschaft teuer machen- und die Sowjetunion geht genau darauf ein, indem sie beständig für die Methoden zwischenstaatlicher Verständigung eintritt, um das Stattfinden von Verhandlungen wirbt und ‚kämpft‘ und ‚Gipfeltreffen‘ als Erfolg verbucht, egal was dort nicht oder gegen ihre Bewegungsfreiheit an bestimmten Punkten vereinbart worden ist. Und gerade diese diplomatische Unterlegenheit der Sowjetunion gibt jedem Christdemokraten, Sozialliberalen und amerikanischen Senator nach Belieben Gelegenheit, schon jeden Verhandlungswillen der eigenen Seite je nachdem1 als teuer zu bezahlendes Zugeständnis zu preisen oder als unverantwortliches Schwächezeichen anzugreifen - immer unter Berufung auf sowjetische Stimmen!
Noch härter schlägt dieselbe Logik in der Sphäre der materiellen, militärischen Konfrontation der beiden ‚Lager‘ zu. Die Entschlossenheit des Westens, eine ‚abgespaltene‘ zweite Welt nicht hinzunehmen, wird schließlich in die Tat umgesetzt mit einem Ausbau militärischer Zwangsmittel, der darauf berechnet ist, das materielle Fundament für den Willen des revisionistischen Staates, eine Ausnahme von der ‚Herrschaft der Millionäre über die Millionen‘ darzustellen: seine Militärmacht, zu zerstören; daß dies das Bemühen um einen Vorsprung an ‚Optionen‘ bedeutet, also um die nötigen Mittel, um dem Feind das vorteilhafteste ‚Kriegsszenario‘ aufzwingen zu können, wurde bereits ausgeführt. Auf Erfolg kann ein solches Programm des ‚Totrüstens‘ - was zunächst einmal keine ökonomische Angelegenheit ist: die Spekulation auf für den Gegner unerträgliche ökonomische Lasten setzt ja die ‚Tödlichkeit‘ eines überlegenen Waffenarsenals für die Souveränität des Feindes voraus! - allerdings nur dann zählen, wenn der Gegner die militärische Lage nach denselben Kriterien beurteilt, also, aus welchen Gründen auch immer, sich nicht auf den garantierten Schaden verläßt, den er seinerseits dem Angreifer bereiten kann, sondern das Mitziehen in jeder Unterabteilung moderner Ausgestaltung von immer neuen ‚Szenarios‘ für unerläßlich hält. Und genau darauf läßt die Sowjetunion sich ein: nicht weil sie den Westen besiegen wollte - von sich aus kennt die revisionistische Herrschaft im Osten, wie gesagt, keinen derartigen Zweck! -, sondern in der Hoffnung, durch die Zurückweisung jeder westlichen Drohung mit gleichartigem Gerät, durch das unerbittliche Mithalten in der Rüstung, den Westen doch schließlich zur Aufgabe seiner Feindschaft zwingen zu können. Nichts belegt deutlicher diesen negativen Zweck des Wettrüstens vom sowjetischen Standpunkt als die Angeberei, mit der die führenden Männer ihre einschlägigen Erfolge der Welt bekanntgeben: Wo die imperialistischen Demokratien, ganz wie es sich für Demokratien mit imperialistischen Zwecken gehört, die Schlagkraft ihrer Waffen beständig bemängeln, eben weil sie den gewünschten Erfolg nicht unmittelbar hergeben, also unter dem extremen Maßstab des garantierten Sieges härteste Selbstkritik üben, da preisen russische Militärs und Politiker ihre notorisch ‚ruhmreiche‘ Wehrmacht, setzen selber noch Übertreibungen der Schlagkraft und Zielgenauigkeit ihres Waffenarsenals in die Welt und beeilen sich, wann immer der Westen einen größeren Fortschritt in seiner Waffentechnologie meldet, ihrerseits zu versichern: ‚Das können wir auch !‘ Wieder wird von den Ideologen des Westens der Sowjetunion genau die Prahlerei mit der angeblichen, der möglichen - und schließlich auch der wirklichen militärischen Potenz ihrer Roten Armee aufs Sündenkonto geschrieben und als Zeichen für aggressive Absichten gewertet, die in ihrem stolzen ‚wir auch!‘ doch gerade einen ganz andersgearteten Zweck erkennen läßt: eben den Wunsch, doch eines Tages den westlichen Gegner von der Aussichtslosigkeit seines Strebens nach militärischer Überlegenheit überzeugen, ihm die unwiderrufliche Anerkennung des Existenzrechts der Sowjetunion und entsprechend friedliche Umgangsformen abtrotzen zu können: das ist der Zweck militärischer Gleichgewichtspolitik von sowjetischem Standpunkte
Die Folgelasten dieser Politik sehen so aus, daß der geplante stürmische Aufbau des Kommunismus schon deshalb nie stattfindet, weil die Finanzierung des Militärapparats für die revisionistische Wirtschaft reinen Abzug vom Mehrprodukt bedeutet. Weder akkumuliert in der Rüstungsproduktion ein Kapital, das sich, auch wenn der Staat seine Gewinne realisiert und damit seinen Kredit strapaziert, über den Export doch auch national und für die Stärkung des staatlichen Kreditzeichens nützlich macht, noch wirkt der Rüstungssektor als Hebel des ‚technischen Fortschritts‘ auch für andere Zweige. Umgekehrt behindert der laufende Abzug von Investitionsmitteln, Arbeitskräften und Produktionsmaterialien für eine Rüstungswirtschaft, die die Leistungsfähigkeit einer tatsächlich nach dem Bedürfnis geplanten Ökonomie beweist, das Wachstum aller zivilen Sektoren in der Sowjetunion wie in ihren Bündnisstaaten. Revisionistische Politiker erkennen darin aber mitnichten die notwendige Untauglichkeit ihrer Rüstungsanstrengungen für ihren damit verfolgten Zweck, die USA zur Aufgabe ihrer Feindschaft zu bewegen; noch werden sie durch die Entschlossenheit der USA, der Sowjetunion kein wirkliches militärisches ‚Gleichziehen‘ zu gestatten, an diesem Zweck irre. Im Gegenteil: Nur um so engagierter kommen sie diplomatisch darauf zurück und prostituieren sich - nach imperialistischen Maßstäben - mit einer Abrüstungsofferte und Verständigungsbettelei nach der anderen, die den Westen allemal nur in der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges bestärken. Zumal für diesen das Ärgernis der Existenz eines ‚sozialistischen Lagers‘ durch dessen Aufrüstung ja nicht zum unwiderruflichen und deswegen hinzunehmenden Faktum geworden ist, sondern um so mehr und erst recht zur unerträglichen Provokation, was in der Sprachregelung des Bündnisses ‚Gefahr‘ heißt. So zielen die diplomatischen Anstrengungen der sowjetischen Westpolitik inzwischen nurmehr auf das sehr fadenscheinige und bedingungsweise Moment von Sicherheit, das im bloßen Stattfinden von Verhandlungen liegt, auch wo einseitige sowjetische Abrüstung als einzig in Frage kommendes Verhandlungsziel längst festliegt.
So erweist die Politik der ‚friedlichen Koexistenz‘ sich für die Sowjetunion in jeder Hinsicht, politisch wie militärisch, als ein Teufelskreis, zu dem die Regenten des ‚Blocks‘ aber keine Alternative in Betracht ziehen wollen; um so mehr wird sie ihnen als perfide weltpolitische Machenschaft ausgelegt. Sich selbst sieht umgekehrt der imperialistische Westen genau dort am hoffnungslosesten in der Defensive, wo seine politischen Macher die Widersprüchlichkeit des sowjetischen Koexistenzbegehrens sehr souverän für das Diktat von vorab zu erfüllenden Vorbedingungen benutzen. In einer Welt unter der Herrschaft des Imperialismus ist weltgeschichtliche Gerechtigkeit eben auch eine sehr einseitige Sache.
6. Derselbe Widerspruch einer Konkurrenz gegen den Imperialismus in der Absicht, sich mit ihm als anerkannt ebenbürtige Macht zu arrangieren, kennzeichnet die sowjetische Außenpolitik gegenüber dritten Ländern. Sicher ist es das Endziel der Sowjetunion, mit einem stets wachsenden ‚sozialistischen Lager‘ die Vorherrschaft der USA zu brechen und dafür möglichst viele Länder ihrem Machtbereich einzugliedern. Sie läßt dabei aber einen dem Imperialismus durchaus fremden ‚Realismus‘ der Unterlegenheit walten; wirklich über die Waffenstillstandslinien des Zweiten Weltkriegs hinausgewachsen ist ihr ‚Block‘ allenfalls um die ‚Problemfälle‘ Kuba, Vietnam und Afghanistan; dafür ist innerhalb des ‚Blocks‘ mancher ‚Satellit‘ auf eine Distanz gegangen, die innerhalb des westlichen Bündnisses kaum toleriert würde - ganz zu schweigen vom ‚Verlust‘ des Bündnispartners China. Gemessen an der amerikanischen Weltherrschaft gilt den sowjetischen Politikern schon jede Regierung als Gewinn, die nicht eindeutig und endgültig auf Botmäßigkeit gegenüber den USA festgelegt ist; ganz unabhängig davon, wie sie sich ansonsten und vor allem ihrem eigenen Volk gegenüber aufrührt. So hat das wahre ‚Vaterland aller Werktätigen‘ zahlreiche - wenn auch selten sehr dauerhafte - Völkerfreundschaften mit Militärdiktaturen, Monarchen und sonstigen blutrünstigen Geschöpfen des Imperialismus geschlossen und unterhält gute Beziehungen zu Staaten, die zu Hause die Kommunisten, einschließlich ihrer moskautreuen Fraktionen, abschlachten lassen. Vor allem aber ist sie in der Phase der Liquidierung der alten Kolonialreiche als entschiedenster Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit aufgetreten, wiederum ganz unbekümmert darum, wo die unabhängigen nationalen Souveräne die materielle Basis ihrer Macht haben und welcher Inhalt ihrer freien Selbstbestimmung damit von allem Anfang an vorgegeben ist; mit der paradoxen, aber eben sehr folgerichtigen Konsequenz, daß der ‚freie Westen‘ sich beständig über die Widerspenstigkeit von Regierungen beklagt, die tatsächlich nichts anderes als den als Außenhandel und Schuldendienst deklarierten Abtransport der Naturschätze ihres Herrschaftsgebietes verwalten, während die Sowjetunion den ‚sozialistischen Fortschritt‘ auf der Welt preist, sobald ein autonomer Machthaber seine Staatsideologie vorträgt, nach der eine autochthone Herrschaft per se eine gute Herrschaft ist. Wieder einmal können dann westliche Scharfmacher östliche Stimmen als Beleg für ihre Schreckensgemälde vom unaufhaltsamen Fortschritt der Sowjetmacht auf dem Globus zitieren.
Dabei ist der Sowjetunion bei ihren Freunden noch nicht einmal ein nationaler Antiamerikanismus unbedingt und in jeder Form recht. Auch da achtet sie immer auf die andere Seite ihrer weltpolitischen Kalkulation: sich den USA als eine Macht zu beweisen, um die sie bei der Ausgestaltung ihres Zugriffs auf die Staatenwelt nicht herumkommen. Das hat der ‚Weltfriedensmacht‘ einige Kollisionen mit dem so benützten Nationalismus ihrer souveränen Partner eingebracht; umgekehrt haben einige Völker und Befreiungsbewegungen dafür bitter bezahlen müssen. So hat die Sowjetunion den Nordvietnamesen in ihrem Krieg gegen die USA und deren südvietnamesische Gorillas Waffen- und sonstige Hilfe geleistet, ohne die sie ihren Kampf um nationale Emanzipation sehr bald hätten aufgeben können, und sich so einen verläßlichen Verbündeten geschaffen. Auf eine rasche Beendigung des Krieges war ihre Unterstützung aber auch nicht berechnet; und das Risiko, die amerikanische Schlächterei durch ein massives Ultimatum zu unterbinden, ist die Sowjetunion schon gar nicht eingegangen. Übergeordneter Gesichtspunkt ihrer Hilfe war eben die praktische Klarstellung an die Adresse der USA, daß diese bei der imperialistischen Neusortierung der Staatenwelt im Zuge der Entkolonialisierung um eine gewisse Rücksichtnahme auf das ‚sozialistische Lager‘ nicht herumkommen. So erfuhren die sowjetischen Diplomaten dank des vietnamesischen Nationalismus die Genugtuung, sich von ihrem amerikanischen Gegner als Partner für die Einleitung einer ‚Entspannungsära‘ anerkannt zu sehen und von der Macht quasi ins Vertrauen gezogen zu werden, die gleichzeitig Nordvietnam ‚in die Steinzeit zurückbombte‘. Der so errungene Respekt des Westens ist rasch verflogen; an der Methode der sowjetischen Weltpolitik, sich ihn zu verschaffen, laborieren die Vietnamesen bis heute. In anderen Fällen hat umgekehrt der Nationalismus befreundeter Staaten die Vorteilsrechnungen durchkreuzt, die die Sowjetunion mit ihm und seiner bedingten Unterstützung angestellt hatte. Der Grund des politischen Zerwürfnisses mit der VR China liegt keineswegs in def chinesischen Einsicht, daß die Politik der ‚friedlichen Koexistenz‘ mit Kommunismus und Weltrevolution nichts zu tun hat, sondern in den auf die ‚Koexistenz‘-Politik berechneten Schranken der sowjetischen Unterstützung des chinesischen Nationalismus, gegen die die Parteiführung in ihrer Abrechnung mit dem, was sie unter ‚Revisionismus‘ verstand, mit ihrer Theorie der beiden bösen Supermächte als der ersten von drei Welten auf dem Globus polemisierte:
Wir wollen die Führer der KPdSU fragen: Haben die mehr als 100 Staaten in der Welt mit insgesamt über drei Milliarden Menschen etwa gar kein Recht, ihr Schicksal selbst zu bestimmen? Müssen sie sich alle untertänigst den Anordnungen der beiden ‚Riesen‘, der beiden ‚großen Mächte‘, Sowjetunion und den USA unterwerfen? Ist dieser anmaßende Unsinn von euch nicht Ausdruck des reinsten Großmachtchauvinismus, der reinen Machtpolitik?. . . Das einzige Land, das die Führer der KPdSU respektieren, sind die USA. Um der sowjetisch-amerikanischen Zusammenarbeit willen scheuen die Führer der KPdSU nicht vor Verrat an den wahren Verbündeten des Sowjetvolks zurück . . . (‚Polemik über die Generallinie‘)
Der ärgste ‚Verrat‘ war bezeichnenderweise die sowjetische Weigerung, China an der atomaren Aufrüstung teilhaben zu lassen; und ausgerechnet das hat mit ‚Großmachtchauvinismus‘ - ein inhaltsleeres Ziel, das es so überhaupt nicht gibt, auch nicht bei der Sowjetunion - gar nichts weiter zu tun. Es ist ‚verantwortungsvolle‘ Weltpolitik vom sowjetischen Standpunkt, die dieser Weigerung zugrunde liegt. Der Beweis des guten Willens und der Verständigungsbereitschaft, erbracht dadurch, daß man den eigenen Hauptverbündeten nicht bedenkenlos aufrüstete, sollte die USA zu der Gegenleistung bewegen, ihrerseits Rücksicht zu nehmen und insbesondere auf die atomare Bewaffnung der BRD zu verzichten. Der chinesische Wille zu voller, militärisch fundierter nationaler Unabhängigkeit an der Seite der Sowjetunion wurde zugunsten des beabsichtigten Deals mit den USA enttäuscht. Das bekannte Resultat ist von bitterer Ironie für die Sowjetunion: Die USA haben sich dadurch überhaupt nicht beeindrucken, schon gar nicht von ihrer Aufrüstungspolitik abbringen lassen; womöglich war ausgerechnet das noch ein weiteres Argument für den Entschluß der chinesischen Führung, für den Ausbau der materiellen Grundlage ihrer Staatsmacht fortan auf die ‚Hilfe‘ der in Bündnis- und Rüstungsfragen hemmungslosen Weltmacht Nr. 1 zu setzen. Ganz ähnlich und nach derselben Logik vollzog sich der Übergang Ägyptens aus dem sowjetischen ins amerikanische Lager: Für ihr Anliegen, Ägypten durch einen Sieg über Israel zur maßgeblichen Macht des arabischen Raums zu machen, fanden dessen Führer Unterstützung nur bei der Sowjetunion - dort aber eben nicht genug, um wirklich ans Ziel zu gelangen. Die Sowjets hatten ihre Rüstungslieferungen absichtsvoll zu gering bemessen, um einen ägyptischen Sieg zu ermöglichen, und daher auch alles versucht, um ihren Partner 1973 von seinem kriegerischen Unternehmen zurückzuhalten; alles mit dem Ziel, sich die Anerkennung als mitentscheidender Kontrahent der USA zu erringen. Statt dessen lernten Ägyptens regierende Nationalisten die imperialistische Lektion, daß es sich für die eigenen großarabischen Ambitionen nicht lohnt, Freund der Sowjetunion zu sein- dafür aber um so mehr, den USA zu Diensten zu sein: Israel und seine militärischen Erfolge waren und sind ja die eindrucksvollsten Beweise der Freiheit, die ein treuer Vasall der USA sich in der Region ungestraft und unbehindert herausnehmen darf und auch sich herauszunehmen militärisch in der Lage ist. Nicht erst seit der Zerstörung des Bagdader Atomreaktors durch die israelische Luftwaffe scheint derselbe Nachhilfeunterricht über die weltweiten Macht- und Herrschaftsverhältnisse sogar im so furchterregend ‚radikalen‘ Irak anzuschlagen.
Die Bestrebungen der Sowjetunion, sich ähnlich wie die imperialistischen Mächte unter den souveränen Gewalthabern der Staatenwelt dadurch Freunde zu schaffen, daß sie deren politischen Ambitionen zu einer militärischen Macht verhilft und so den Nationalismus aufstrebender Potentaten an sich bindet, wurden so immer wieder zunichte gemacht durch ihre weltpolitische Generallinie, den Feind auf diese Weise zur Koexistenz zwingen zu wollen. Erst recht fehlt es ihrer weltweiten Suche nach Bundesgenossen an den ökonomischen Mitteln, fremde Machthaber durch die radikale Benutzung ihrer Ländereien und Untertanen an den Früchten des weltweiten Funktionierens kapitalistischer Reichtumsproduktion zu beteiligen und sie so unter Ausnutzung des Materialismus ihrer Souveränität zuverlässig an sich zu binden. Auch dafür ist Vietnam wieder das drastischste Beispiel: Zwar liefern sämtliche RGW-Staaten Hilfsgüter und erhalten damit die Nation überhaupt aufrecht; eine für die vietnamesische Staatsgewalt effektive Sonderung von unproduktivem Elend, produktiver Armut und verfügbarem Überschuß, wie die ‚freie Welt‘ sie gleich nebenan zustandebringt, und sei es durch die Inszenierung eines devisenträchtigen Sex-Tourismus, wird damit aber nicht hergestellt. So dankbar deswegen die zuständige Regierung die Geschenke ihrer Bruderländer entgegennimmt - angesichts des amerikanischen Beschlusses, Vietnam weiter als Feind zu behandeln, hat sie da ja auch keine Wahl! -, so sehr ist sie doch auf eine gewisse diplomatische Distanz zu ihnen bedacht, um ihre Gesuche um westliche Kredite nicht von vornherein um jegliche Erfolgsaussichten zu bringen - und sieht sich doch nur immer wieder mit der Klarstellung konfrontiert, daß der Westen sich seine freie Entscheidung darüber vorbehält, inwieweit er Vietnam als einen gesondert ausnutzbaren Staat betrachten und behandeln oder unter seine Feindschaft gegen die Sowjetunion subsumieren und für diese zur Last machen will. Nach demselben Muster statten auch andere ‚Nationale Befreiungsbewegungen‘, sobald sie dank sowjetischer Militärhilfe an die Macht gekommen sind, ihren tiefen Dank in der Weise ab, daß sie sich nach soliden Einnahmequellen ihrer Souveränität umsehen, die ‚Entwicklung‘ ihres Landes in die bewährten Hände kapitalistischer Interessenten legen und sich dementsprechend skrupellos um die Verbesserung ihrer diplomatischen Beziehungen zu den USA und zur EG bemühen. Die nichtmilitärische ‚Entwicklungshilfe‘ der Sowjetunion ist bescheiden, eben weil es sich dabei für sie - im Unterschied zu kapitalistischen Kreditgebern - um Hilfe im wahrsten Sinne des Wortes: um gar nicht lohnende Geschenke handelt; und selbst wo diese die Größe von ganzen Stahl- oder Röhrenwerken annehmen, ersetzen sie doch nicht, was der Westen ganz ohne Unkosten und sogar zu seinem höchst einseitigen Vorteil zu ‚bieten‘ hat: die Unterwerfung unter den ‚Weltmarkt‘, die hemmungslose, bei entsprechendem Einsatz von Reichtum durchaus ergiebige Vernutzung der vorhandenen natürlichen Reichtümer durchs Kapital, also eine den Umständen entsprechend ordentliche Ausbeutung. Ganz ohne Skrupel verhökert die indische Regierung ein mächtiges Symbol der russisch-indischen Freundschaft, ein von der Sowjetunion geschenktes Turbinenwerk, an die Firma Siemens, die sich besser aufs Gewinnemachen versteht. Und sogar die engsten und festesten Bundesgenossen im ‚Ostblock‘ suchen seit geraumer Zeit die materiellen Grundlagen ihrer nationalen Staatsmacht im Westgeschäft zu verbessern.
Die ‚Angebote‘, mit denen die Sowjetunion mögliche Bündnispartner umwirbt, liegen denn auch seit jeher eher - und verlagern sich immer mehr - in den luftigeren Sphären der ‚Völkerfreundschaft‘. Den ‚Wettkampf der Systeme‘ haben die Erfinder der ‚Koexistenz‘-Politik sich von Anfang an als Leistungsvergleich ä la Grand Prix de la Chanson gedacht: als Kundgabe sozialistischer Errungenschaften in Glanzdruck an Politiker und Diplomaten aus aller Herren Länder; mit denen hätte man dann die Völker für die Sache des Sozialismus gewonnen — dies eine Nutzanwendung der revisionistischen Illusion über ‚nationale Unabhängigkeit‘, wonach die Politiker einer ‚befreiten‘ Nation nicht die Herrschaft über ihr Volk repräsentierten, sondern dessen tiefste Wünsche und Regungen! -> und über die ganze Welt würde ein Aufschrei gehen: So etwas wollen wir auch! Nachdem der Imperialismus die materiellen und militärischen Konditionen dieses ‚friedlichen Wettstreits‘ so hart gestaltet hat, daß der Aufbau eines derart hinreißenden Sozialstaats auf der Strecke geblieben ist, sucht die Sowjetunion ihren Konkurrenzerfolg weniger im ‚Ein- und Überholen‘ des Westens und mehr in der puren Demonstration nationaler Leistungsfähigkeit mit Hilfe sämtlicher Idiotien und Scheußlichkeiten des wissenschaftlichen, sportlichen, kulturellen etc. Lebens, von Olympia und Volkstanz bis zum Mondauto und Hegelkongressen - und landet doch auch dort Erfolge von höchst begrenzter Durchschlagskraft. Denn die Öffentlichkeit, die diese Sorte Reklame überhaupt zur Kenntnis nimmt, weiß allemal zu unterscheiden zwischen kulturstaatlichem Quark, der die überlegene ökonomische und politische Macht einer Nation symbolisiert, und dem, der im Bereich der Ideologie solche Macht fingieren soll; und erst recht gibt die regierungsamtliche Einteilung der Welt in Freund und Feind dem Publikumsgeschmack sichere Kriterien an die Hand: Sowjetische Glanztaten im Sinne des ‚Es gibt viel zu tun; packen wir's an!‘ sind erlogen oder mit mangelnder Freiheit erkauft, Fußball und Eishockey schematisch, die Goldmedaillen durch Sportsklaven im Staatsdienst entwürdigt, die wissenschaftlichen Leistungen zu eindimensional, und die Kultur taugt grundsätzlich nur in dem Maße, wie ihre Träger als Dissidenten in Erscheinung treten oder sich in den Westen absetzen: geflohene Balletteusen sind die besten! Es ist nun einmal ein Widerspruch, wenn eine fremde Herrschaft sich einem Volk als die bessere, weil effektivere Herrschaft vorstellt: wie soll denn da etwas anderes wachsen als der Nationalismus - und die Begeisterung, wenn die Symbolfiguren oder die Repräsentanten der eigenen Herrschaft es denen der anderen ‚mal richtig zeigen‘ und ‚heimzahlen‘?
Unschlagbar, immerhin, war die Sowjetunion über Jahre hin auf dem Feld diplomatischer Freundschaftserklärungen, nachdrücklicher Friedensdeklarationen, vorwärtsweisender UNO-Beschlüsse usw. Außer nutzlosen Abstimmungssiegen, Konferenzen und dergleichen hat ihr das aber auch nichts eingebracht. Der so gepflegte Idealismus wahrer Souveränität blamiert sich noch allemal vor deren praktischen Anliegen. Und wo die Sowjetunion selber die Ideale nationaler Unabhängigkeit Ideale sein läßt und sich praktisch für die Erhaltung der ‚Völkerfreundschaft‘ zwischen ihr und einer auswärtigen Regierung engagiert, da trifft deren moralische Wucht sie gleich mit doppelter Stärke. Denn während der demokratische Kapitalismus sich in seinem Umgang mit auswärtiger Herrschaft erst einmal auf den ‚stummen Zwang‘ der ökonomischen Erpressung verlassen kann und deren friedliches Gelingen durch Waffengewalt ‚bloß‘ abzusichern braucht, da fallen bei der Sowjetunion, gerade weil sie keine imperialistischen Zwecke verfolgt, Waffenhilfe und politischer Einfluß so ziemlich zusammen; ausgerechnet unter Kriegsbedingungen erreicht die sowjetische Freundschaft ihren Höhepunkt, und über andere handfeste Garantien als die ruhmreiche sowjetische Militärmacht verfügt sie kaum. Und eben das schlägt nach genau den Kriterien nationaler Unabhängigkeit, als deren Anwalt die Sowjetunion sich eine weltweite Gefolgschaft von Souveränen schaffen will, in der moralischen Konkurrenz um die sauberste Weste durchaus negativ zu Buche.
In jeder Hinsicht, in der der Revisionismus an der Macht sich auf die Konkurrenz mit dem Imperialismus einläßt, tut er das also zu seinem Schaden. Ob ökonomisch oder militärisch, im Kampf um eine Gefolgschaft souveräner Staaten wie um internationales Renommee, ob in puncto Ehre oder Moral, stets beugt er sich den Kriterien, die der Imperialismus in allen diesen Abteilungen für den nationalen Erfolg gesetzt hat- denn dies: die Regeln für die Betätigung souveräner Herrschaft überall auf dem Globus durchzusetzen, ist der imperialistische Erfolg der USA. Überall steht die Sowjetunion mit ihrem Idealismus imperialistischer Verkehrsformen gegen deren praktischen und da eben sehr einseitigen Inhalt und Zweck auf verlorenem Posten - und findet sich allemal in letzter Instanz zurückverwiesen auf ihren Ausgangspunkt: die Selbstbehauptung mit militärischer Gewalt. Wie zum Hohn erntet sie wegen ihrer defensiven Stellung in der Welt zusätzlich zum mangelnden Erfolg auch noch den Vorwurf, der Erz-Störenfried der wohlgeordneten Welt und ihre Hauptgefahr zu sein; und wie aus Ironie geben ihre eigenen defensiven Schönfärbereien der Weltlage diesem Vorwurf immerzu Recht - ganz zu Unrecht. Wirklich der passendste Hauptfeind, den die imperialistische Welt sich wünschen kann!
3.3 Die ‚Entspannungsära‘: Von Vietnam zu Afghanistan
Mitten in der letzten, blutigsten Phase des amerikanischen Vietnamkriegs verzeichnete die ‚Entspannungspolitik‘ zwischen Ost und West ihre ersten Erfolge: mit dem Zugeständnis von Rüstungskontrollverhandlungen und einer besseren diplomatischen Behandlung ihres Hauptfeindes gingen die USA auf die jahrelangen Angebote der sowjetischen Koexistenzpolitiker ein. Ein bemerkenswerter Kontrast zum afghanischen ‚Abenteuer‘ der Roten Armee, das nach westlich-demokratischer Sprachregelung den ‚Entspannungsprozeß‘ ‚blockiert‘ oder sogar schon beendet hat.
1. Das Ende des Vietnamkriegs gilt bis heute als Niederlage der USA von beinahe welthistorischen Ausmaßen. Träfe dieses Urteil zu, so dürfte es wohl kaum je in der Weltgeschichte einen Sieg gegeben haben, der für den ‚Gewinner‘ verheerender, für den ‚Verlierer‘ belangloser gewesen wäre. Die antiimperialistischen Hoffnungen jedenfalls, die die Linke der westlichen Welt einst an den ‚Sieg im Volkskrieg‘ geknüpft hat, haben sich nicht bloß nicht erfüllt, sondern mit der chinesischen Fortsetzung des Vietnamkriegs gründlich zerschlagen. Umgekehrt waren die proimperialistischen Sorgen um ein amerikanisches Vietnam-‚Trauma‘ und eine dadurch womöglich innenpolitisch eingeschränkte ‚Handlungsfreiheit‘ der Weltmacht Nr. 1 bei der Beaufsichtigung und Kontrolle der Staatenwelt schon immer albern und blamieren sich endgültig und vollständig an der neuen imperialistischen Entschlossenheit der Reagan-Administration.
Tatsächlich haben die USA ihr vietnamesisches Engagement ohne militärische Not - wann und inwiefern wäre ihre Souveränität je bedroht gewesen? -, aus eigenem Beschluß beendet; und durch die brutale Demonstration ihrer physischen wie moralischen Fähigkeit zu beliebiger Eskalation des Krieges, die abschließende Verwüstung Nordvietnams durch strategische Bomberflotten, haben sie diese ihre Freiheit noch ausführlich unterstrichen. Ganz offenkundig haben die amerikanischen Regierungen selber der Aufrechterhaltung eines prowestlichen Südvietnam keine weltpolitisch irgendwie entscheidende Bedeutung mehr beigemessen - auch wenn getrost unterstellt werden darf, daß eine südvietnamesische Bundesrepublik ihnen am liebsten gewesen wäre; man sollte den Kriegsausgang daher auch nicht an diesem Zweck messen. In welchem umfassenderen Interesse den USA an einer kollaborierenden Herrschaft in Saigon gelegen war, das haben ihre führenden Politiker schließlich selbst auf ihre unnachahmliche amerikanische Art der Welt als ‚Theorie‘ mitgeteilt. Mit der ‚Deutung‘ der ostasiatischen Staaten als ‚Dominosteine‘, die, fiele nur ein erster, allesamt dem ‚sozialistischen Lager‘ anheimfallen müßten, wurde, deutlich genug, die gesamte im Bereich der alten Kolonialherrschaften entstandene bzw. noch im Entstehen begriffene Staatenwelt als Gegenstand der weltpolitischen Auseinandersetzung bezeichnet, die die USA in Vietnam zu rühren beschlossen hatten. An dieser Stelle, wo eine Fortsetzung der kommunistischen Nachkriegserfolge sich abzeichnete und die Sowjetunion sich immerhin die Freiheit herausnahm, weit außerhalb ihrer Besatzungszonen als Garantiemacht einer auswärtigen Staatsgewalt und eines sie begründenden Friedensvertrages aufzutreten, ging es für die USA um weit mehr als den Zugriff auf einen Erdenwinkel, in dem noch nicht mal das einst von linken Vietnamkriegskritikern vermutete Erdöl aus dem Küstenschelf zu holen ist. Ihnen ging es um nichts Geringeres als die Durchsetzung ihres imperialistischen Prinzips: unabhängige Nationalstaaten zu schaffen, deren Unabhängigkeit nicht gegen die USA zu ‚mißbrauchen‘ war, sondern ein Bollwerk darzustellen hatte gegen jedes weitere Vordringen des Weltkommunismus - der reichte seinerzeit immerhin ziemlich ‚monolithisch‘ von Thüringen bis Nordkorea und hatte mit dem Sieg der Mao-Truppen in China seinen zweiten Triumph nach der Oktoberrevolution errungen. Und dieses Grundgesetz der modernen Staatenwelt haben die USA - zum Unglück Vietnams - dort auch tatsächlich durchgekämpft; bis zu dem Erfolg, daß am Ende mit Vietnam kein ‚Dominostein‚mehr auf dem Spiel stand und der seinerzeitige Kriegsminister sich über die Gewalttätigkeit der eigenen Nation selber nicht genug wundern konnte:
Das Bild, das die größte Supermacht der Welt bietet: wöchentlich tötet sie 1000 Zivilisten oder verletzt sie schwer, und das bei dem Versuch, eine winzige rückständige Nation zur Unterwerfung unter ein Anliegen zu zwingen, dessen Wert völlig dahinsteht — das ist wahrlich nicht sehr einnehmend. (McNamara im Mai 1968, lt. Pentagon Papers, S. 580; eigene Übersetzung)
Die Liquidierung aller alten Kolonialreiche war praktisch abgeschlossen, und zwar ohne daß irgendwo anders noch einmal eine Ausweitung des Ostblocks zur Entscheidung gestanden hätte. Der ‚freie Westen‘ war nicht zur ‚Insel‘ auf einem ihm feindlichen Globus geworden; das ‚sozialistische Lager‘, auch mit seinen beiden ‚Erfolgen‘ in Kuba und Indochina und erst recht nach dem Bruch zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China, war eine strategische ‚Insel‘ dieser Art geblieben.
Und nicht nur das. Mit seiner militärischen Unterstützung Nordvietnams und seiner diplomatischen Handhabung des Kriegsgeschehens hat der sowjetische Antiimperialismus sich für die USA kalkulierbar gemacht - das ist zwar nicht gleichbedeutend mit Harmlosigkeit, aber ein ziemlich entscheidender Schritt hin zur Einordnung in die ‚pax americana‘. Schon der Entschluß der USA, unter offener Mißachtung des Abkommens von 1954 eine souveräne Regierung in Südvietnam zu installieren, war die praktische Probe auf den Grundsatz gewesen, daß weltpolitische Vereinbarungen ohne amerikanischen Segen nichts wert sind und die ‚Anmaßung‘ der Sowjetunion, als Garantiemacht internationaler Verhältnisse aufzutreten, in der harten Welt der imperialistischen Tatsachen nichts zählt. Ebenso war jeder amerikanische Fortschritt in der Ausweitung und Verschärfung des Krieges ein praktischer Test, ob und wie die sowjetische Garantiemacht - und nebenher die selbsternannte ‚Schutzmacht‘ China - ihre Versprechungen gegen die USA wahrmachen würde. In beiden Punkten fiel das Ergebnis im Sinne des Veranstalters aus. Die Sowjetunion trat den USA keineswegs mit einer Macht und einem Nachdruck entgegen, die geeignet oder auch nur darauf berechnet gewesen wären, ihrer Garantie für ein ungeteiltes Vietnam Geltung zu verschaffen oder den Krieg der USA zu verhindern oder zu beenden. Ihre Hilfe war gerade so bemessen, daß sie den Krieg für die USA lang und teuer machte - ungeachtet dessen, daß er zuallererst und vor allem für die Vietnamesen teuer und blutig wurde. Sie bewährte sich als antiimperialistischer Gegner der USA - aber als einer, der deren Imperialismus nicht zu gefährden, zu bekämpfen oder auch nur entscheidend zu behindern gedachte, sondern genau soweit schwächen wollte, daß an der Beachtung und Anerkennung seiner eigenen weltpolitischen Bedeutung kein Weg mehr vorbeiführte. Mit ihrem jederzeit betont ‚maßvollen‘ Engagement in und für Vietnam brachte die Sowjetunion das Kunststück fertig, dem amerikanischen Imperialismus eine Rücksichtnahme auf gewisse eigene Machtansprüche aufzuzwingen und gleichzeitig die Drohung und Gefahr zu relativieren, die die USA in ihren Machtansprüchen erblickten. Vom amerikanischen Standpunkt aus war und ist die Selbstbehauptung des sowjetischen Antiimperialismus selbstverständlich ein Ärgernis und sogar ein Mißerfolg - gemessen an dem höchst unbescheidenen Endziel, die Sowjetunion weltpolitisch vollständig matt zu setzen, zur Unerheblichkeit zu verurteilen und als Gegner auszuschalten. Die Art der sowjetischen Selbstbehauptung eröffnete aber immerhin die Chance, die damit verbundenen Ansprüche auf weltweiten Einfluß andersherum zu neutralisieren: durch ihre Anerkennung unter der von der feindlichen Seite selbst angebotenen Bedingung, dem amerikanischen Zugriff auf die Welt praktisch nicht gefährlich werden zu wollen.
Mit dem Entschluß der Nixon-Regierung, diese Chance auszuprobieren, nachdem der ‚Kalte Krieg‘ zu keinen besseren Resultaten geführt hatte, war die ‚Entspannungsära‘ angebrochen.
2. Zweck einer nationalen Außenpolitik kann ‚Entspannung‘ nie und nimmer sein. Zumindest setzt ein solches ‚Ziel‘ ja allerlei konfliktträchtige Verwicklung mit anderen Staaten voraus. Und sowenig derartige Affären ihren Grund und Inhalt in einer schieren ‚Gemeinheit‘ haben können, in der abstrakten Absicht eines Staates, andere Staaten zu behelligen - ein solcher Idealismus der Bosheit, wie er beispielsweise in der Rede von der ‚Aggressivität‘ gewisser Nationen unterstellt ist, kommt in der Staatenwelt nicht vor: dafür sind Souveräne zu materialistisch! -, sowenig kann das positive Interesse, das Staaten aneinander haben, seinem Grund und Inhalt nach in dem Willen bestehen, möglichst wenige oder überhaupt keine Gegensätze zu anderen Staaten aufkommen zu lassen - dann könnten sie einander ja gleich in Ruhe lassen. Auch wenn ihre Untertanen bisweilen dafürhalten sollen oder sogar glauben, daß die Staatsgewalten ihren diplomatischen Umgang miteinander in genau dieser Absicht, also um seiner selbst willen pflegen, so ist doch gleichzeitig jedermann klar, und den Praktikern der Weltpolitik zuallererst, daß die mehr oder weniger gewaltsamen Verkehrsformen souveräner Regierungen vom Stand ihrer sehr materiellen Interessen aneinander abhängig sind und nicht umgekehrt.
Am ehesten ähnelt noch die Weltpolitik der Sowjetunion solchen falschen Abstraktionen, wie sie mit dem als Vorwurf gemeinten Pleonasmus ‚Machtpolitik‘ oder mit der lobenden idealistischen Phrase ‚Friedenspolitik‘ als maßgebliche Zwecke im weltpolitischen Geschäft ausgegeben werden; denn im Vergleich zu den weltweiten Interessen kapitalistischer Staaten ist sie tatsächlich durch einen Mangel an ökonomischem Inhalt gekennzeichnet, also - ausgerechnet! - vergleichsweise unmaterialistisch. Selbst in diesem Fall geben aber nicht die Methoden, deren die sowjetische Staatsgewalt sich zu ihrer Selbstbehauptung bedient - ‚Frieden‘, ‚Macht‘, ‚Entspannung‘ usw. -, den Grund und Inhalt der Außenpolitik her, sondern die Zwecke revisionistischer Herrschaft und der materielle ökonomische und politische Gegensatz, der damit zu dem Interesse der kapitalistischen Demokratien an einer total benutzbaren und entsprechend herrschaftlich geordneten Welt eröffnet ist. Erst recht gilt das für die Weltpolitik imperialistischer Souveräne. Deren Wirken nach außen unter das Attribut ‚Entspannung‘ oder ‚Frieden‘ zu subsumieren, ist ein genauso lächerlicher moralischer Idealismus wie ihre Kennzeichnung als ‚Kriegs-‘ oder ‚Aggressionspolitik‘. Die Methoden, mit denen ein Staat die Um- und Ausgestaltung auswärtiger Nationen und Länder zur erweiterten ökonomischen und politischen Grundlage seiner souveränen Macht betreibt, werden da ideologisch verkehrt in ein Lob bzw. einen Tadel des ‚guten‘ bzw. ‚bösen‘ Inhalts und Zwecks seiner Politik.
Tatsächlicher Gegenstand des als ‚Entspannungsära‘ firmierenden Abschnitts in der Geschichte des ‚Ost-West-Konflikts‘ ist ein diplomatisches Handelsgeschäft, das, wie spätestens an seinem heutigen Resultat ersichtlich, andere Zwecke verfolgt hat als die abstrakte Negation zwischenstaatlicher Gegensätze - anderenfalls wäre ja ganz unerfindlich, wo die stets von neuem und weiterhin abzubauenden ‚Spannungen‘ zwischen Staaten, die sich allesamt deren Beseitigung verschrieben hätten, denn eigentlich herkommen. Dieses ‚Geschäft‘ besteht in der Verallgemeinerung des Verhältnisses, das die sowjetischen Koexistenzpolitiker ihren westlichen Kontrahenten eben in den Jahren des Vietnamkriegs mit allen Mitteln angetragen hatten. Gestützt und unter Berufung auf ihre militärische Macht, die ihr bei aller westlichen Überlegenheit doch eine gewisse Überlebensgarantie bot und sogar die Einmischung in alle möglichen Kleinkriege des Imperialismus erlaubte, verlangte die Sowjetunion eine Beendigung des ‚Kalten Krieges‘, der westlichen Politik formeller und ausdrücklicher Nicht-Respektierung sowjetischer Macht, und positiv eine Behandlung als Verhandlungspartner, mit dem die USA sich über alle wichtigen Weltaffären ins Benehmen und womöglich ins Einvernehmen zu setzen haben sollten. Diese - mit dem Ende der ‚Entspannung‘ wieder ganz aktuelle - sowjetische Forderung war und ist darin hoffnungslos widersprüchlich, daß sie die Gleichrangigkeit, die Anerkennungsbedürftigkeit der eigenen Macht als anerkannte Geschäftsgrundlage unterstellt und doch durch die zu treffenden Vereinbarungen beseitigt sehen möchte. Gewissermaßen methodisch macht die Sowjetunion da ihre eigene Geschäftsfähigkeit als Weltmacht zum Verhandlungs- und Geschäftsartikel; und das macht die Schwächlichkeit ihrer ‚Entspannungs‘forderung aus - wie auch zugleich den Grund dafür, daß eben dieser defensive Anspruch auf universelle Berücksichtigung ausgerechnet als besondere Unverschämtheit aufgenommen wurde und wird. Wenn daher die westliche Seite darauf einging, dann von vornherein unter der- dieser Forderung exakt angemessenen! —Prämisse, daß es also nicht darum ging, mit der Sowjetunion von gleich zu gleich zu bestimmten Kompromissen zu gelangen, sondern ihr für die eigene Bereitschaft, von gleich zu gleich zu unterhandeln, einen Preis abzuverlangen. Und dieser Preis stand mit der Grundlage des ganzen Deals ebenfalls schon fest: Wenn es der Sowjetunion um ihre Anerkennung als weltweit respektable Macht ging und geht, dann ist es nur logisch, daß der Westen ihr dafür den Verzicht abverlangt, die beanspruchte und zugestandene politisch-militärische Gleichrangigkeit und weltweite Zuständigkeit souverän zu benützen.
Im Bereich der Weltdiplomatie ist mit dem Entschluß zur ‚Entspannungspolitik‘ dementsprechend nicht mehr und nicht weniger eingeführt worden als ein neuer und sehr viel offensiver zu handhabender Gesichtspunkt und Rechtstitel, unter dem der ‚freie Westen‘ dem ‚sozialistischen Lager‘ jede weltpolitische Handlungsfreiheit bestreitet. Wo immer eine dritt- bis fünftrangige Regierung den Versuch unternimmt, von der ‚Rivalität der Großmächte‘ zu profitieren, erst recht wo noch die letzten Überreste des Kolonialismus zu liquidieren sind oder Revolten eine etablierte Staatsgewalt gefährden, wo immer also die strategischen Kalkulationen von USA und Sowjetunion gegeneinanderstehen, da nimmt der Westen sich die Freiheit heraus, die gegnerische Position nicht bloß direkt mit der eigenen zu konfrontieren, sondern unter Berufung auf das gemeinsame Interesse an ‚Entspannung‘ mit der Drohung zurückzuweisen, dieses hohe Gut würde so in Gefahr gebracht.
Gewiß versteht die sowjetische Seite sich auf dem Feld der Propaganda auf das gleiche Verfahren, ihrem nationalen Egoismus eine höhere Weihe zu verleihen; und für die praktische Entscheidung von Konflikten taugt die ‚Entspannung‘ als imaginäre Berufungsinstanz ohnehin nichts. Ihren diplomatischen Wert hat sie dennoch, und zwar ganz nach imperialistischer Logik für die Seite, die über die besseren Mittel verrügt, Streitfragen praktisch für sich zu entscheiden. So untauglich die Erinnerung an die ‚Grundsätze der Entspannung‘ für die unterlegene Seite ist, in solchen Fällen sogar bloß deren Schwäche peinlich kenntlich macht, so nützlich ist sie als Rechtstitel des Erfolgs. Es ist das ganz natürliche ‚Privileg‘ der stärkeren Seite, daß ihre ‚Sorgen‘ um ‚die Entspannung‘ automatisch die Qualität der härtesten Drohung besitzen, nämlich das Zugeständnis formeller Respektierung des anderen mit allen praktischen Konsequenzen zu widerrufen, und dabei zugleich die andere Seite daran zu erinnern, wie sehr dieser an der Aufrechterhaltung eines auch bloß formellen Einvernehmens gelegen sein müßte. Und wenn man auch sonst nichts über das weltweite Kräfteverhältnis zwischen Ost und West wüßte, sein aktueller Stand ließe sich sehr genau an der Freiheit und Unbefangenheit ablesen, mit der der Westen bei jeder Gelegenheit mit dem Hinweis auf eine ‚Gefahr für die Entspannung‘ zur Stelle ist, mit deren ‚Ende‘ droht und sogar explizit von der Sowjetunion ‚weltpolitisches Wohlverhalten‘ als selbstverständliche Voraussetzung für weiterhin ‚entspannte‘ Beziehungen einklagt. Tatsächlich gewonnen hat die sowjetische als die eingestandenermaßen schwächere Seite die prekäre, jederzeit widerrufliche und daher als diplomatisches Druckmittel bestens verwendbare, immerhin aber ausgesprochene Anerkennung als ‚Partner‘ in der Aufteilung und herrschaftlichen Beaufsichtigung der Staatenwelt sowie unter diesem Vorzeichen die Teilnahme an mancher internationaler Konferenz - deren Streitfragen derweil auf ganz anderer Ebene durch die USA geregelt werden: die jüngere Geschichte des ‚Nahost-Konflikts‘ bietet dafür das schlagende Beispiel.
3. Entgegen allen anderslautenden Gerüchten war die ‚Entspannungsära‘ ein Jahrzehnt massivster Aufrüstung - und zwar keineswegs bloß oder auch nur in erster Linie der Roten Armee: Immerhin hat die Bundeswehr unter Mithilfe der nationalen Rüstungsindustrie in dieser Zeit ihre Position als zweitstärkste ‚konventionelle‘ Streitmacht der nichtkommunistischen Welt gefestigt, was aber gar nichts heißt neben amerikanischen Errungenschaften wie Atomraketen mit punktgenau treffenden Sprengköpfen, Neutronenbomben fürs Gefechtsfeld, Cruise Missiles, perfekten Radarüberwachungssystemen und -leitsystemen für den eigenen Auf- und Vormarsch (AWACS)..., um nur die populärsten unter den bekanntgemachten militärtechnologischen Durchbrüchen zu nennen. Und man müßte den mit so viel ‚Verantwortung‘ beladenen Führern der maßgeblichen Staatenwelt schon ein hohes Maß an Schizophrenie zutrauen, um die ‚Entspannungsphase‘ und die in ihr bewerkstelligten Fortschritte in Sachen Kriegsvorbereitung für einen Widerspruch zu halten.
Tatsächlich geht es in der ‚großen Politik‘ so schizophren nicht zu; eher schon sehr zielstrebig. Die ‚Rüstungskontrollverhandlungen‘ jedenfalls, das so hoch geschätzte Herzstück des ‚Entspannungsprozesses‘ , tragen ihren Namen zu Recht: wechselseitig kontrollierte Rüstung stand hier zur Debatte. Und daß diese Kontrollverhandlungen zumindest der amerikanischen Aufrüstung außerordentliche qualitative Fortschritte erlaubten, lag von Anfang an in der Logik und in der westlichen Absicht beim Mitmachen der ‚Entspannungspolitik‘.
Immerhin war die amerikanische Militärmacht gegen Ende der sechziger Jahre mit dem Tatbestand konfrontiert, daß ihr sowjetischer Gegner den ‚Kalten Krieg‘ nicht bloß durchgestanden hatte, sondern erstmals ihr Heimatland, die intakte strategische Basis, dank derer die USA zwei Weltkriege für sich hatten entscheiden können, mit Atomraketen bedrohen konnte. Dieser Umstand, eigentlich belanglos vom Standpunkt der Ideologie der ‚Abschreckung‘ und der ‚Kriegsverhinderung durch Gleichgewicht‘, wurde von den USA ganz unideologisch als schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit ihrer Vernichtungsdrohung genommen, auf der das Konzept des ‚Kalten Krieges‘ beruhte. Die Sicherheit, in letzter Instanz die Sowjetunion besiegen zu können, bestand nicht mehr; und damit war vom Standpunkt amerikanischer Weltmacht aus die Welt und der 'Weltfriede unsicher geworden.
Der militärische Weg, den die USA eingeschlagen haben, um ihre verlorengegangene (Sieges-!) Sicherheit wiederherzustellen, ist an den einschlägigen Resultaten der ‚Entspannungsära‘ abzulesen. Die mit der Existenz einer sowjetischen Bedrohung des amerikanischen Kontinents ganz selbstverständlich sich einstellende Idee eines ‚Entwaffnungsschlages‘ wurde und wird nach Kräften aus dem Himmel der strategischen Ideale auf den Boden der technisch machbaren Tatsachen herabgeholt. Der ebenso und aus demselben Grund einleuchtende Gedanke, der Sowjetunion vom Boden anderer Staaten aus einen in der Anlage ‚begrenzten‘, in den strategischen Wirkungen auf den Feind endgültigen Atomkrieg antragen zu können, wird mit Hilfe von NATO- sowie alten und neuen ostasiatischen Verbündeten zielstrebig realisiert - ganz zu schweigen von den Gerätschaften, für deren Transport in den Weltraum das Wunderding ‚Space Shuttle‘ vorgesehen ist: an dem Apparat wird auch gleich die Kunst einer metergenauen Rückkehr auf die Erdoberfläche geübt. Zwischen konventioneller Rüstung und atomarem Letztschlag wurden jede Menge ‚Lücken‘, also zusätzliche Eskalationsstufen und ‚Kriegsszenarios‘, entdeckt und so aufgefüllt, daß dabei ein deutlicher Vorsprung bei den bis zur Haubitzengröße handhabbar gemachten Atomwaffen heraussprang. Inzwischen üben NATO-Manöver heute die nahtlose Abfolge vom Infanteriefeuer bis zum ‚big bang‘ hin und wieder zurück; und die alternativen Prozentzahlen des ‚unvermeidlichen‘ Verlusts an Land und Leuten, die um eines Sieges willen noch in Kauf zu nehmen sind, sind längst ausgerechnet.
Dieser Weg zu einer strategischen Überlegenheit auf neuem Niveau war allerdings zurückzulegen angesichts eines Gegners, dem ein wirksamer Angriff auf das Gebiet der USA fürs erste nicht zuverlässig zu verwehren war und der seinerseits nicht ohne Erfolg daran arbeitete, sein Land nach Möglichkeit gegen amerikanische Schläge zu sichern. Zuvor, in den goldenen Zeiten des ‚Kalten Krieges‘, hatten die USA um der diplomatischen Ächtung ihres Hauptfeindes willen noch leichten Herzens darauf verzichten können, sich mit diplomatischen Mitteln Sicherheiten über dessen Pläne und Reaktionen auf eigene Rüstungsoffensiven zu verschaffen; solange die USA selbst in Sicherheit waren, konnte der Gegner machen, was er wollte: er war der amerikanischen Mißachtung gewiß. Dieser Verzicht auf jede diplomatisch sichergestellte Berechenbarkeit der Sowjetunion erwies sich nun, unter der Bedingung der Verletzbarkeit der eigenen heimatlichen Basis, als eine Gefahr:
Es war ja noch nicht einmal ausgemacht, wie ‚der Kreml‘ auf zufällige Unfreundlichkeiten der eigenen Kriegsschiffe in weit entfernten Weltmeeren oder auf einen Fehlalarm reagieren würde -um wieviel weniger, ob er den anstehenden Aufrüstungsmaßnahmen des Westens zusehen, ihren Erfolg nicht so oder so, solange von seinem Standpunkt aus dazu noch Zeit wäre, zu vereiteln suchen würde. Gerade um die Gegnerschaft gegen das ‚sozialistische Lager‘ und dessen tödliche Bedrohung nicht bloß aufrechterhalten, sondern einigermaßen gesichert eskalieren zu können, erwies es sich als unerläßlich, sich mit dem Gegner über den Verlauf dieser Eskalation ins Benehmen zu setzen. Der Installierung des ‚Roten Telefons‘, Symbol dieser neuen Notwendigkeit, folgten gemäß eben dieser Logik Vereinbarungen über die friedliche Beilegung unfriedlicher Zwischenfälle, wie sie zwischen universal operierenden Militärapparaten allemal vorkommen müssen. Daß dann in den ersten SALT-Verhandlungen Einigkeit vor allem über die Begrenzung von Abwehrsystemen gegen Interkontinentalraketen erzielt wurde, ist vom maßgeblichen Standpunkt der US-Strategie aus überhaupt kein Widersinn, sondern Resultat der Sorge, der Gegner könnte die eigenen Vernichtungsmittel unwirksam machen, noch ehe ihre geplante Vervielfachung und Perfektionierung gelungen wäre. Sehr grundsätzlich wurde da über den gemeinsamen Willen, um den und mit dem Ausbau der jeweiligen eigenen Offensivmacht zu konkurrieren, Einigkeit erzielt; ein genereller ‚Freibrief‘ für die Seite, die da eine verlorengegangene Sicherheit wiederherzustellen hatte und durch die Entwicklung einer überlegenen Waffentechnik wiederherzustellen gedachte. Wiederum sehr folgerichtig schafften die USA sich mit SALT II durch die Beschränkung des quantitativen Zuwachses der interkontinentalen Raketensysteme die Notwendigkeit vom Hals, womöglich im Ausbau einer Waffengattung mithalten zu müssen, mit der der entscheidende Durchbruch zur Wiedergewinnung echter Siegesgewißheit ohnehin nicht zu erreichen war; umgekehrt waren ihnen eben damit hemmungslose Aktivitäten auf dem viel aussichtsreicheren Gebiet der technischen Perfektionierung sowie der Waffensysteme unterhalb des durch SALT II erfaßten Niveaus zugestanden, mit denen wohl die Sowjetunion, nicht aber das amerikanische Mutterland zu verwüsten ist.
Bei all dem erwies die Sowjetunion sich zwar nicht als nachgiebig, wohl aber als willfährig in dem einen entscheidenden Punkt: ihre Reaktionen auf das amerikanische Überlegenheitsstreben kalkulierbar zu machen und ihm auf diese Weise die nötigen Sicherheiten zuzugestehen. Nicht als ob sie sich über die ‚wahren‘ Absichten der USA getäuscht hätte: sie hatte ihre ‚guten Gründe‘, auf eine einvernehmliche Rüstungskontrolle zu drängen. Diese allerdings begründeten eine weniger erfolgreiche Verhandlungsposition. Die sowjetische Berechnung ging dahin, mit der durch angestrengtes Rüsten errungenen Anerkennung durch die USA als prinzipiell gleichrangige Atommacht das Stadium der permanenten Infragestellung ihrer Existenz zu überwinden und sich damit auch ihre Rüstungslasten erleichtern zu können. Diese Kalkulation, defensiv schon ihrer Natur nach - soweit die revisionistische Herrschaft im Osten überhaupt noch auf eine Beseitigung des Kapitalismus setzt, erhofft sie diese von dessen eigener Fäulnis und einer gerechten Entscheidung der Völker der Welt für den menschheitlichen Fortschritt -, war zum einen durch die Überlegenheit und die entsprechende Bedrohlichkeit der USA, zum anderen durch die ökonomischen Härten diktiert, die der Beschluß, militärisch dagegenzuhalten, für die Aufbauplanung der sozialistischen Staatsführung mit sich brachte. Einem Gegner gegenüber, der beide Probleme nicht bzw. von einem entgegengesetzten Standpunkt aus hatte: als ‚Problem‘ des optimalen Einsatzes des für Militärzwecke verfügbaren Reichtums und einer offensiven ‚Sicherheits‘-Strategie, begründete diese Vorteilsrechnung allerdings ein hohes Maß an Erpreßbarkeit, das von den USA mit der stets einseitigen Drohung, die Verhandlungen gänzlich scheitern zu lassen, auch weidlich ausgenutzt wurde. Und deswegen fiel die Einigung auch allemal so aus, daß sich für die Sowjetunion damit genau die Notwendigkeiten erneuerten, denen sie hatte entgehen wollen: Für die stärkere Partei war die erzielte Einigung allemal eine taugliche Grundlage für verschärfte, zielstrebigere Anstrengungen, die formell zugestandene einstweilige Sicherheit der Sowjetunion praktisch zu untergraben. Deren Führung hat daraus allerdings bis heute stets von neuem die Konsequenz abgeleitet, den ‚Rüstungswettlauf‘ bis in die letzten neu erfundenen Waffengattungen hinein mitzumachen - und erst recht auf neue Kontroll- und Begrenzungsverhandlungen zu setzen.
4. Vom Standpunkt der Sowjetunion aus hätte der ‚Entspannungsprozeß‘ ohne Zweifel unablässig fortdauern können: er war für sie die Art und Weise, sich in ihrer Unterlegenheit einzurichten. Um so klarer, daß für den Westen diese Sorte Politik ‚scheitern‘ mußte: ihre Aufkündigung ist in ihrer Logik eingeschlossen.
In Sachen diplomatischer Absicherung ihrer auf Siegesgewißheit abgestellten Kriegsvorbereitungen kamen die USA rascher und grundsätzlicher ans Ziel, als die derart erfolgreiche Carter-Regierung selbst es realisiert hat: Schon in den Angelegenheiten von SALT II erwies der Vertrag sich als überflüssig für seinen Zweck; die Sowjetunion hat die Annullierung der amerikanischen Unterschrift hingenommen. Dieser Erfolg wiederum ist den USA Grund genug, das Verhältnis von Verhandlung und angestrebtem Verhandlungsergebnis vollends auf den Kopf zu stellen; SALT III beginnt mit der ‚Nachrüstung‘ Europas zu einem für sich genommen bereits strategisch ‚gleichgewichtigen‘ Gegner der Sowjetunion ; auf dieser Grundlage, die für nicht mehr verhandlungsfähig deklariert wird, noch ehe sie voll realisiert ist, werden dem Feind Verhandlungen angeboten - über den Abbau seiner ‚SS 20‘. Dieses Angebot enthüllt seine Großzügigkeit seit den ersten Begegnungen in Genf nicht nur durch die Voraussetzung einer beschlossenen ‚Nachrüstung‘ Europas. Angesichts des offen ausgesprochenen westlichen Wunsches nach einem ‚westlichen Regierungssystem‘ in Polen, der Fortschritte in Sachen vormilitärischer Auflösung des Ostblocks also, steht für die USA die Dringlichkeit des weltweiten Aufrüstungsprogramms außer Frage - in Gesprächen mit der Sowjetunion folglich auch gar nicht zur Disposition. Nach einem Jahrzehnt ‚entspannten‘ Umgangs mit der Sowjetunion erscheint den USA ihre Position offenkundig stark genug, um explizit an die Realisierung des Zwecks heranzugehen, um dessentwillen sie sich die formelle Respektierung der sowjetischen Macht ja überhaupt bloß auferlegt hatten: die praktische Liquidierung der gegnerischen Ansprüche auf gesicherte Selbstbehauptung. Die Wucht dieser höchst folgerichtigen neuen Offensive richtet sich erst recht gegen weltpolitische Ambitionen der Sowjetunion : Jeder ihrer Versuche, irgendwo in der Welt einigen Einfluß neu- oder zurückzugewinnen, wird ihr als Verletzung der Geschäftsgrundlage vorgerechnet, auf der ihr eine friedliche Behandlung überhaupt nur gewährt worden war. Unter dem Motto ‚Entspannung ist unteilbar‘ klagen die USA militär- wie weltpolitisch die beabsichtigten Resultate ihrer ‚Entspannungspolitik‘ ein, und zwar mit der Drohung, andernfalls sei jegliche ‚Entspannung‘ zu Ende. Daß diese Drohung weitaus bedrohlicher ist als der einstige ‚Kalte Krieg‘, ist dabei der solideste Vorteil, den die USA aus ihrer ‚Entspannungspolitik‘ ziehen können.
Dieser Erpressung allerdings, die aus all den gelungenen Erpressungsmanövern der ‚Entspannungsära‘ den zusammenfassenden Erfolg herausziehen will, kann die Sowjetunion sich schwerlich beugen; schließlich wird ihr damit, kaum beschönigt, nichts Geringeres abverlangt als die weltpolitische Selbstaufgabe. Für sie hat sich eben mit allen ‚entspannungsfreundlichen‘ ‚Zugeständnissen‘ des Westens noch stets die Notwendigkeit erneuert und verschärft, ihre Gewalt als Mittel für ihre Selbstbehauptung als Weltmacht auszubauen und einzusetzen; und das in steigendem Maße mit dem Fortschritt der westlichen ‚Entspannungs‘-0ffensiven. Jeder derartige Akt jedoch, so sehr er für die Sowjetunion eine -ungeliebte - Notwendigkeit der ‚Entspannungspolitik‘ des Westens darstellt, ist für diesen Grund genug, das drohende, vorläufige oder endgültige ‚Scheitern der Entspannung‘ auszurufen.
Daß ‚Afghanistan‘ und ‚SS 20-Raketen‘ hier zu den entscheidenden westlichen ‚Prüfsteinen‘ östlicher Nachgiebigkeit geworden sind, ist einerseits zufällig. Schließlich waren bereits die Konjunktur der Carterschen Menschenrechtskampagne sowie die von ihm vom Zaun gebrochene Empörung über eine angebliche Kampfbrigade der Roten Armee auf Kuba deutliche Hinweise darauf, daß die US-Regierung es sich stets vorbehält zu definieren, mit welchen Aktivitäten die Sowjetunion die ihr zugestandenen Freiheiten überschreitet und das formelle Einvernehmen mit dem Westen aufs Spiel setzt. Vielleicht ist manchem Leser auch noch die Überraschung erinnerlich, mit der die zweitrangigen Führer des ‚freien Westens‘ den souveränen Entschluß ihres amerikanischen Häuptlings quittiert haben, ausgerechnet den Truppeneinmarsch in Afghanistan zum alles entscheidenden russischen Sündenfall zu deklarieren. Der NATO-Beschluß, Westeuropa mit Raketen von strategischer Bedeutung, aber ‚bloß‘ mittlerer Reichweite aufzurüsten, ist ohnehin älter als jene Weihnachtsüberraschung und auch als die modernisierten sowjetischen Mittelstreckenraketen. Man darf sich also sicher sein, daß jede andere Gewaltmaßnahme und jede andere Waffengattung der Sowjetunion einem amerikanischen Präsidenten einen genauso ausreichenden Anlaß geliefert hätte, um den weltpolitischen Fortschritt von den einvernehmlichen Erpressungsmanövern der ‚Entspannungsära‘ zur Aufkündigung des Einvernehmens zu bewerkstelligen; dieser Übergang selbst war auf alle Fälle fällig.
Ein Zufall ist es andererseits nicht, daß die Sowjetunion aus den Fortschritten der ‚Entspannungspolitik‘ ihrerseits den praktischen Schluß gezogen hat, das Land eines durch islamische Aufständische von innen her bedrohten Verbündeten militärisch mit Beschlag zu belegen sowie ihre gegen Westeuropa gerichteten Atomraketen zu modernisieren, und daß ausgerechnet dies zum Anlaß und Gegenstand der westlichen Abrechnung geworden ist. Mit ihrer eurostrategischen ‚Vorrüstung‘ zieht die Sowjetunion ihre ‚sicherheitspolitische‘ Konsequenz aus der Tatsache, daß ihr jenseits ihrer Westgrenze immerhin die massivste Truppen- und Waffenkonzentration, und zwar auch das größte Arsenal an taktischen Atomwaffen, gegenübersteht, die überhaupt auf der weiten Welt anzutreffen ist; auf alle Fälle mindestens dazu geeignet, mehr oder weniger ihr gesamtes Militärpotential im Ernstfall zu binden. Überdies konnte den sowjetischen Politikern schwerlich verborgen bleiben, auf was für waffentechnische Fortschritte die USA ihre SALT-‚Zugeständnisse‘ berechnet hatten; spätestens der berühmte NATO-Doppelbeschluß über eine europäische Atomwaffe, die dem Ideal eines Entwaffnungsschlags so nahe kommt wie nur möglich, schaffte da letzte Klarheit. Daß sie ihrem imperialistischen Gegner auch hier wieder ebenbürtig sein will, das angebotene spezielle ‚Kriegsszenario‘ akzeptiert und mit ihrer Rüstung dessen Erfordernissen ihrerseits nachkommt, sollte zumindest der nicht der Sowjetunion zum Vorwurf machen, der die Bundeswehr und die hierzulande stationierten Atomwaffen für einen - wenn auch vielleicht mißlungenen - Kriegsverhinderungsapparat hält.
Mit ihrer militärischen Präsenz in Afghanistan zieht die Sowjetunion wieder einmal die Konsequenz aus ihrer strategischen Defensive, was ihr von kundigen westlichen Beobachtern in der Rede vom sowjetischen ‚Abenteuer Afghanistan‘ Häme, aber nie Verständnis einbringt. Die beliebte Verwechslung von ‚defensiv‘ mit ‚gut, harmlos und friedliebend‘ läßt man sich im Interesse des Lobs der eigenen ‚Verteidigung‘ nicht von der feindlichen Weltmacht dementieren. Eher entschließt man sich zu Lügen über freiheitsdurstige Afghanis, deren zutiefst menschliche Sehnsüchte ein russischer Bär nur allzu gerne erstickt. Dieser sieht sich denn auch seit den Glanzzeiten der ‚Entspannungspolitik‘ dem festen westlichen Beschluß gegenüber, einen sowjetischen Kampf um weitere Verbündete auf der Welt nicht zu dulden und die paar ‚Freundschaften‘, zu denen der regierende Revisionismus es in der Staatenwelt gebracht hat, keineswegs als unveränderliche weltpolitische Gegebenheit hinzunehmen; daß die Aufzählung der diesbezüglichen sowjetischen Todsünden allemal so kurz gerät- Angola, Äthiopien, Jemen und...?-, hat schließlich ihren Gebrauch als Katalog nicht hinnehmbarer Übergriffe nie verhindert. Ungefähr seit derselben Zeit sieht die Sowjetunion sich an ihrer Südostgrenze einem feindseligen Ex-Verbündeten gegenüber, der alles tut und sogar den sowjetischen Schützling Vietnam mit Krieg überzieht, um sich dem Westen als verläßlicher Vorposten gegen die sowjetische Kontinentalmacht anzudienen. Der islamisch revolutionierte Iran mag der Sowjetunion zwar nicht feindseliger oder gefährlicher sein als das Persien des Schah; schlechter kalkulierbar ist er auf jeden Fall. Und daß die USA die Festsetzung ihres Teheraner Botschaftspersonals zum Anlaß nahmen, gleich den wichtigsten Teil des Indischen Ozeans mit einer kriegsstarken Flotte in Beschlag zu nehmen, durfte die sowjetische Führung durchaus zu Recht auf sich und jeden Versuch von ihrer Seite beziehen, ihre regionalen Machtpositionen zu stärken oder auch nur den Verlust an Sicherheiten an ihrer Grenze zu kompensieren. Daß sie sich in dieser Situation ihren letzten wackligen Verbündeten an ihrer Südgrenze als strategisches Vorfeld gesichert hat und dafür einige Schlächtereien inszeniert, sollte zumindest der ihr nicht vorwerfen, der die gleichen Krieger Allahs im Iran für Fanatiker, in Afghanistan für Freiheitskämpfer hält.
Der Frieden, Freiheit und Menschenrechte über alles schätzende Westen jedenfalls beweist und realisiert mit seinen Geld- und Waffenlieferungen an jedermann, der sich in Afghanistan mit einem blutigen Partisanenkrieg gegen die russischen Besetzer ein elendes Leben verdienen will, sein souveränes weltpolitisches Interesse, die wechselseitige Schlächterei in Afghanistan möglichst blutig und dauerhaft zu gestalten; ein Zweck, für den die religiöse Idiotie der Eingeborenen hervorragend zu benutzen ist. In der Wirkung auf die Landesbewohner gleicht dieses Interesse auffällig der einstigen Berechnung der Sowjetunion, sich durch ihre Unterstützung Vietnams die weltpolitische Berücksichtigung durch die USA zu erzwingen und für eine entsprechend lange Kriegsführung zu sorgen; seinem Grund und Inhalt nach ist es jener Kalkulation ziemlich genau konträr. Die ‚freie Welt‘ hat Afghanistan längst als gute Gelegenheit entdeckt, um ihre Beziehungen zu manchen mehr oder weniger benachbarten Staaten durchgreifend zu bereinigen und einiges an aktiver Sowjetfeindschaft zu mobilisieren und zu organisieren; vor allem aber als Chance, die Sowjetunion in eine Zwangslage zu manövrieren, die ihr nur höchst unangenehme Alternativen läßt: Entweder sie handelt sich durch einen vom Westen fast nach Belieben zu intensivierenden Dauerkrieg statt der erstrebten Sicherung eine dauerhafte und zunehmende Gefährdung ihrer Südgrenze ein — ein Problem, das die USA in Indochina niemals hatten; oder sie beugt sich in einer Angelegenheit, die sie zur Kernfrage ihrer Selbstbehauptung in Zentralasien gemacht hat, einem ‚internationalen‘ Diktat — ebenfalls eine Aussicht, mit der die USA in Vietnam nie auch nur von fern konfrontiert waren. So kommt die ‚Entspannung‘ an ihr wohlverdientes, ganz und gar logisches Ende!
Und inzwischen zeichnet sich in Polen die ‚Chance‘ ab, der Sowjetunion ein ähnlich gelagertes, aber ungleich brisanteres Dilemma zu bereiten - diesmal ausgelöst durch einen Arbeiteraufstand, der sich an der zivilisierten Idiotie eines katholischen Nationalismus orientiert und deswegen für den Westen so überaus brauchbar wird. Abgesehen davon, daß die polnische Frage nicht mehr am Rand des sowjetischen Machtbereichs gestellt wird, sondern mitten drin.
5. Eines allerdings weiß man auch in den Hauptstädten des freien Westens. Die Verwandlung eines Aufstandes im Machtbereich der Sowjetunion in eine gelungen Offensive gegen die andere Großmacht bedarf einiger ‚Sicherheitsanstrengungen‘. Was aus Afghanistan und all den anderen ‚Fällen‘ wird, läuft ja wegen der Rechte, die da widereinander stehen, noch allemal auf eine Entscheidung durch Gewalt hinaus. Dieser Konsequenz der Einschränkung, welche der Westen seinem östlichen Gegner überall, wo es geht, zuteil werden läßt, trägt die NATO Rechnung. Und zwar durch ein Programm der Aufrüstung, das die ‚Probleme‘ mit den zahlreicheren und besseren militärischen ‚Optionen‘ für den Ernstfall sehr eindeutig zu entscheiden vermag. Mit der ziemlich unmißverständlichen Parole des ‚Totrüstens‘ ist von seilen der USA die Linie freiheitlicher Politik angegeben worden. Einer Parole, die gerne idealistisch mißverstanden wird, nämlich in dem Sinne, daß die bloße Beschaffung des überlegenen Kriegsgeräts bereits den Effekt eines erfolgreichen Einsatzes verbürgen würde. Diese Sorte statistisch ermittelter Überlegenheit, also ‚Friedenssicherung‘, findet zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt jedoch ebensowenig statt wie zwischen Argentinien und England. Und die liebliche Vorstellung, daß die Sowjetunion dem Zwang zu weiterer Aufrüstung quasi ökonomisch erliegen müßte, rechnet auch gar nicht damit, daß beim erklärten Feind ausgerechnet wegen Geldmangel die Entwicklung und Aufstellung neuer Waffen unterbleibt. Sie zielt auf eine Konkurrenz in Rüstungsdingen, der das sowjetische Sicherheitssystem in absehbarer Zeit nicht mehr gewachsen sein soll, so daß sich dessen Zerschlagung abwickeln läßt. Diese Entschlossenheit, die in strategischen Kalkulationen längst die dabei anfallenden Verluste auf der eigenen Seite einbezieht und minimiert, liegt den Beschlüssen der USA und der NATO-Staaten zugrunde, in denen sie eine funktionell abgestimmte Aufstockung ihres Arsenals einleiten.
Das gewünschte Ergebnis der eigenen Aufrüstung definiert die westliche Seite sehr unbefangen: ihr diplomatischer Umgang mit dem Gegner ist eine einzige große Abrüstungs- Initiative unter dem wohlklingenden Titel Null-Lösung. Unter zynischer Inanspruchnahme aller Idealismen einer Friedensbewegung, die der Rüstung die Verantwortung für die Kriegsgefahr aufbürdet, erklärt die amerikanische Regierung sich unzufrieden mit den früher getroffenen Vereinbarungen über gewisse Grenzen der Aufrüstung, Statt dessen will sie die Vermehrung ihrer militärischen Machtmittel mit dem Ziel vorantreiben, die sowjetische Seite zu ‚ernsthafter‘ Abrüstungsbereitschaft zu zwingen - ein schönes Zeugnis für den berechnenden Umgang mit dem Idealismus, der die Abrüstungsforderungen einer überlegenen Weltmacht mit der Bereitschaft zu teilweiser Selbstentwaffnung verwechseln möchte.
Logischerweise werden in den unter diesen Prämissen eröffneten Verhandlungen noch nicht vorhandene ‚eurostrategische‘ Waffen der USA gegen die erneuerte Mittelstreckenraketenmacht der Sowjetunion aufgerechnet und eine Reduzierung der strategischen Atomwaffen auf beiden Seiten gefordert, die nicht einmal zum Schein auf ‚Ausgewogenheit‘ berechnet, sondern auf das amerikanische Ideal bezogen ist, das ‚Fenster der Verwundbarkeit‘ des Staatsgebiets der USA zu ‚schließen‘, also der Sowjetunion die Fähigkeit zur ‚Abschreckung‘ von ihrer Seite her vollends zu nehmen. Daß die amerikanische Regierung mit der Erfüllung dieser ihrer Forderungen selber nicht rechnet, nimmt ihrem Verhandlungswillen nichts von seiner ‚Ernsthaftigkeit‘ - gibt allerdings Auskunft über den von den USA gewollten Gegenstand und Zweck ihrer Verhandlungen. Sie präsentieren dem Gegner, der Form nach einvernehmlich, das feststehende Ziel der beschlossenen amerikanischen Aufrüstung als die unverrückbare Absicht, eine militärische Gleichrangigkeit und daraus abgeleitete weltpolitische Bewegungsfreiheit der Sowjetunion nicht zu dulden und zu unterbinden; sie zielen nicht auf Kompromisse über bestimmte und begrenzte Streitfragen, sondern übermitteln per Abrüstungsvorschlag eine vorweggenommene Kapitulationsaufforderung und sind damit die angemessene, sachgerechte diplomatische Durchführung der NATO-Politik des ‚Totrüstens‘.
Geht die sowjetische Seite darauf in der für normale Diplomatie üblichen Weise ein, nimmt die amerikanischen ‚Vorschläge‘ als zwar erpresserische, aber immerhin verhandelbare ‚Maximalposition‘ und antwortet darauf mit Abrüstungsangeboten, welche eine partielle Rücknahme ihrer Drohungen einschließen; zeigt sie also, daß ihr NATO-‚Raketen aus Papier‘ mehr Eindruck machen als dem Westen ihre SS 20-‚Raken aus Stahl‘ - ein Vergleich, mit dem Bundeskanzler Kohl ausgerechnet auf die angeblich Schwäche der westlichen Position hinweisen wollte -, dann sieht sie sich mit Zurückweisungen konfrontiert, die den Bereich diplomatischer Geschäftsgepflogenheiten verlassen. Ihre Verhandlungsbereitschaft wird als bloßes Propagandamanöver abgeschmettert, das nicht mehr verdiene als eine - sich offen als solche erklärende - Gegenpropaganda. Die westliche Abrüstungsforderung wird mit dem Dementi des Scheins vorgetragen, sie wäre ein Angebot zum Kompromiß. Das ganze Angebot läuft auf Beseitigung der SS 20-Drohung hinaus, und jeder Versuch der östlichen Seite, mit dieser Drohung dem Westen etwas abzuringen, wird als ‚nicht konstruktiv‘ definiert. Und die Nicht-Erfüllung der eigenen Forderung gilt als ‚Beweis‘ für die Gerechtigkeit der eigenen, unumstößlichen Vorhaben.
3.4 Der Osthandel: Zersetzende Geschäfte mit dem Feind
Sein Zugeständnis, den Machtbereich der Sowjetunion einstweilen als gegeben hinzunehmen und nicht beständig mit den massivsten diplomatischen Fragezeichen zu versehen, hat der ‚freie Westen‘ sich nicht bloß hinsichtlich der letzten Fragen imperialistischer Weltpolitik mit einem weitgehenden sowjetischen Verzicht darauf, ihre anerkannte Weltmacht hinderlich oder gar feindlich gegen die westlichen Interessen in aller Welt zu betätigen, bezahlen lassen. Speziell die europäischen NATO-Verbündeten, die BRD an der Spitze, haben der Sowjetunion für diplomatische Konzessionen an ihr Bemühen um anerkannte Grenzen für ihren Machtbereich einen zweiten, zusätzlichen Preis diktiert. Von der Sowjetunion ging das Unternehmen aus, im Rahmen einer Quasi-Friedens-‚Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa‘ die westlichen Kontrahenten zu einer formellen, offiziellen Respektbezeugung vor den innereuropäischen Nachkriegsgrenzen zu bewegen, namentlich die BRD zu einer formellen Anerkennung der Existenz der DDR sowie der polnischen Westgrenze; einem Respekt, der zu den elementaren Selbstverständlichkeiten des internationalen Verkehrs gehört, der Sowjetunion aber noch lange nicht zugestanden worden war. Und das ließen die friedliebenden Mächte der ‚freien Welt‘ ihren Gegner spüren, daß er das Interesse an einer ‚Normalisierung‘ der beiderseitigen Beziehungen angemeldet - und damit praktisch die Schwäche seiner Position eingestanden hatte. Ihren formellen Respekterweis vor den Grenzen des sowjetischen Machtbereichs knüpften sie an eine Bedingung, in der ihre imperialistischen Ansprüche auf ein bequemer handhabbares Osteuropa sich aufs Beste mit der dazugehörigen moralischen Heuchelei trafen. In ‚Korb III‘ des schließlich verabschiedeten Vertragswerks erkennt die Sowjetunion die Verbindlichkeit der ‚Menschenrechte‘ für jede in Europa ausgeübte souveräne Herrschaft an — und damit einen Maßstab, der sich einzig und allein gegen sie richtet. Die Manier, die Selbstverständlichkeiten einer unangefochtenen Herrschaft in einen Katalog von prinzipiellen Erlaubnissen ans Individuum zu fassen - denen die nötigen Kautelen logischerweise auf dem Fuße folgen -, dieses paradoxe Idealbild einer ihren Untertanen nützlichen Gewalt paßt nun einmal erstklassig zum bürgerlichen Klassenstaat, der den Machern wie dem Menschenmaterial seiner nationalen Ökonomie ganz gerecht und gleichmäßig in ihren jeweiligen Anliegen zur Seite steht, also in rechter Proportion für die Notwendigkeiten der Armut wie für die Ansprüche des produktiven Reichtums sorgt. Es paßt aber ein für allemal nicht zu einer revisionistischen Herrschaft, die ihr Volk beglückt und zufriedengestellt haben will, indem sie sich selbst zum alleinigen Veranstalter und Nutznießer einer dem Kapitalismus nachempfundenen Ausbeutung macht. Genau hier liegt der ganze Unterschied zwischen den Verfahrensweisen einer Staatsgewalt, die ihre Massen für einen so ertragreichen Gegensatz gegen das akkumulationswillige Eigentum einer anderen gesellschaftlichen Klasse funktionalisiert, die ebenso ihrer Hoheit untersteht, und den Modalitäten einer Herrschaft, die selber der alleinige Kontrahent ihres Volkes sein will. Da nützt es den regierenden Revisionisten im Osten auch nichts, daß sie die Kritik der ‚Menschenrechte‘ durch den Anspruch ersetzen, sie hätten in den alternativen Idealen ihrer Herrschaft - die ‚Entfaltung des Menschen im Kollektiv‘ läßt sich nicht weniger schön ausmalen als die großzügige Erlaubnis, sich zur praktischen Unterwerfung eine ganz eigene ‚freie Meinung‘ zu halten! - deren ‚Wesensgehalt‘ erst so richtig wahrgemacht. Im Gegenteil: Die Realität der Ausbeutung geht mit dem Idealismus einer eigentlich viel besseren Welt lässig zusammen; der Anspruch, die Welt der Ideale wäre wirklich geworden, blamiert sich notwendig. So hat eine demokratische Staatsgewalt keinen Verlust an ‚Glaubwürdigkeit‘ zu befürchten, wenn sie sich und ihren Verbündeten jede Einschränkung und Aufhebung der ‚Menschenrechte‘ gestattet, sobald deren Wahrnehmung nicht mehr eindeutig in den Beweis konstruktiver Gesinnung und bedingungsloser Harmlosigkeit mündet, sondern von den demokratischen oder auch schon nicht mehr demokratischen Machthabern als verfassungswidrige Gefährdung ihres Machtbesitzes verstanden wird. Gegen einen Feind gewendet, der seine andersgearteten Herrschaftspraktiken als die wahre Einlösung sämtlicher angeblicher Verheißungen der ‚Menschenrechte‘ ausgibt und gefeiert haben will, wird der heuchlerische Idealismus der demokratischen Gewalt nicht einmal dann verdächtig, wenn er sich stolz zu seiner imperialistischen Stoßrichtung bekennt und ausdrücklich als ‚Menschenrechtswaffe‘ Verwendung findet.
Daß die Sowjetunion in der historischen ‚Schlußakte von Helsinki‘ alle Ideale bürgerlicher Herrschaft unterzeichnet hat, zu deren ‚Verteidigung‘ sich die NATO zusammengetan haben will, hat ihr nicht bloß in der moralischen Buchführung der ‚Weltöffentlichkeit‘ - ohnehin im ‚freien Westen‘ zu Hause und für jede ideologische Rechtfertigung der nie preisgegebenen Kampfansage an das östliche ‚System‘ empfänglich - die fälligen Minuspunkte eingetragen. Dem ‚freien Westen‘ leistet der ominöse ‚Korb III‘ noch weit bessere Dienste: als Freibrief, um beständig unter Berufung auf die russische Unterschrift eine massive politische Zuständigkeit für alles politische Geschehen innerhalb des sowjetischen Machtbereichs anzumelden und geltend zu machen. So hat sich zum einen allerhand an praktischer Einmischung eingebürgert. Da läßt sich etwa einiger Einfluß nehmen auf den internen Umgang mit Oppositionellen, deren Angriffen auf ihr Staatswesen Schützenhilfe geben und somit etwas für die Vermehrung von Unzufriedenheit im Ostblock tun - ob dann die herausgeputzten Dissidenten, allzusehr ermuntert durch westliches Echo, im Gefängnis landen oder nicht (vielleicht ‚bloß‘ ihren Beruf verlieren...), beides ist nicht ungünstig. Die ‚menschlichen Erleichterungen‘ im Aus- und Einreiseverkehr, einschließlich größerer Freizügigkeit für Journalisten, fördern eine Sorte Systemvergleich, dem es zwar schwerfällt, den Traum von einem Leben im Wohlstand westlich des ‚Eisernen Vorhangs‘ zu verifizieren - der praktische Test bringt noch allemal an den Tag, daß die goldene Freiheit mit Abwesenheit von Elend und Gewalt nichts zu tun hat! -, dafür aber um so leichter, das Eigenlob der ‚sozialistischen Errungenschaften‘ im Osten zu desavouieren.
Vor allem aber, und jenseits aller moralischen und praktischen Punktsiege über den sowjetischen ‚Totalitarismus‘, hat der Westen mit ‚Korb III‘ der ‚Schlußakte‘ einen diplomatischen Positionsvorteil gewonnen. Seit Helsinki ist es kein ‚Revanchismus‘ und keine ‚Einmischung in fremde Angelegenheiten‘ mehr, wenn westliche Politiker sich als Berufungsinstanz für Sowjetbürger, also als Oberaufseher über deren Obrigkeit aufspielen und so, als wäre das zwischen feindlichen Staaten das Selbstverständlichste von der Welt, ein Recht zur Einflußnahme auf den Gang der sowjetischen Herrschaft reklamieren. Jede imperialistische Unbescheidenheit von westlicher Seite verfügt in der ‚Schlußakte‘ über einen - wie auch immer fiktiven - Rechtstitel, der es verbietet, sie politisch als das zu behandeln, was sie ist, nämlich ein imperialistischer Anspruch, vielmehr noch dazu die östliche Seite unter den Zwang zur Rechtfertigung setzt. Die diplomatische Infragestellung der sowjetischen Souveränität, die die Sowjetunion dem Westen abhandeln wollte, hat über das Einvernehmen zwischen Ost und West nicht etwa ihr Ende, sondern eine neue Verlaufsform gefunden, die gegenüber den Verfahrensweisen des ‚Kalten Krieges‘ einen bedeutenden Vorteil aufweist: Bei allen seinen Forderungen kann der Westen sich auf das aktenkundige sowjetische Interesse an ‚Entspannung‘ berufen. So wird der Beweis sowjetischer Nachgiebigkeit zum Instrument westlicher Unnachgiebigkeit.
2. Die ‚Menschenrechte‘, die da von an Gewaltmitteln nicht armen Staaten im Namen ‚des‘ Menschen postuliert werden, sind die politischen Ideale der kapitalistischen Benutzung eines eigentumslosen Menschenmaterials, daher auch Hinweise auf die wirklichen Freiheiten des kapitalistischen Eigentums. Als Gegenstand west-östlicher Einigung bilden sie daher logischerweise einen Zusatz zu Vereinbarungen, die darauf zielen, die Gegnerschaft zwischen den Vertragspartnern um ein Verhältnis wechselseitiger ökonomischer Benutzung zu bereichern - ein Verhältnis, von dem von Anfang an feststeht, daß seine maßgeblichen Bedingungen durchs Kapital gesetzt werden. Seine Bewegungsfreiheit unter den so ‚hinderlichen‘ Bedingungen des ‚realen Sozialismus‘ ist denn auch das umfänglichste Thema der ‚Helsinki-Schlußakte‘.
Auf die Idee, im ‚freien Westen‘ gewisse ‚Normative‘ sozialistischer ‚Planung und Leitung‘ einzuführen oder auch nur - analog zu den tatsächlich vereinbarten Regeln für den Fall einer ‚Störung des Marktgleichgewichts‘ - Garantien zu verlangen, daß der neu eröffnete erweiterte Handelsverkehr sich den Bedürfnissen des RGW und der Wirtschaftspläne seiner Mitgliedsländer anzupassen hätte, sind dabei noch nicht einmal die sowjetischen Unterhändler gekommen. Deren Position war und ist eben nicht die von Repräsentanten eines Überflusses, die die Möglichkeiten einer fremden Ökonomie, mit ihrer Zahlungsfähigkeit und ihrer Produktivkraft der Akkumulation des eigenen nationalen Reichtums von Nutzen zu sein, frei inspizieren, kritisch würdigen und zu ihren Konditionen wahrnehmen. Umgekehrt: einen Reichtum solcher Art findet die Sowjetunion bei ihren westlichen Gegnern vor - und sucht dessen Interesse auf sich zu ziehen.
Ihr Beweggrund dafür ist zum einen ein ökonomischer — und zwar der denkbar schlechteste, aus dem heraus ein Staat sich überhaupt zur Teilnahme am kapitalistischen Welthandel entschließen kann: eine Situation des Mangels. In ihrem Wunsch nach ‚beiderseits nützlichen‘ Handelsbeziehungen meldet die östliche ‚Planwirtschaft‘ einen sehr eindeutigen Bedarf nach Produktivkräften an: von eben der Produktionsweise, der sie stets eine angebliche Unfähigkeit zu effektiver Entwicklung der Produktivität zum Vorwurf gemacht hatten, erwarten sich die Planer und Leiter der ‚wissenschaftlich-technischen Revolution‘ Hilfe für den eigenen Fortschritt in Gestalt von käuflicher Maschinerie aller Art! Die vom revisionistischen Staat in die Hand genommene ‚Verwirklichung des Wertgesetzes‘ bringt die Akkumulation staatlichen Reichtums nicht hervor, auf die es deren Hüter abgesehen haben. So üben sie Selbstkritik - und verfallen ausgerechnet auf die Sphäre der härtesten Konkurrenz und der einseitigsten Geschäftemacherei, in der nur der Erfolgreiche Erfolgsaussichten hat, als Ausweg, um die Ausnutzung ihrer nationalen Arbeitskraft gedeihlicher zu gestalten; gerade so, als wäre der ‚Weltmarkt‘ ein Wundermittel, um die Resultate einer unproduktiven Ausbeutung schnell und lohnend in Mittel für eine produktivere zu verwandeln.
Ähnlich illusionärer Natur ist der zweite, politische Zweck, den die Sowjetunion mit der Aufnahme und Pflege guter Geschäftsbeziehungen zum Westen meint realisieren zu können. Die matten Drohungen der jüngsten Zeit an die Adresse der BRD, ihr könnten womöglich im Falle allzu weit getriebener politischer Botmäßigkeit gegenüber den USA lohnende Geschäfte entgehen, ebenso wie die gleichzeitige Hofierung westlicher Industrieller als der letzten, schon aus Eigennutz verläßlichen Garanten guter Ost-West-Beziehungen verraten die Ernsthaftigkeit der sowjetischen Hoffnungen auf all die segensreichen politischen Konsequenzen, die die Ideologie vom ‚allseits nützlichen Welthandel‘ und seiner notorischen Friedlichkeit der weltweiten Geschäftemacherei zuschreibt -und verraten zugleich die Hoffnungslosigkeit eines derartigen Kalküls. In der Gelassenheit, mit der westlicherseits derartige Drohungen ignoriert und östliche Avancen ausgenutzt werden, bekommt die Sowjetunion die imperialistische Wahrheit zu spüren, die sie immerzu nicht wahrhaben will: daß die Idiotie von den friedensfördernden Wirkungen des weltweiten Handels das Ideal gelungener Erpressung ist - einer solchen nämlich, die den Kontrahenten mit vormilitärischen Mitteln nach Belieben fertigmacht -, und daher das Gegenteil von einem Argument, mit dem die schwächere, auf funktionierende Beziehungen angewiesene Seite der anderen, stärkeren Seite Eindruck machen könnte.
Mit genau umgekehrten Voraussetzungen und daher auch auf der ganzen Linie zu seinen Konditionen ist der ‚freie Westen‘ auf das ihm angetragene Ostgeschäft eingestiegen. Für die westlichen Staatsmänner und ihre Geschäftsleute war und blieb der Osthandel zum einen immer eine Sache des lohnend erweiterten Geschäfts:
Keine Not hat ihnen diktiert, gegen Autofabriken und Chemieanlagen der DDR Kühlschränke, den Polen Kohle, der Sowjetunion Erdgas und Wodka abzukaufen, sondern die freie, über die Ver- und Einkaufsmöglichkeiten in der ganzen Welt orientierte Begutachtung der östlichen Wünsche und der ‚sozialistisch‘ erstellten Güterwelt unter dem Gesichtspunkt lohnender Vermarktung der eigenen wie der angebotenen fremden Produkte - lohnend für westliches Kapital! Von diesem werden die Kalkulationen angestellt, die darüber entscheiden, ob überhaupt und zu welchen Preisen, mit wieviel Krediten zu welchen Zinssätzen usw. ein Handel zustande kommt; seine Akkumulation ist die Geschäftsbedingung. Und auf dieser soliden geschäftlichen Grundlage war und blieb der Osthandel für die westliche Seite stets zweitens ein sehr zielstrebig gehandhabtes Geschäft mit dem Gegner. Die Embargolisten aus der Zeit des ‚Kalten Krieges‘, die noch allerlei Kleinkram des zivilen Bedarfs als ‚strategisch relevant‘ mit Ausfuhrverbot belegen, sind prinzipiell noch immer in Kraft und werden von den USA nach Bedarf auch immer wieder in Erinnerung gebracht und erneuert; nicht einmal amerikanische Farmer sind davor sicher, gelegentlich ein paar Millionen Tonnen Weizen auf Halde liegen zu haben, weil ausgerechnet damit ein Exempel statuiert werden soll. Der Standpunkt, daß es den Osten bei aller geschäftlichen Ausnutzung vor allem nach wie vor zu behindern gilt, ist aber keineswegs nur dort präsent, wo ein Handelsgeschäft unterbunden oder zum Zwecke der ‚Bestrafung‘ storniert wird. Die Drohung, den gesamten schönen Handelsverkehr sterben zu lassen, wenn die Sowjetunion nicht den westlichen Ansprüchen an ‚weltpolitisches Wohlverhalten‘ genügt, ist gerade den westeuropäischen Politikern geläufig, die sich so gerne über amerikanische Bevormundung in Fragen der ‚Entspannung‘ und des Ostgeschäfts beschweren. Gegen amerikanische Beschwerden über eine ‚Arbeitsteilung‘ im westlichen Bündnis, bei der die Schutzmacht USA für die Behinderung und Bedrohung der Sowjetunion zuständig sei, während die BRD unter dieser Prämisse unbekümmert und selbstsüchtig ins Geschäft mit ihr einsteige, können die politischen Repräsentanten des engagierten Reichtums sogar den Hinweis ins Feld führen, gerade dank seiner üppigen Entwicklung stelle das Ostgeschäft die schärfste vor-militärische Waffe dar, die die NATO sich nur wünschen könne.
Und dieser Hinweis ist weit mehr als bündnisinterne Heuchelei, wie der Streit um Polen aufs deutlichste zeigt. So ungleich die ökonomischen Voraussetzungen des Ost-West-Geschäfts auf den beiden engagierten Seiten, so eindeutig sind erst recht die ökonomischen wie auch - deswegen - seine politischen Konsequenzen.
3. Die Ökonomie des Osthandels weist einige Besonderheiten auf, die sich dem Umstand verdanken, daß die ‚Staatshandelsländer‘ nicht für den Weltmarkt produzieren, weil umgekehrt ihre Akkumulation nicht auf dem regelmäßigen Kauf und Verkauf von Produktions- und Konsumtionsmitteln außerhalb ihres Herrschaftsbereichs beruht. Die ‚Arbeitsteilung‘ innerhalb des RGW ist auch nicht Resultat der Konkurrenz, sondern von Kalkulationen bezüglich des funktionellen Beitrags der einzelnen Nationen zur wirtschaftlichen Potenz des Bündnisses. In ihren Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Staaten verschaffen die Volksrepubliken mit realsozialistischer ‚Planwirtschaft‘ sich eben nicht einige zusätzliche Aufträge, billige Ware und dergleichen, sondern eine Aufgabe, nach der sie Teile ihrer nationalen Produktion einzurichten haben. Entsprechend sind ihre Währungen Verrechnungseinheiten innerhalb des Blocks, die zwar allemal zu dem taugen, was in der kapitalistischen Welt dem Geld gelingt: auch drüben geht die Trennung des Reichtums von seinen Produzenten über Löhne und Preise, also mit Hilfe der Papierzettel vonstatten; als nationales Kreditgeld gelangen sie aber kaum zu internationalen Ehren. Mittel des internationalen Handels sind sie nie geworden, weil sie von ihren Schöpfern nur als Kredit vorgesehen sind, den die Staatsgewalt sich selbst einräumt, nicht aber als Geschäftsmittel eines Privateigentums, das weltweit seine Mehrung betreibt. Auf ihr Verhältnis zur Geldware Gold wird daher auch kein Wert gelegt - eben darauf aber achten die Akteure des Weltmarkts sehr genau, weil sie wissen, daß internationale Geschäfte nur dann welche sind, wenn sie in konvertibler Währung, und möglichst ‚harter‘ dazu, abgewickelt werden. So entstand mit dem Neubeginn ost-westlicher Wirtschaftsbeziehungen keinerlei Interesse, in den Besitz von Sloty, DDR-Mark oder Rubel zu gelangen. Dem Ost-Geld blieb damit zwar das Schicksal erspart, zum Objekt von Devisenspekulationen auf ausländischen Geldmärkten entwürdigt zu werden; für seine glücklichen Besitzer entstand jedoch das Problem, sich genau das beschaffen zu müssen, was der Revisionismus mit seiner Machtergreifung fortschrittlich überwunden haben wollte: ein als Geschäftsmittel international taugliches und anerkanntes Geld. Die Devisenbeschaffung, die in kapitalistischen Ländern zu den selbstverständlichen Geschäftsbedingungen gehört, weil sie zum Geschäft dazugehört - über den Geldhandel spielt sich schließlich die Konkurrenz um die Preise ausländischer Waren ab -, wird für die realsozialistischen Länder zur ersten Schranke bei der Beschaffung der begehrten Güter. Während in der Konkurrenz der Kapitale das Exportgeschäft des einen die Importe des anderen ermöglicht und der Staat noch nicht einmal mit dem Ideal einer ausgeglichenen Handels- oder Zahlungsbilanz ernst zu machen braucht, entdeckt der Inhaber des Außenhandelsmonopols bei seinem ersten Gang als Käufer auf den ‚Weltmarkt‘, daß seine Ökonomie ihm zunächst einmal gar nicht die Mittel zur Verfügung stellt, die er dafür benötigt. Er will sich am internationalen Geschäft beteiligen, um seine ökonomischen Vorhaben zu fördern - und noch ehe der erste derartige Erfolg sich abzeichnet, muß er die Erwirtschaftung von Devisen als neue, zusätzliche Aufgabe in seine ohnehin zu wenig ertragreichen ökonomischen Unternehmungen einbauen.
Und diese Aufgabe ist von anderem Kaliber, als was den sozialistischen Staaten von ihrer bündnisinternen ‚Arbeitsteilung‘ her als Anspruch einer auswärtigen Ökonomie vertraut ist. Damit westliche ‚Industrienationen‘ östliche Ware für kaufenswert erachten, braucht eine osteuropäische ‚Planwirtschaft‘ sich zwar nicht mit den im Reich der kapitalistischen Konkurrenz durchgesetzten Maßstäben der Kostpreiskalkulation vertraut zu machen; die zuständigen Planungsinstanzen kommen ganz gewiß zuallerletzt auf die Idee, die staatlich festgelegten Währungsparitäten zwischen sozialistischem und kapitalistischem Kreditgeld als Datum zu nehmen, an dem die Rentabilität der geplanten Mehrwertproduktion sich sinnvollerweise messen könnte. Geltend macht dieser Maßstab sich aber schon, nämlich im Umfang der Produktionskapazitäten, die die östlichen Planer und Leiter der Aufgabe umwidmen müssen, mit Gütern zu im Westen konkurrenzfähigen Preisen dennoch das benötigte Quantum Devisen zu ergattern. Dabei ist es noch nicht einmal damit getan, daß ein ansehnlicher Teil der Produktion auf die Bahn geht und gen Westen rollt. Auch als Gebrauchswert kann eine sozialistische Ware sich eingestandenermaßen nicht so ohne weiteres mit den Erzeugnissen messen, die den kapitalistischen Markt bevölkern; und sei es nur deswegen, weil dieser das nötige Quantum Ramsch aus noch weit billigeren Quellen bezieht. Seit den ersten Tagen des ost-westlichen Warenverkehrs haben deshalb die östlichen Westexperten Abteilungen eingerichtet, die spezielle Qualitätsware für den Export in das Reich der kapitalistischen Freiheit herstellen: diese Produkte werden säuberlich vom Ausschuß, der der eigenen Bevölkerung erhalten bleibt, getrennt und gestempelt, was Arbeitsplätze schafft und die Produktivität nicht wenig senkt. Aber selbst die gutwillige ‚Lösung‘ solcher ‚Probleme‘ - die ihre Wirkung beim eigenen Volk ganz sicher nicht verfehlt! - macht die Partner aus dem Westen nicht unbedingt den westwirtschaftlichen Anliegen des ‚Ostblocks‘ geneigt. Nicht zufällig ist selbst in die ‚Schlußakte von Helsinki‘ die schöne Vorschrift hineingeraten, daß auswärtiger Handel zu allem, aber keinesfalls zu ‚Marktstörungen‘ oder gar zu einer ‚Marktzerrüttung‘ führen dürfe; den Klartext lesen die westlichen Handelspartner ihren Kameraden drüben mit Zollpolitik und Kontingentierungsbestimmungen vor.
So werden einer Wirtschaft, die überschüssige Produkte gerade nicht hervorbringt, um eben diesem Mangel abzuhelfen, in ansehnlichem Umfang Produktivkräfte entzogen — in der Hoffnung auf die künftige Wirksamkeit der damit bezahlten Produktivkraft aus der Werkstatt kapitalistischer Ausbeutung. Ein Dilemma, zu dessen Lösung so schöne Erfindungen wie Intershops und Tu-zex-Läden, Zwangsumtauschsätze für Touristen und Verwandtenbesucher usw. nicht allzuviel ausrichten. Daß kein ‚Ostblock-Land mit der Produktion für Devisen seinen Importbedürfnissen hinterherkommt - die wachsen nämlich ihrerseits ganz beträchtlich mit den Erfordernissen des Exports von Qualitätsware! -, ist daher eine bleibende Gelegenheit für die kapitalistische Geschäftswelt, ihre Großzügigkeit zu beweisen und dem so ehrlich bemühten Handelspartner mit Krediten auszuhelfen. Nicht nur im Falle Polens hat derlei ‚Hilfe‘ sich inzwischen auf elfstellige Dollarbeträge aufsummiert- und das, ohne daß jene extra reaktionären Besorgnisse, man kreditierte auf diese Weise den Sowjets doch nur indirekt ihre Aufrüstung, mehr als ideologische Beachtung gefunden hätten. Tatsächlich ist es nämlich erstens auch für östliche Staaten keineswegs billig, sich des kapitalistischen Kreditwesens zu ‚bedienen‘, und offenbar auch überhaupt nicht lohnend; die Belastung der so vorbehaltlos weltoffen gewordenen ‚Planwirtschaften‘ durch Exportnotwendigkeiten steigt jedenfalls rascher, als die auf Pump importierten Produktivkräfte das gewünschte segensreiche Werk tun. Zweitens pflegen größere internationale Kredittransaktionen zu einer Angelegenheit staatlicher Garantien auf seilen des imperialistischen Partners zu werden; und der läßt sich eine solche erstklassige Gelegenheit, durch die Praxis und die Konditionen der Kreditvergabe nicht nur ökonomischen Nutzen für sich und allerlei wirtschaftliche ‚Sachzwänge‘ für seinen Kontrahenten zu stiften, sondern auch politischen Schaden anzurichten, natürlich nicht entgehen. Da werden Tauschgeschäfte wie Kredit gegen Aussiedler, Swing gegen Menschenrechte, Zinsstundung und Umschuldung gegen Gewerkschaftsrecht vereinbart, von denen sich der alte Marx bei seiner eindimensionalen Warenanalyse auch noch nichts träumen ließ.
Abhilfe von solchen Drangsalen schienen der Sowjetunion die Produkte zu schaffen, an deren Qualität nicht einmal die verwöhnten Agenturen des ‚freien Westens‘ Anstoß nehmen und von denen sie gar nicht genug kriegen können: die Roh Stoffe, deren reichliches Vorhandensein in der sowjetischen Heimaterde einst die Idee eines sozialistischen Aufbaus ohne Störung durch einen unabweisbaren Zwang zum Außenhandel realisierbar gemacht hatte. Insbesondere der Export von Erdöl und Erdgas ist so zum devisenträchtigsten Zweig des sowjetischen Westhandels geworden; freilich auch nicht ohne die Härten imperialistischer Partnerschaft einmal mehr klargestellt zu bekommen. Auch hier ist es nämlich der Wirtschaft des Ostens nicht förderlich, die Lieferung zu Lasten der eigenen Versorgung gehen zu lassen, also die Milderung der Schuldenlast mit zusätzlichen Störungen der eigenen Produktion zu bewerkstelligen. Für die Steigerung der Förderung des sowjetischen Exportschlagers Nr. 1 ebenso wie für seinen Transport bedarf es wieder genau der Leistungen der eigenen Industrie, deren Fehlen die Wirtschafts- und Politkommissare erst auf die Effizienz westlicher ‚Technologie‘ scharf gemacht hatte. So stellt sich immer wieder heraus, daß die Sowjetunion, größter Röhrenproduzent der Welt, den Bedarf nicht zu decken vermag, der mit den vereinbarten oder gewünschten Gas- und Öllieferungen entsteht. Was sowjetischerseits als endlich einmal lohnendes Geschäft geplant ist, wird so doch wieder zu einem jener Kompensationsgeschäfte, die im Westen so gerne beklagt und getätigt werden: Der Energieexport dient nun auf Jahre hinaus der Abzahlung der Röhrenkontingente (inklusive Zinsen) aus dem Westen; der macht damit erstens ein feines Geschäft und sieht sich zweitens in der glücklichen Lage, mit einem Embargo die künftige Energieversorgung der Sowjetunion selbst in Frage stellen zu können. Ganz zu schweigen von den ohnehin vorhandenen Schwierigkeiten, den zusätzlichen Bedarf durch die weitere Erschließung und Exploitation der ‚unermeßlich reichen‘, leider aber eben sehr abgelegenen Vorkommen zu dekken; Schwierigkeiten, die bereits zu mancherlei Angeboten seitens der Sowjetunion geführt haben, die spezielles Bohrgerät gerne bezahlen würde, es aber aus politischen Erwägungen von den Amis nicht kriegt.
Als noch wirkungsvoller hat sich der Osthandel, der die ökonomischen Ziele des ‚sozialistischen Aufbaus‘ zunichte macht und dem Westen als Hebel für eine praktische Kritik der revisionistischen Herrschaft dient, dort erwiesen, wo die Verwalter des ‚Wertgesetzes‘ sich unter dem Druck außenwirtschaftlicher ‚Sachzwänge‘ auf den Lehrsatz vom natürlichen Gegensatz zwischen Akkumulation und Konsumtion besonnen haben und ihre Zahlungsfähigkeit im Welthandel durch den Export von Lebensmitteln sicherzustellen suchen. Da wird manches Produkt mit einem deutschen Etikett versehen, das es in den einheimischen Läden nicht oder nicht in ausreichender Menge zu kaufen gibt; und wenn dann umgekehrt USA und EG mit Lebensmittellieferungen ‚einspringen‘ - womöglich sogar zu Vorzugszinsen! -, dann war das Ganze keineswegs absurd, sondern für den Westen gleich doppelt und dreifach von Nutzen. Wie von selbst schafft die gelungene Benützung des feindlichen Lagers die schönsten Anlässe, um die politische Infragestellung seiner Souveränität in ganz neuer Schärfe auf die Tagesordnung zu setzen.
4. Der kleine Widerspruch, daß der ‚freie Westen‘ bei der Ausnutzung der östlichen Ökonomie auf brave Arbeiter genauso setzt wie seine Geschäftspartner aus der Führung von Arbeiterparteien, daß er andererseits für den inneren Zersetzungsprozeß der feindlichen Herrschaft ungehorsame, der Knechtschaft überdrüssige Bürger drüben schätzt, ist für einen imperialistischen Staat und seine Weltbürger keine große Belastung. Beides gilt ihnen als Dienst, der der Sache der Freiheit geleistet wird, und zwar nebeneinander und nacheinander. Manche demokratische Zeitung beschwört auf den vorderen Seiten die mit Füßen getretenen Menschenrechte und beschwert sich über den östlichen Despotismus, während der Wirtschaftsteil ganz ‚vorurteilsfrei‘ darüber Auskunft gibt, daß ‚eine stärkere Bereitschaft zur Mehrschichtarbeit, fehlende Streikmöglichkeiten und übliche längere Arbeitszeiten‘ durchaus als Empfehlung für den Osten gelten können - in den Augen sozialstaatsgeschädigter Unternehmer in ‚arbeitsintensiven‘ Branchen, die beim Gebrauch slawischen Personals bis zu 30 0hnkosten sparen können, wobei der staatliche Vermieter sogar noch gewinnt, wenn er die ortsüblichen Niedriglöhne zahlt. Auch von der ‚Stabilität‘, die eine sichere Kalkulation erlaube, ist da recht häufig die Rede - woran zu sehen ist, daß sich Ost und West längst über viel mehr einig geworden sind als über den Tausch von diversen Waren. Sie haben auch schon zu gewissen ‚Lösungen‘ der ‚Probleme‘ gefunden, die der Tausch für beide Seiten so mit sich bringt.
Die westlichen Marktwirtschaftler, die jeden östlichen Exportartikel dreimal daraufhin überprüfen, ob er denn auch wirklich ‚in die Landschaft paßt‘, beklagen die ‚geringe Leistungsfähigkeit‘ der östlichen ‚Exportwirtschaft‘, sind also der Auffassung, daß die von ihnen eingegangenen Geschäftsbeziehungen noch viel ertragreicher gestaltet werden könnten. So weisen sie ihre Partner im Osten darauf hin, daß Kompensationsgeschäfte die Verschuldung zwar nicht steigern, aber auch nichts für ihren Abbau leisten. Drüben ist man aufgrund des praktischen Drucks, der solchen Hinweisen zugrunde liegt, auch schon zu der Überzeugung gelangt, daß die Begleichung des ‚Technologietransfers‘ mit langfristigen, also die Kreditierung verteuernden Lieferverträgen über Konserven, Berufskleidung und selbst Erdgas nicht das Wahre sein kann. So beugen sich die Länder des ‚Ostblocks‘ dem an die imperialistischen Praktiken in ‚Entwicklungsländern‘ gemahnenden Angebot, doch auch den Artikel für das Ost-West-Geschäft zur Verfügung zu stellen, über den sie als Arbeiterstaaten so reichlich verfügen: die Arbeitskräfte, die - richtig angewandt und mit dem rechten Zwang zu besserer ‚Arbeitsmoral‘ ausgestattet - Wunder wirken können und mit ihren Produkten, wenn sie vom westlichen Geschäftsmann bestimmt werden, ganz gewiß richtig liegen. Die Staaten des realen Sozialismus, die sich als die praktisch gewordene Befreiung des Proletariats vom Joch des Kapitals feiern, wetteifern inzwischen darum, am ‚technologischen Fortschritt‘ teilzunehmen, indem sie in ‚Kooperationsabkommen‘ der verschiedensten Art ihre gefügigen und sehr brauchbaren Arbeiter an den Segnungen des Kapitals teilhaben lassen. Unter dem irreführenden Titel ‚Lohn Veredelung‘ - der Lohn wird nämlich nicht veredelt! - findet eine Renaissance des Verlagssystems aus der Frühzeit des Kapitalismus im internationalen Maßstab statt. Die Lieferung von Maschinen und ganzen Fabriken setzt die ‚Planwirtschaft‘ instand, erwünschte Halb- und Fertigprodukte zu liefern; und für diese langfristige Chance, in der Devisenfrage zu Rande zu kommen sowie am fortgeschrittenen ‚know how‘ des Westens teilzuhaben, steuert der sozialistische Staat Räumlichkeiten, Rohstoffe und Personal bei. Der Abschluß derartiger Geschäfte macht deutlich, wie wenig der weltpolitische Gegensatz zum Imperialismus mit einer praktischen Kritik kapitalistischer Ausbeutung zu tun zu haben braucht—weswegen dieser Gegensatz umgekehrt sehr bequem von den westlichen Partnern betätigt wird, die so unverhohlen zur praktischen Kritik und Revision aller revisionistischen Errungenschaften auf dem Feld der Ökonomie eingeladen sind und in jedem laufenden Vertrag eine Handhabe für die Erpressung ökonomischer und politischer Zugeständnisse besitzen. Ganze Abteilungen der Produktion in den realsozialistischen Ländern sind inzwischen auf die Kalkulation eingerichtet, die westliche Marktstrategen eigens für sie aufgemacht haben. In deren fachmännischen Kommentaren tauchen solche Branchen auf als arbeits-, rohstoff-, energie- und umweltintensive Produktionszweige, und die ‚drüben‘ haben alle Hände voll zu tun, um die Abkommen zu erfüllen und die verlangten Liefergarantien mit ihrem übrigen ökonomischen Programm zu vereinbaren. Denn die drohenden Vorbehalte der kapitalistischen Partner, die mit der ständigen Klage einhergehen, daß ‚die bewährteste Form des internationalen Technologietransfers‘, die Direktinvestition, noch immer auf ‚ideologische Vorbehalte‘ stoße, begleiten jedes Projekt. Die Sorge, eine östliche Regierung könnte sich einmal in typisch kommunistischer Manier eine Lizenzfabrik einfach unter den Nagel reißen, ist bis heute noch nicht aufgekommen; im Gegenteil, die sozialistischen Partner gelten als äußerst zuverlässig. Das einmalig günstige Zusammentreffen ihrer freien Kalkulation mit dem Profit auf der einen, der ökonomischen Not der Länder mit ‚Planwirtschaft‘ auf der anderen Seite erlaubt den Anlegern, immer bessere Bedingungen auszuhandeln, so die Unterwerfung einer ihren Interessen eigentlich hinderlichen Produktionsweise voranzutreiben - und damit auf deren Auflösung hinzuwirken.
Das politische Bündnis der revisionistischen Staaten bleibt von dieser zunehmenden Funktionalisierung ihrer Ökonomie durch und für westliche Interessen nicht unberührt. Nicht nur mit ihren eigenen nationalen Vorstellungen von einem ‚sozialistischen Aufbau‘ kommen die Planer drüben in dem Maße in Konflikt, wie sie ihre ‚Planwirtschaft‘ zum Zwischenglied in den ausgreifenden Kalkulationen westlicher Kapitale machen. Abstriche zugunsten devisenträchtiger Geschäftszweige fallen ihnen gewiß nicht zuletzt bei den Aufgaben ein, die ihrer Nationalökonomie im Rahmen des RGW zugewiesen sind. Die Sowjetunion selbst geht da mit Beispielen der Art voran, daß sie ihre Energievorräte lieber an zahlungskräftige Westkunden verkauft, als ihre Bundesgenossen damit zu beliefern, die immer so wenig zum gemeinsamen Fortschritt beisteuern. Und diese setzen bei der Erfüllung ihrer diversen außenwirtschaftlichen Verpflichtungen ebenso ihre Prioritäten - was das interessierte imperialistische Ausland allerdings noch keineswegs zufriedenstellt. In der Gewißheit, daß die Souveräne des gegnerischen Blocks die ökonomische Grundlage ihrer Macht schon längst nicht mehr voll unter ihrer eigenen oder gemeinschaftlichen Kontrolle haben, sondern zu ansehnlichen Teilen bereits im ‚Entgegenkommen‘ westlicher Wirtschaftsmanager und - Politiker, bestehen die Diplomaten des Imperialismus auf merklichen Modifikationen auch der außenpolitischen Prioritäten ihrer östlichen Partner - als Bedingung für weiteres ‚Entgegenkommen‘ in Angelegenheiten der gewünschten ökonomischen Umorientierung auf den Westen. Unterschiedliche Grade der ‚Annäherung‘ an die EG und den IWF, diplomatische Distanzierungsakte bezüglich weltpolitischer Manöver der Sowjetunion usw. führen entsprechende Differenzierungen in der westlichen Bereitschaft zu jenem Engagement herbei, auf das östliche Politiker so scharf sind - und umgekehrt. Das Streben nach ‚politischer Unabhängigkeit‘ inmitten des Warschauer Pakts, das sich z. B. auch im Empfang einer chinesischen Delegation dokumentieren kann, wird da ebenso durch Geschäftsabschlüsse ‚belohnt‘ wie die Einräumung besonders freundlicher Anlagekonditionen. Der gesamte ‚Ostblock‘ wird inzwischen nach solchen Gesichtspunkten sortiert: die CSSR ist weder willens noch ökonomisch in der Lage, sich mit Hilfe einer bedeutenden ‚Ausdehnung des Westexports‘ zum Erfüllungsgehilfen westeuropäischer Investitionsstrategen zu machen; daher wird bedauernd konstatiert: ‚Der militärische Eingriff der Sowjetunion im August 1968 unterbrach eine Entwicklung, die das Land politisch und wirtschaftlich zu einem Vorreiter der Entspannungspolitik und der Ost-West-Beziehungen hätte werden lassen können.‘ Dafür gilt gegenwärtig Rumänien als ‚Vorreiter‘, was mit Leistungen der verschiedensten Art zusammenhängt: von der bekannten rumänischen Chinesenfreundschaft über die - in einem NATO-Land unvorstellbare - höchstoffizielle Kritik an den Militärlasten bis hin zum ‚Vertrag über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen‘ aus dem Jahre 1979, dem ersten Abkommen dieser Art, das ‚die BRD mit einem Staatshandelsland vereinbart hat‘. Ungarn ist zwar politisch nicht übermäßig aufmüpfig, pflegt aber schon seit längerem eine derart ‚exportorientierte Wirtschaftspolitik‘, daß das Land sein flottes Handelsbilanzdefizit inzwischen mit der Erlaubnis von Direktinvestitionen ausländischen Kapitals bekämpft, von der Betreuung durch die Kreditlinien des IWF ganz zu schweigen; auch das schafft Sympathien. Und Polen ist bereits ein ganzes Kapitel für sich.
Das ‚entspannungsfördernde‘ Ost-West-Geschäft ist so zu einem einzigen praktischen Beweis geworden, daß der Osten in jeder Hinsicht besser daran getan hätte, eine Planwirtschaft zu machen statt einen Staatssozialismus, der sich den Gesetzen des Weltmarkts entsprechend zurichtet, weil er sich ausgerechnet über ihn sanieren will. Den ‚Weltmarkt‘ benützt eben keine Nation für sich, ohne sich zur Manövriermasse seiner Gestalter zu machen -es sei denn, sie wäre denen in jeder Hinsicht gewachsen. Und den rein geschäftsmäßigen Prinzipien des ‚Weltmarkts‘ widerspricht es überhaupt nicht, wenn die in Handel und Wandel hergestellten Abhängigkeiten dem zusätzlichen Kriterium der politischen Einflußnahme unterworfen und als Hebel zur Relativierung auswärtiger Souveränität benutzt werden - schon gar nicht im Fall der Weltmacht Nr. 2 und ihrer ‚Satelliten‘. Je erfolgreicher die kapitalistische Benutzung der realsozialistischen Ökonomien auf deren Zerstörung hinwirkt, um so weniger ist sie zu haben ohne eine Erpressung, die sich der geschaffenen ökonomischen ‚Sachzwänge‘ sehr bewußt als eines bloß vor-militärischen Druckmittels bedient. Wäre der Osthandel nicht ohnehin von Anfang an ein Geschäft gewesen, das die NATO sich leistet - man hätte glatt vom Standpunkt des erfolgreichen Osthandels aus die NATO erfinden müssen.
5. Kein Widerspruch zur Logik des Ost-Geschäfts, sondern die Ausnutzung einer der dadurch eröffneten Chancen für die westliche Weltordnungspolitik ist daher noch der schließliche Übergang zum Wirtschaftskrieg gegen die Sowjetunion, der auf Basis der geschaffenen ökonomischen Abhängigkeiten das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Benutzung und politischer Feindschaft endgültig ‚richtigstellt‘ - zu Lasten des Geschäfts, zugunsten des Erfolgs seiner politischen Prinzipien.
Die allgemeine Entscheidung für diesen Fortschritt hat der ‚Weltwirtschaftsgipfel‘ im Juni 1982 in Versailles mit dem folgenden, allgemein als wenig spektakulär eingeschätzten Beschluß gefällt:
Wir sind übereingekommen, gegenüber der UdSSR und Osteuropa ein vernünftiges und nuanciertes Vorgehen einzuschlagen in Einklang mit unseren politischen und sicherheitspolitischen Interessen.
Hierzu gehört das Vorgehen in drei Schlüsselbereichen: Erstens werden unsere Vertreter im Anschluß an die internationalen Erörterungen vom Januar bei der Verbesserung des Systems für die Kontrolle der Ausfuhr strategischer Güter in diese Länder und der nationalen Durchsetzung von Sicherheitskontrollen zusammenarbeiten. Zweitens werden wir in der OECD Informationen über alle Aspekte unserer Wirtschafts-, Handelsund Finanzbeziehungen mit der Sowjetunion und Osteuropa austauschen. Drittens sind wir unter Berücksichtigung der bestehenden wirtschaftlichen und finanziellen Erwägungen übereingekommen, Finanzbeziehungen mit der UdSSR und anderen osteuropäischen Staaten vorsichtig zu handhaben, um sicherzustellen, daß sie auf einer gesunden wirtschaftlichen Basis gestaltet werden, einschließlich der Notwendigkeit kommerzieller Vernunft auch bei einer Begrenzung der Ausfuhrkredite. Die Entwicklung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen unterliegt einer regelmäßigen nachträglichen Kontrolle.
Der quasi selbstkritische Entschluß, in den Wirtschaftsbeziehungen zum ‚Ostblock‘ fortan ‚kommerzielle Vernunft‘ walten zu lassen - gerade so, als hätte es daran vorher gefehlt! -, enthält als seine stillschweigende Voraussetzung und gibt damit kund, daß die Bedingungen für eine ‚vernünftige‘ und ‚vorsichtige‘ west-östliche Geschäftstätigkeit gründlich revidiert worden sind. Die ökonomischen und politischen Sachwalter des Kreditüberbaus an die Notwendigkeit einer ‚gesunden wirtschaftlichen Basis‘ zu erinnern, heißt ja nicht etwa einen Kampf gegen spekulativen Leichtsinn eröffnen, den es im Ostgeschäft auf westlicher Seite gewiß zu allerletzt gegeben hat. Daß die Kreditlinien, die westliche Geschäftsleute ihren östlichen ‚Partnern‘ einräumen, deren internationale Zahlungsfähigkeit so auswerten, daß sie sie gefährden, war den Fachleuten und Praktikern, die immer nur ungern auf den östlichen Wunsch nach Kompensationsgeschäften eingegangen sind, doch nie ein Geheimnis - und aus gutem Grund nie ein Problem. Denn schon im normalen kapitalistischen Geschäftsverkehr, erst recht zwischen kapitalistischen Nationen - und schon gleich, wenn sich Schulden in Milliardenhöhe akkumulieren - werden Kredite nach allen Regeln der ‚kommerziellen Vernunft‘ nicht gegeben, damit sie nach pünktlicher Rückzahlung und Verzinsung wieder aus der Welt verschwinden. Schließlich sollen mit Krediten erweiterte Geschäfte in Gang gesetzt werden. Solange die gelingen, gebietet die ‚wirtschaftliche Vernunft‘ dem Gläubiger, mit seinen Krediten in diesem Geschäft drinzubleiben. Und dieses Gebot gilt allemal, wenn ein ganzer Staat sich verschuldet und seine Ökonomie vom Kredit anderer Nationen abhängig macht. Damit begibt dieser Staat sich nämlich auf den Weg, mit Land und Untertanen zu einem einzigen Großprojekt für fremdländische Investoren zu werden: zur dauerhaften Anlagesphäre. Die unmittelbare geschäftliche Nutzung einer Herrschaftssphäre und ihrer Leute bietet da die Gewähr für die wirtschaftliche ‚Gesundheit‘ auswärtiger Kredite in ziemlich beliebiger Höhe: Wie sollte eine Volkswirtschaft ihre Kreditwürdigkeit für westliche Geschäftsleute verlieren, wenn die selber dabei sind, diese Volkswirtschaft zur Unterabteilung ihrer eigenen Unternehmungen zu machen? Eben das soll nun allerdings fürs Ostgeschäft und die entsprechende Herrichtung der Länder des ‚realen Sozialismus‘ nicht gelten: so lautet die Botschaft, die der Versailler Weltwirtschaftsgipfel unter ‚Drittens‘ an seine Geschäftswelt gerichtet hat. Dieser ist kein (bloß) quantitativer Maßstab gesetzt, wenn von den Chefs ihrer Länder auf eine ‚vernünftige‘ ‚Begrenzung der Ausfuhrkredite‘ gedrungen wird, sondern eine prinzipielle Betrachtungsweise: der Abschied von der Kalkulation mit dem Ostblock als kapitalistische Anlagesphäre vorgeschrieben; die Kredite schrumpfen damit ganz von selbst auf das Maß, in dem die Gläubiger mit einer nicht durch Kredit ausgeweiteten Zahlungsfähigkeit ihrer Schuldner rechnen. Mehr noch: Die ‚kommerziell‘ einzig ‚vernünftige‘ Parole lautet unter dieser neuen Voraussetzung, sich an den Schuldnerländern nach Kräften schadlos zu halten; denn wenn es einmal nicht mehr um die Ausweitung der ‚realsozialistischen‘ Staatsschulden im Westen geht, dann steht ja tatsächlich deren Begleichung an und damit eine ganz neue, sonst nur aus Konkursverfahren bekannte Konkurrenz der Kreditgeber. Sehr logisch fügt sich so der unter ‚Zweitens‘ mitgeteilte Beschluß ein, diese Konkurrenz nicht einfach über die Ausplünderung des jeweiligen Schuldnerstaates abzuwickeln, sondern zugleich untereinander in dieser Frage ‚in Fühlung‘ zu bleiben.
Der Zweck des Ganzen ist unter ‚Erstens‘ sowie mit dem Verweis auf die ‚politischen und sicherheitspolitischen Interessen‘ der Gipfelstaaten deutlich genug - und doch erst nur zur Hälfte angegeben. Hinreichender Grund dafür, nicht länger auf eine über den Kreditüberbau voranschreitende Subsumtion der östlichen Planwirtschaften unter den Akkumulationsprozeß westlicher Kapitale zu setzen, ist die mit dem bloßen Verweis auf Polen hinreichend belegte Tatsache, daß der feindliche Block trotz allem nicht gewillt ist, die politische Identität aufzugeben, um derentwillen die NATO ihn zum Feind und Sicherheitsrisiko Nr. i erklärt hat. Gelogen ist es allerdings, wenn der Beschlußtext so tut, als ginge es bei der neu erweckten sicherheitspolitischen ‚Vorsicht‘ bloß um das unschuldige Anliegen, dem Feind nicht auch noch die technischen Möglichkeiten und ökonomischen Mittel für eine erfolgreiche Fortführung seiner Gegnerschaft zu überlassen bzw. zu beschaffen, noch dazu auf Pump.
Volkswirtschaften, deren Subsumtion unter die Erfordernisse und Forderungen erfolgreicher Kreditgeschäfte des Auslands mit ihnen schon so weit fortgeschritten ist wie im Falle der meisten ‚Ostblock-Länder, mit der Aussicht auf die - und das heißt in diesem Geschäftszweig: mit der - Beendigung ihres Kredits zu konfrontieren, bedeutet nicht das Ende der ‚Hilfe‘, sondern läuft auf die Lahmlegung ganzer Branchen, eine der Plünderung der letzten Reserven gleichkommende Erpressung mit der drohenden Zerstörung der gesamten Nationalökonomie und einer schweren Schädigung des gesamten gegnerischen Wirtschaftsbündnisses hinaus. Dies um so mehr, als es sich bei den kreditunwürdig erklärten Schuldnern nicht um kapitalistische Unternehmungen handelt, deren Schädigung nach allen Regeln der Krise und ihrer Bewältigung über Konkurs und Kapitalentwertung zum Ruin der Arbeiter und zur Neueröffnung des Geschäfts unter geänderten Konditionen führt, sondern um eine ‚Planwirtschaft‘, die ihre Betriebe auf die Erfüllung festgelegter Ertragsziele verpflichtet, davon auch abhängig macht und so die ruinöse Verallgemeinerung jeder von außen bewirkten Schädigung garantiert.
Daß die Teilnehmer des Weltwirtschaftsgipfels in Versailles sich über diese Wirkungen ihres Beschlusses getäuscht, die Ideologie vom Kredit als Hilfe ausgerechnet im Falle der Sowjetunion und ihrer Verbündeten ernstlich geglaubt haben sollten, ist kaum anzunehmen. Dem amerikanischen Präsidenten jedenfalls muß die Schädigung der Sowjetunion als Zweck des Beschlusses klar genug gewesen sein; mit dem Verbot, Bohr- und Transportgerätschaften für die Realisierung der Erdgaslieferkontrakte der Sowjetunion mit Westeuropa und Japan zu liefern, Patente und Lizenzen dafür zu nutzen, hat er den folgerichtig nächsten Schlag gegen die internationale Zahlungsfähigkeit des ‚realsozialistischen‘ Gegners gefühlt. Und die Beschwerden der betroffenen Partner, die USA handelten damit gegen die Vereinbarungen von Versailles, lassen nichts von der enttäuschten Gutgläubigkeit naiver Freunde erkennen - dafür um so mehr diplomatische Heuchelei vom Standpunkt der geschädigten Erfüllungsgehilfen, die zum wenigsten auf einer allmählichen Liquidierung ihres Ostgeschäfts ohne allzu große Abschreibungsverluste bestehen. Die Dummheit der ‚Argumente‘, die in dem anschließenden bündnisinternen Streit um Berechtigung und Nutzen von über die neue Kreditpolitik hinausgehenden Boykottmaßnahmen des Westens ausgetauscht wurden - die amerikanischen Getreideverkäufe an die Sowjetunion, von westeuropäischen Politikern und Kommentatoren als verräterische Inkonsequenz im harten Kurs der US-Regierung gerügt, werden von amerikanischer Seite mit dem Verweis auf den Schaden gerechtfertigt, der dem Feind aus einem direkten Geldabfluß für bloß konsumtive Zwecke erwüchse; mit der umgedrehten Rechnung, die Sowjetunion hätte kaum eine Chance, ihrer Deviseneinnahmen aus dem Erdgas-Röhren-Geschäft mit Westeuropa und Japan recht froh zu werden, wird seitens der europäischen Partner das Festhalten an diesem Unternehmen begründet, das eine letzte Chance auf eine reguläre Schadloshaltung für die von Verfall bedrohten Milliardenkredite an den ‚Ostblock‘ bietet -, bezeugt denn auch deutlich genug, daß es dabei in der Sache um nichts anderes geht als um unterschiedliche Strategien und die entsprechende Verteilung der Unkosten eines schrittweise eskalierten Wirtschaftskriegs gegen das feindliche Bündnis. Unterdessen bemüht sich die Sowjetunion um die selbständige Fertigung der nötigen Turbinen und Röhren, weil sie mit dem Schlimmsten rechnen muß. Und die Streitigkeiten unter den westlichen Partnern gehen munter weiter, bis ihr Gegenstand zur allgemeinen Selbstverständlichkeit geworden ist und die nächste Eskalation in der Hauptsache vereinbart wird - deren Durchsetzung erfolgt dann über erneute Zwistigkeiten. Von den Chancen des Osthandels redet dann niemand mehr.
3.5 Polen: Eine Fallstudie über die Segnungen von Osthandel und ‚Entspannung‘
1. Hätten die polnischen Arbeiter bei ihrem Aufstand gegen ihre revisionistische Staatsgewalt konsequent auf ihren Lebensstandard geachtet, sie hätten sich auf alle Fälle eines erspart: die berechnenden Sympathien der ‚freien Welt‘. Sie hätten ja glatt einige ziemlich prompte Umstellungen in Sachen Export von Lebensmitteln und Kohle durchsetzen müssen; um die Planung ihrer Wirtschaft, einschließlich des hartnäckigsten Refugiums kleinbäuerisch-vorkapitalistischer Warenproduktion, des Agrarsektors, wären sie nicht herumgekommen; sie hätten praktisch ernst machen müssen mit dem Spruch, den nun ausgerechnet die politischen Repräsentanten eben jenes Kapitals im Munde führen, deren Krediten die polnische Staatsführung sich so bedingungslos verpflichtet weiß: die Polen wären ‚selbst in der Lage, mit ihren‘ - eben: mit ihren ‚Problemen fertigzuwerden‘. In praktischer Nutzanwendung mancher guter Ratschläge Lenins hätten sie sich so, notgedrungen, der materiellen Grundlage eben jener Staatsgewalt bemächtigt, die Land und Leute so komplett politisch an den Osten, ökonomisch an den ‚freien Westen‘ verpfändet hat und nie ein Problem damit hatte, beiden Verpflichtungen abwechselnd und gleichzeitig gerecht zu werden - unter Einsatz ihres Proletariats als Manövriermasse. Nicht nur dem ‚Ostblock‘ wäre ein ausnutzbares Volk abhanden gekommen; auch im ‚freien Westen‘ hätten sehr rasch die auch jetzt schon immer mal wieder laut gewordenen Beschwerden über eine zu große ‚Streiklust‘ der Polen und eine deswegen zu geringe Zuverlässigkeit der polnischen Geschäftspartner die begeisterte Kampfberichterstattung von den Gottesdiensten an der Streikfront abgelöst. Die Care-Pakete westlicher ‚Hilfsorganisationen‘ - bei denen man immer so aufpassen muß, daß keine polnischen Billigkonserven aus dem Supermarkt dazwischengeraten - wären weder nötig noch willkommen gewesen; aufgeklärte polnische Grenzbeamte hätten sie gleich an die rührenden westdeutschen Großbanken umadressiert - drum wären sie auch gar nicht erst abgeschickt worden. Kurzum: Es wäre eine Revolution daraus geworden! Ein Exempel für jenen ‚Dritten Weg‘, der auf gar keinen Fall und von keiner Seite erlaubt ist, weil er die stillschweigende, bei aller Ungleichgewichtigkeit doch einvernehmliche ‚Arbeitsteilung‘ zwischen dem Imperialismus und seinem in jeder Hinsicht so passenden Hauptfeind in der Benutzung der Welt angreifen würde.
In Wirklichkeit haben die polnischen Arbeiter mit ihrem Aufstand zu ihrem Schaden ein weiteres Beispiel dafür geliefert, wie wenig verbreitet der Materialismus gerade unter den Opfern von Ausbeutung und Staatsgewalt ist - im Gegensatz zu denen, die die drückende Verantwortung für das Gelingen von Gewalt und Ausbeutung tragen. Materielle Not bei gleichzeitiger ausgiebiger Benutzung ihrer Arbeitskraft in den Kohlengruben, Werften, Traktorfabriken usw. der Nation - es ist ja keineswegs so, daß es Polen an Produktionsmitteln fehlte: irgendwo stehen ja die Sachen herum, die das Land zur zehntgrößten ‚Industrienation‘ der UNO-Statistik machen! - war ihnen nicht mehr und nicht weniger als ein Anlaß, ihren moralischen Nationalismus gegen die eigene Regierung und deren offizielle auswärtige Garantiemacht zu mobilisieren. Als guten Katholiken, die es für den zweitgrößten Ehrentitel der Jungfrau Maria halten, die insgeheime ‚Königin Polens‘ zu sein, ist diesen Volksgenossen die Unterscheidung zwischen der staatlichen Gestalt und einer eingebildeten ‚wahren Natur‘ ihrer Nation geläufig und die in jedem halbwegs intakten Nationalstaat strikt verbotene Vorstellung vertraut, es gäbe einen Auftrag und ein Recht des polnischen Volkes über den politischen Programmen der Staatsgewalt - die schon allein deswegen den Geruch der ‚Fremdherrschaft‘ nie ganz los wird. Vom Standpunkt dieser Ideologie aus wird ein Mangel an wichtigen Volksnahrungsmitteln ohne Zweifel etwas sehr Ehrwürdiges, nämlich ein Beweismittel für das Versagen der Regierung vor dem Ideal eines besseren, weil wahren, weil ganz nationalen und ganz frommen Polen, und eine Revolte dagegen ebenfalls etwas höchst Würdevolles, nämlich ein Kampf um die tiefere Bedeutung von Schweinefleisch und Mastgänsen. Vom Standpunkt der zu beseitigenden Not aus betrachtet ist diese national-moralische Verklärung eines materiellen Anliegens allerdings höchst fatal; denn fortan dreht sich der Streit mit der Staatsgewalt sehr folgerichtig nicht mehr um ihre Beseitigung, sondern um ihre Interpretation. Schon im Kampf um ihre Zulassung als autonome Gewerkschaft ist es der aufständischen Arbeiterbewegung um nichts so sehr gegangen wie um Eingeständnisse von Fehlern und Verfehlungen auf Regierungs- und Parteiseite, um die Entlarvung und Entfernung von der Unfähigkeit und Korruption verdächtigen Figuren; durchaus handfest und radikal wurde im Namen des wahren nationalen Heils die Schuldfrage bezüglich der gegenwärtigen Kalamitäten gestellt und entschieden. Und darin hat die revisionistische Staatsführung, obwohl gerade dazu gezwungen, mit der Legalisierung der ‚Solidarität‘ ihre Lebenslüge von der praktisch hergestellten Einigkeit von Arbeitsvolk und sozialistischer Obrigkeit offiziell in Wort und Tat zu widerrufen, ihre Chance wahrgenommen. Das offenherzige Zugeständnis von jeder Menge ‚Mißwirtschaft‘, die Preisgabe verhaßter Prominenz, die beschleunigte Zirkulation von höheren Partei- und Staatsämtern, das alles erbrachte den ‚Beweis‘, daß Schuld und Sühne eine Sache, die ökonomischen ‚Sachzwänge‘ eine andere sind - allerdings so, daß die letzteren, die von den Sachwaltern der polnischen Ökonomie geschaffenen Notwendigkeiten, als unbedingt zu würdigende Tatsachen stehenblieben. Die rebellischen Arbeiter bekamen ihre Siegesfeier, einschließlich der nötigen Denkmäler für die Opfer, die alle großartigen ‚Freiheitsrechte‘ kosten, gleich im Anschluß an die Zulassung ihrer Gewerkschaft; sie bekamen sie in Form eines Hoheitsaktes, zu dem die Staatsführung zufrieden vermerken konnte, daß die ‚Zwischenfälle‘ ausblieben, auf die westliche Kamerateams so sehnsüchtig warteten; und sie honorierten diese ‚Selbstdemütigung‘ ihrer Obrigkeit mit sehr viel Verständnis dafür, daß die Akkumulation nationalen Reichtums inmitten des RGW und mit einem riesigen Schuldenberg aus dem so segensreichen Westgeschäft kostspielige Konzessionen an die Arbeiter verbietet, im Gegenteil mehr denn je durch den Angriff auf die Konsumtion des ‚werktätigen Volkes‘ zu bewerkstelligen sei. Die Alternativvorschläge, die der Gewerkschaftsführung dazu einfielen, blamierten sich nicht bloß durch ihre komplette Ahnungslosigkeit bezüglich der Voraussetzungen und Verlaufsformen beider Sorten Ausbeutung (‚Wir wollen aus Polen ein zweites Japan machen!‘), sondern waren überdies alle in der Voraussetzung mit der Regierung einig, daß bis auf weiteres um mehr Arbeit und größeren Mangel nicht herumzukommen sei, um Ruf und Rang Polens wieder zu festigen.
Dieses Einverständnis zum Schaden der Arbeiterklasse bedeutete andererseits keineswegs einen Friedensschluß zwischen der revisionistischen Staatsgewalt und ihrer ganz und gar systemwidrigen Opposition. Im Gegenteil: Eben weil der Streit um die bessere Sachwaltung der Interessen der polnischen Nation geführt wurde, und zwar zwischen einer Regierung, die ihre Macht der Tatsache verdankt, daß die polnische Souveränität ganz wesentlich auf einem sowjetischen Machtspruch sowie dem westlichen Interesse an einem regierenden Geschäftspartner beruht, und einer Opposition, die die gleichzeitige Abhängigkeit der polnischen Staatsgewalt von ihren Untertanen zur Geltung bringt, war sein Prinzip ein wechselseitiges Mißtrauen, das durch keinen denkbaren Kompromiß auszuräumen war. Und weil es der Gewerkschaft um das Freiheitsrecht ging, sich als Sprecher des polnischen Volkes anerkannterweise Geltung zu verschaffen, war auch von ihrer Seite her garantiert, daß die materiellen Anlässe für Unzufriedenheit und Aufruhr sich immer wieder erneuerten: auch sie hätte es ja, und zwar über alle ‚Flügel‘ hinweg, für einen Mißbrauch der ihr zugestandenen Freiheit gehalten, wenn sie diese kompromißlos zugunsten des proletarischen Lebensstandards benutzt hätte, und legte größten Wert einzig darauf, daß die Regierung vor jeder Maßnahme zur ‚Sanierung‘ Polens ihre Zustimmung einholte. Es war ein Kampf ohne klar definiertes Ziel, weder ein kompromißfähiger noch ein kompromißloser, den die ‚Solidarität‘ führte; oder anders: Der Streit selbst, die beständige formelle Infragestellung und Relativierung der Souveränität ihrer Regierung, das dauernde Neu-Aufwerfen der ‚Machtfrage" in ihrer ganzen Abstraktheit war einziger Inhalt der Kämpfe, die die Gewerkschaft im ganzen Land ununterbrochen führte und die von Anfang an die gewaltsame ‚Rettung der Nation‘, womöglich durch einen sowjetischen Einmarsch, auf die Tagesordnung setzten.
Dabei sollte man einem Gerücht allerdings keinen Glauben schenken, nämlich dem, es ginge bei all dem um eine von der Basis her ins Werk gesetzte, rundherum gelungene polnische Demokratie. Gewiß, um Freiheiten ist es einem katholisch-gewerkschaftlichen Aufruhr schon zu tun - in der ganzen negativen Bedeutung dieser Angelegenheit: Materialistisch will man nicht sein, auch wo man eine bessere Fleischversorgung und billigere Tabakwaren fordert, sondern ernsthaft gefragt werden, ob man die nationale Notwendigkeit des Fleischmangels und der Tabakbesteuerung auch autonom akzeptiert; Stolz und Anspruch auf Gerechtigkeit, nicht einfach Wohlergehen sind Grund und Zweck dieser Rebellion, die sich deswegen auch so leicht für die klassischen Ideale der bürgerlich-demokratischen Volkssouveränität gewinnen ließ. Bloß: Seit wann wäre das denn ein Merkmal durchgesetzter Demokratie, daß ein Volk seiner Regierung ständig mit seinem Mißtrauen in die Quere kommt, sämtliche legalen Personalentscheidungen über die betriebliche wie zivile Verwaltung effektiv kontrolliert und jederzeit zurückweisen können will, einseitige und tendenziöse offizielle Berichterstattung über wichtige Gewerkschaftsangelegenheiten mit einem Druckerstreik quittiert, die wichtigsten Herrschaftsmechanismen zur Disposition gestellt haben will? Der Parteitag der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) Mitte 1981 wurde als unglaublicher Sprung von Kommunisten ins kalte Wasser innerparteilicher Demokratie kommentiert; bloß: seit wann wäre es denn beispielsweise auf den Parteitagen der demokratischen Parteien Westdeutschlands üblich, daß die Parteirührung durch das Kräfteverhältnis der verschiedenen Fraktionen nicht durchblickt und noch nicht einmal vorher feststeht, wer zum neuen Vorsitzenden gewählt wird? Seit wann werden denn Korruptionsvorwürfe gegen führende Staatsmänner und leitende Funktionäre einer staatstragenden Partei von einer freien demokratischen Öffentlichkeit nicht bloß kolportiert - schon das geschieht in liberalen bundesdeutschen Zeitungen nie ohne die ernste Mahnung, daraus dürfte aber um Gottes willen keine Unzufriedenheit entstehen, und der eigentliche Skandal sei die Gefahr, daß daraus ein Argument für ‚Staatsverdrossenheit‘ gemacht werden könnte! -, sondern bis zur ‚Bestrafung der Verantwortlichen‘ unerbittlich weiterverfolgt? Was wäre in einer Demokratie wie der ,; bundesdeutschen denn fällig, wenn eine Gewerkschaft eigene Sendezeit im Fernsehen beanspruchen und ihrerseits die offiziellen Berichterstatter ausschließen würde; wenn Gerichtsurteile oder Regierungsverordnungen unter Streikdrohung zurückgewiesen würden; wenn auf Gewerkschaftstagen die Forderung nach Freilassung erklärter und ‚rechtskräftig verurteilter‘ Staatsfeinde laut würde? Schon ein Bruchteil des Widerstandes, den die ‚Solidarität‘ gegen die polnische Regierung praktizierte, hätte in einer funktionierenden Demokratie im Nu die Ausrufung des inneren Notstandes zur Folge gehabt - in Polen gab die aus ebenso guten Nationalisten zusammengesetzte Regierung teils nach, startete andererseits ihrerseits Offensiven gegen die Machtpositionen der autonomen Gewerkschaft, ließ sich also in einer Art nationaler Kumpanei mit ihrem Gegner in einer Situation, die in westlichen Ländern viel eher einem verantwortungsbewußten Offizierscorps den Plan eines Staatsstreichs zur Rettung der Nation eingegeben hätte, auf ein beständiges Hin und Her von Erpressung und Gegenerpressung mit ihrem oppositionellen Volk ein.
2. Daß unter westlichen Beobachtern der polnische Daueraufstand als ein Um-sich-Greifen demokratischer Verkehrsformen im Staat interpretiert wurde, hatte denn auch meist handfestere Gründe als eine sachgerechte ‚Lageanalyse‘. Vater des Gedankens war der westliche Beschluß, die Schwierigkeiten, die die aufsässigen Polen ihrer Obrigkeit bereiteten, als weltpolitischen Hebel für die Sache der imperialistischen Demokratie zu benutzen. Die Auffassung, durch ausländische Kredite würde eine revisionistische Planwirtschaft in ihren Zielsetzungen gefördert, einst von rechtsdemokratischer Seite mit Hinweis auf die angebliche Erleichterung östlicher Aufrüstungsprogramme als erbitterter Vorwurf gegen das Geschäft >Aussiedler gegen Leihkapital vorgebracht, hat sich noch selten so massiv und offenkundig blamiert wie im Fall der Volksrepublik Polen. Für deren Nationalökonomie sind über 40 Milliarden Dollar Westschulden eine Last, deren pünktliche Verzinsung, geschweige denn vertragsgemäße Tilgung nur noch durch neue Schulden zu bewältigen ist. Nach den Kriterien des internationalen Geschäftsverkehrs wäre hier eigentlich längst eine durchgreifende ‚Sanierung‘ nach IWF-Richtlinien fällig, die Fortentwicklung eines Landes von einem Kreditnehmer, der es auch mit partiell modernisierten Produktivkräften nicht zu einer effektiven Ausbeutung seiner Arbeiterklasse bringt, zur freien Anlagesphäre für Kapitale, die die werktätige Bevölkerung, einschließlich des rückständigen Bauernstandes, einmal gründlich aufmischen, in nützliche und unbrauchbare Fraktionen auseinandersortieren und aus der gesteigerten Armut einen unverhältnismäßig mehr gesteigerten akkumulationsfähigen Reichtum abpressen. Genau da stößt die ökonomische Logik allerdings auf die Schranke der politischen Zuständigkeiten. Polen ist nicht zu behandeln wie ein slawisches ‚Entwicklungsland‘; selbst wenn eine polnische Regierung der ehemaligen sozialistischen Brudernation China auf diesem Weg folgen wollte, stünde hier der Anspruch der Sowjetunion im Weg, die Staatsgewalt in Polen für sich als Bündnispartner zu erhalten und nicht (vollends) zum politischen Sachwalter westlicher Geschäfte werden zu lassen.
Umgekehrt läuft das nun allerdings: Der polnische Schuldenberg ist per se eine weltpolitische Größe ersten Ranges. Einfach dadurch, daß die herrschenden weltpolitischen Zuständigkeiten seiner ökonomisch eigentlich ‚sachgerechten‘ Behandlung widersprechen, stellt er auch andersherum die definitive Zugehörigkeit Polens zum ‚sozialistischen Lager‘ materiell in Frage. Mit ihrer ‚großzügigen‘ Kreditierung der polnischen Staatswirtschaft haben die imperialistischen Nationen tatsächlich in einem solchen Umfang ihren Reichtum zur Grundlage jenes Staates und seiner Ökonomie gemacht, daß deren weitergehende, auch politisch unwiderrufliche Funktionalisierung für eine gründliche westliche ‚Kapitalhilfe‘ eigentlich ansteht. Die Konsequenzen der Verhinderung dieses Übergangs sind entsprechend verheerend. Geradezu wie in einer kapitalistischen Krise, wo die Zahlungsunfähigkeit an einem Punkt die einer anschwellenden Zahl kreditsuchender und kreditierter Unternehmen nach sich zieht, bis die Produktion selbst an den Rand des Erliegens gerät, zieht in Polen der Mangel an Produktionsmitteln in dem einen Betrieb die Unverwendbarkeit der Produkte anderer, das Zurückgehen des Exports ein Ausbleiben unabdingbarer Importe und verschärften Mangel an Produktionsmitteln nach sich; bloß: während eine kapitalistische Krise die Startchance für die potentesten Kapitale ist, führt die Auflösung des staatlichen Wirtschaftsplans in Polen in gerader Richtung auf einen ökonomischen Zusammenbruch zu: den seltenen Zustand, daß vorhandene Produktionsmittel und Arbeitskräfte überhaupt nicht mehr zweckdienlich nach Maßgabe der nach wie vor herrschenden Zwecksetzungen zusammenzubringen sind. Die Gläubigerstaaten und ihre engagierten Geschäftsbanken behandeln Polen demgemäß wie einen Konkursbetrieb, lassen die Regierung ihr Geschäftsgebaren im Innern und ihre Geschäftsverbindungen nach außen rückhaltlos offenlegen - und nehmen mit der größten Kaltschnäuzigkeit, gewissermaßen als den hauptverantwortlichen Gesellschafter eines Bankrotteurs, die Sowjetunion als ökonomischen Bürgen der polnischen Zahlungsfähigkeit ins Visier. Ihre fortdauernde politische Zuständigkeit für die Zwecke und Vorhaben der polnischen Staatsgewalt muß die Sowjetunion sich so dadurch erkaufen, daß sie - allenfalls der Form nach noch als Kredit, in Wahrheit als auf immer verlorenen Zuschuß - mit ihren ohnehin viel zu knappen Devisenbeständen für jene Zahlungsverpflichtungen Polens einsteht, zu deren Stundung die westlichen Gläubiger sich nicht bereitfinden; daß sie mit massiven Hilfen aus ihren ohnehin zu knappen Lebensmittelbeständen die Fortführung des polnischen Agrarexports zur Begleichung fälliger Zinsen und Tilgungsraten ermöglicht; desgleichen mit Energielieferungen den Kohleexport usw. Und das alles noch nicht einmal mit dem Effekt, daß sie sich dadurch wenigstens die materielle Zuständigkeit für das ökonomische Schicksal ihres Bündnispartners zurückkauft, sondern nur, um die Präsentation der fälligen ‚Konkursrechnung‘ eine Zeitlang aufzuschieben - daß die polnische Nationalökonomie in absehbarer Zeit auch mit noch so starker sowjetischer Hilfe ihrem Schuldenberg gewachsen sein könnte, kann keiner der Beteiligten ernsthaft annehmen. So bleibt garantiert, daß allein der ganz geschäftsmäßig kalkulierte und bewerkstelligte ökonomische Vorteil westlicher Kapitale - Zinsen und Tilgungsraten werden ja nicht gestrichen, und westliche Kaufleute und Abnehmer setzen die höchst rentablen Geschäfte mit Billigkohle und Billignahrungsmitteln aus polnischen Landen so lange fort, bis es plötzlich unmöglich gemacht wird! - gleichzeitig eine politische Infragestellung und eine massive ökonomische Schädigung der sowjetischen Macht in ihrem osteuropäischen Zuständigkeitsbereich bewirkt; und die Kredite zur Umschuldung der polnischen Verpflichtungen tun ihre Wirkung als ‚Hilfe‘ für bleibende Instabilität.
3. Da die Politiker aus den Reihen der Partei eine Wiederherstellung des untertänigen Vertrauens zu ihren Regierungsfiguren nicht zustande brachten, haben die Militärs die ‚Konsequenz‘ gezogen und das Machtmonopol einer polnischen Regierung gesichert. Durch ihre Gewalt haben sie dem Machtkampf zwischen Staatspartei und Gewerkschaft, der zur Dauereinrichtung geworden war, ein vorläufiges Ende bereitet. Mit der Präsenz von Soldaten und Waffen an allen Ecken und Enden, durch die Internierung von Oppositionellen und die exemplarische Bestrafung von ‚Rädelsführern‘ ist es dem General Jaruzelski und den Seinen gelungen, für ‚Ruhe und Ordnung‘ zu sorgen. Die für die Parteien des realen Sozialismus so unverzichtbare ‚führende Rolle in Staat und Gesellschaft‘ ist damit an das Machtinstrument des Staates übergegangen; die Untertanen wurden unmittelbarer Gewaltanwendung ausgesetzt und erhielten das trostlose Versprechen von oben, daß ihnen das Diktat des Militärs genau in dem Maße erspart würde, wie sie es durch ihren Gehorsam überflüssig machten.
Mit diesem Schritt erklärten die Militärs den Versuch für gescheitert, über Ämterrotation und Zugeständnisse von allerlei Reformen das unbotmäßige Volk zu befrieden; einen Versuch, der zudem in Moskau nur Zweifel weckte an der Verläßlichkeit der polnischen Parteiführung. Sie reagierten damit auch auf die ökonomischen Störungen, die das Produktions- und Verteilungsgefüge so gut wie zum Erliegen brachten. Mit dem Hinweis auf einen drohenden russischen Einmarsch, der eine echt polnische Souveränität auf absehbare Zeit hinfällig machen würde, legitimierte Jaruzelski den Ausnahmezustand ebenso wie mit der Not des Volkes, die er dem ‚Chaos‘ zuschrieb, dem ein Ende bereitet werden müsse.
So sollte ausgerechnet durch das Kriegsrecht dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis und dem aufständischen Patriotismus Genüge getan werden; ausgerechnet die Unterdrückung sollte als Gewähr für künftige Versorgung mit dem längst nicht mehr vorhandenen Notwendigen wirksam werden! Warum aus diesem Vorhaben nichts geworden ist, dafür aber aus Polen ein ‚weltpolitischer Krisenfall‘ und ‚Konfliktherd‘, ist angesichts der Beteiligten nicht schwer auszumachen.
Zunächst einmal leidet die Betörung des eigenen Volkes durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes einigermaßen darunter, daß das Volk unter dem Kriegsrecht leidet und nichts mehr darf. Überzeugend ist daher auch nicht der Verweis darauf, daß immerhin ein General des eigene‚Militärs, also ein Pole, den Zwang verabreicht - spätestens seine erste diplomatische Begegnung mit der sowjetischen Regierung gilt als Beweis dafür, daß er den Einmarsch der allen Patrioten so verhaßten Schutzmacht nicht verhindert, sondern ersetzt hat. Als Statthalter der Gewalt gilt er, deren Wirken er überflüssig zu machen vorgibt.
Damit ist auch schon sein Scheitern in Sachen ‚Erneuerung‘ vorgezeichnet. Denn im Unterschied zu den Militärdiktaturen der freien Welt ist das Programm der ‚polnischen Rettung‘ per Gewalt angewiesen auf das Mitmachen des Volkes, und zwar auf ein Mitmachen durch Leistung. Es ist eben nicht damit getan, daß Polizei und Justiz für die Festsetzung von Oppositionellen sorgen - der polnische Staat beruht nämlich auf der ökonomischen Benutzung seines Volkes, von dessen Mehrprodukt er seinen Unterhalt wie den bescheidenen der Leute abhängig macht. Während so manche lateinamerikanische Diktatur Land und Leute den Bedürfnissen auswärtigen Kapitals und den dazugehörigen politischen Interessen unterwirft und dabei auf ein Gutteil ihrer Untertanen ‚verzichten‘ kann, was ihren Einsatz und ihre Erhaltung als Arbeitskräfte angeht; während solche Militärregimes für die von ihnen gesicherte Ordnung in ihren nationalen Armenhäusern wie für ihre strategischen Dienste von demokratischen Wirtschafts- und Militärmächten Kredit und Waffen erhalten, ist Polen eine Nation, die von der in ihr stattfindenden Reichtumsvermehrung lebt. Auf der Grundlage dieser Produktion ist Polen sowohl Partner des RGW als auch des osthandelnden Westens. Und um die Brauchbarkeit dieser Grundlage ist es den Militärs zu tun, wenn sie zur ‚wirtschaftlichen Reform‘ aufrufen. Für notwendig befinden sie den geregelten Gang des Arbeitslebens in ihrem Land, weil anders keine der außenwirtschaftlichen Verpflichtungen einzuhalten ist und mit dem Stocken der internationalen Beziehungen umgekehrt einiges an Mitteln fehlt, um auch nur die elementarste Versorgung der einheimischen Betriebe zu gewährleisten. Für die Unlösbarkeit dieses Zirkels steht mit äußerst gutem Gewissen der freie Westen ein, von dessen Wohlwollen das Gelingen des Notstandsprogramms nach Jahren gedeihlichen ‚friedlichen Austausches‘ abhängt. Denn die außenhandelsbeflissene Verwendung von Konsumtionsmitteln -die als ‚Versorgungskrise‘ den materialistischen Anlaß des Volkszorns lieferte - und Bodenschätzen und die ‚Modernisierung‘ der polnischen Produktion durch Importe aus dem Westen haben eben dafür gesorgt, daß Polen auf westliche Kredite ebenso angewiesen ist wie auf die Einfuhr von Maschinenteilen und Werkstoffen. Da es die erforderlichen Produktionsmittel nicht bezahlen kann und bereits über eine ansehnliche Schuldenlast verfügt, sieht sich das Land mit den Berechnungen seiner westlichen Partner von gestern konfrontiert, die sich gewaschen haben.
Mit der geballten Freiheitsliebe von Menschenrechtskämpfern beobachten westliche Pressemannschaften den vergeblichen Versuch, den der General da zur Rettung der Nation unternimmt: ein Militärregime geht das von ihm geschundene Volk um vertrauensvolle Zusammenarbeit an, eine ‚Junta‘ heischt nach Zustimmung und Mitwirkung in Sachen nationaler Eintracht! Seit den ersten Tagen des Kriegsrechts weiß der oberste Kriegsrechtsherr samt seinen Getreuen öffentlich, daß ohne die ‚Solidarität‘ - und das sind viele - kein Staat zu machen geht, keine ‚Erneuerung‘ läuft; so daß für den Fall, daß mit ihr auch nichts geht, die Konsequenz ihrer Ausschaltung in Aussicht steht. Um die Gewerkschaft wird geworben mit dem Angebot, ihre Politik werde gemacht soweit wie möglich - falls sie das zugestandene Existenzrecht nicht dazu mißbrauchen würde, Streikaktionen zu unternehmen, ‚die die Wirtschaft schwächen oder ausschließlich politische Ziele verfolgen‘. Alle nur erdenklichen Konstruktionen werden vorgeschlagen, um eine konstruktive Beteiligung von Leuten herbeizuführen, die der Kirche und Gewerkschaft verbunden sind. Regimefeindliche Demonstrationen werden zumeist ‚tolerant‘ behandelt, selbst wenn sie nicht einmal den - in Demokratien übrigens gar nicht harmlosen - Anmeldepflichten und Auflagen nachkommen. Westliche Journalisten dürfen über Techniken und Personal der Zensur kilometerlange Filmstreifen drehen, die dann im Ausland mit empörendem Tonfall als Belege für das ‚bedrückende Klima‘ vorgezeigt werden. In bezug auf die Zustände in den Internierungslagern tun sich die Verfasser von Schreckensnachrichten offensichtlich schwer, den angestrebten KZ-Effekt zu erzielen. Schach und Halma spielende Gefangene - die zwar alles andere nicht dürfen -sind nämlich mit der prinzipiellen Wucht der Kritik, auf die es so sehr ankommt, kaum zu vereinbaren. Die Vorführung polnischen Unrechts soll ja immerhin die jedermann einsichtige ‚Begründung‘ für die praktischen Schritte liefern, durch die die Sachwalter der Freiheit ihr eigentümliches Interesse an Polen geltend machen.
4. Und das liegt nun einmal nicht in der selbstgenügsamen Beschwörung des Gefühls des Mit-Leidens, wie es Ronald Reagan in einer ‚Polen-Tag‘ genannten Gemeinschafts-Show mit Frank Sinatra und Helmut Schmidt so vortrefflich demonstrierte. So wie die ersten Tage des Arbeiteraufstandes als Erfolg der eigenen Sache im Lager des weltpolitischen Gegners gefeiert wurden - was schon damals nicht zu verwechseln war mit einer Meldung über den Erfolg polnischer Arbeiter -, galt es nun, die Destabilisierung Polens in die größtmögliche Schädigung zu überführen. Der Kredit, um den polnische Emissäre im Westen nachsuchten, wurde mit dem Hinweis auf das Militärregime ausgeschlagen. Dem Osten wurde beschieden, das nötige Geld zur Tilgung der Schulden zusammenzukratzen; und aus dem Anspruch, die Sowjetunion hätte für ihren ruinierten ‚Satelliten‘ zu haften, wurde das Recht auf‚Bestrafung der Sowjetunion".
Einer Beteiligung an der ‚Rettung Polens‘, wie sie General Jaruzelski im Auge hat, wollen sich westliche Regierungen auf keinen Fall schuldig machen. Was ihnen bei verbündeten Nationen so locker gelingt - die Mahnung zu einer ‚Rückkehr zur Demokratie‘, die Hoffnung auf des Volkes ‚Reife‘ für dieselbe, die ‚Vorsicht‘ bei Repressionen, die doch allemal das gebeutelte Volk nur noch härter treffen würden —, scheint ihnen im Falle Polens nicht am Platze. Hier weiß man den Gegensatz von Volk und Staat zu würdigen. Einerseits hat man in den weltwirtschaftsbeflissenen Kreisen der EG durchaus Vorstellungen darüber auf Lager, wie aus Polen eine dauerhafte Anlagesphäre zu machen wäre - eben nach dem Muster anderer verschuldeter Staaten, deren Bilanzen den Übergang zur Betreuung ihrer Wirtschaft durchs kapitalkräftige Ausland eröffnen. Andererseits lassen sich dieselben Leute von ihren Perspektiven durch amerikanische Bedenken genauso schnell wieder abbringen, wie sie ihre Pläne vom Einbau Polens in die Kreditlinien des IWF kundgetan haben. Der diesbezügliche Antrag, von Polen selbst gestellt, wurde abschlägig beschieden - eine echte ‚Öffnung‘ des Landes schließt eben eine andere Sorte Regierung ein, die der Freiheit des Kapitals keine Hindernisse in den Weg legt und sich von den Verpflichtungen innerhalb östlicher Bündnisse lossagt. Also lautet der Beschluß: ‚Keine Kooperation mit dem Militärregime!‘, und der angerichtete Schaden ist erheblich.
Von einem insolventen Land, das im ersten Geschäftsjahr unter dem Militärregime um die 10 Milliarden Dollar für den Schuldendienst an den Westen zu entrichten hat, zu verlangen, es möge die für die bloße Kontinuität seiner Produktion notwendigen Importe bar bezahlen, gilt da plötzlich als enorm vernünftig. Die Umschuldung der fälligen Zahlungen wird ‚in Schwebe gehalten‘, die Gewährung neuer staatlicher Kredite oder Bürgschaften für nicht opportun erachtet. Aufgrund solcher politischer Maßgabe schließt der legendäre Spürsinn der Bankiers auf ein ungewöhnlich hohes Risiko; man ‚verzichtet‘ auf die Vergabe von Überbrückungskrediten. Zur Behinderung der Produktion für Exporte, deren Erlös man zugleich einfordert, kommt es nicht nur in Branchen der polnischen Industrie, die auf den Kauf von Rohstoffen, Halbfertigwaren und Ersatzteilen angewiesen sind; an der Versorgung mit Futtergetreide wird ebenso gedreht wie an den Fischereirechten - und daß die Ernährung und Gesundheit der Bevölkerung darunter leidet, wird keineswegs verschwiegen in den Medien der freien Presse. Die Veröffentlichung des zielstrebig erzeugten Elends soll ja als gutes Argument dafür gelten, daß Bundesbürger Päckchen nach Polen schicken und den Mut der Verzweiflung am Leben halten; der darf den Geschenken westlicher Untertanen ebenso entnommen werden wie die Botschaft, daß es sich lohnt, so wie im Westen regiert zu werden. Zufrieden stellen die professionellen Heuchler der freien Welt fest, daß die Botschaft ankommt und den ungeliebten Herrschaften drüben effektiv jede Möglichkeit genommen wird, ihr edles Volk mit einem ‚Gulaschkommunismus‘ zu bestechen - ein ‚Angebot‘, es von seiner Arbeit leben zu lassen, wie recht und schlecht auch immer, kann der General nicht unterbreiten.
Die Entwicklung Polens zum kostspieligsten Schadensfall in der Geschichte des realen Sozialismus, ausgelöst durch einen patriotischen Arbeiteraufstand und vollstreckt durch dessen konsequente Ausnutzung auf selten des freien Westens, ist inzwischen zum bleibenden Bestandteil des Ost-West-Gegensatzes geworden. Kein Ansinnen der Sowjetunion im Streit der Großmächte wird von den USA mehr respektiert, kein Angebot in anderen Konfliktpunkten mehr ‚gewürdigt‘ ohne den diplomatischen Hinweis auf Polen. Erstens hätten sich die Russen nicht einzumischen, zweitens sei jedes Entgegenkommen sowie die Fortsetzung von Verhandlungen und Geschäften aus vergangenen Tagen der ‚Entspannung‘ an die Aufhebung des Kriegsrechts in Polen gebunden. Die Erfüllung dieser Forderung hat deren Urheber dann auch in keiner Weise befriedigt, sondern maßlos enttäuscht; zumal die Liquidierung der ‚Solidarität‘ ohne die erhoffte Neubelebung des Aufstandes über die Bühne gegangen ist.
Dennoch will der gesamten freien Presse nicht auffallen, was sich da zwischen Ost und West abspielt - auf das Gedankenexperiment, was wohl los wäre, würde sich die Sowjetunion eine ähnliche Politik mit dem Hinweis auf die im Amt befindliche Klientel des CIA leisten, kommt eben nicht so leicht jemand, der weiß, wie sich die Aufgaben der Weltpolitik (Friedenssicherung und Wohlverhalten) zu verteilen haben!
Vielmehr bewundert man höchstförmlich den Entschluß der Weltmacht Nr. 1, sich für Polen zuständig zu erklären und endlich das ‚Recht‘ der Weltmacht Nr. 2 auf einen Block zu bestreiten. Das ‚Blockdenken‘ kommt per Diskussion in den Ruf, überholt zu sein; kein maßgeblicher Politiker in Europa und den USA versäumt es, sich über die Ergebnisse von Jalta zweifelnd-kritisch zu Wort zu melden, und sekundiert von zahlreichen Prominenten der schreibenden Zunft polemisieren sie gegen die ‚Unveränderbarkeit‘ von Grenzen. Dabei ist ihnen sehr wohl bewußt, daß sie Polen zum potentiellen casus belli erklären und einen Beitrag zur weltpolitischen Perspektive der achtziger Jahre liefern, die im Zeichen der ‚Sicherheit‘ - durch Aufrüstung - steht...
3.6 Zwei Kriege des Sommers 1982
Von der Aufrüstung der NATO behaupten ihre Liebhaber, sie würde mit ihren, d.h. ‚unseren‘ Interessen auch ‚den Frieden‘ sichern. Diese Leistung pflegen sie auch ohne Bedenken mit den nun fast vier Jahrzehnten Weltfrieden seit dem zweiten Weltkrieg zu belegen. Ein Beleg ist dieses Verfahren schon - aber nur dafür, daß Tatsachen offenbar nicht geeignet sind, Ideologien zu entkräften oder gar ihre Preisgabe zu bewirken. Denn Kriege haben während der fraglichen Zeit reichlich und in verschiedensten Größenordnungen stattgefunden, und Waffen wie Soldaten von Partnerstaaten der NATO waren auch ausgiebig beteiligt. Neben der Führungsmacht USA haben sich durchaus auch die Staaten der zweiten und dritten Garnitur des Potentials an Gewalt bedient, das sie im Rahmen des Bündnisses und seines Hauptanliegens anhäufen durften oder zur Verfügung gestellt bekamen. Neben Korea- und Vietnam-Krieg gab es da die Einsätze von England und Frankreich immer dann und dort, wo die speziellen nationalen Interessen auf die Erhaltung einer kolonialen Dependance zielten, und selbst Griechenland und die Türkei waren nur aufgrund ihrer NATO-Zugehörigkeit in der Lage, sich wegen ihrer speziellen Anliegen in Sachen Zypern einen Krieg zu liefern. Von den vielen Stellvertreterkriegen in der ‚Dritten Welt‘ ganz zu schweigen. Heute, da unter der Losung der ‚Kriegsgefahr‘ die NATO-Strategen in jeder Ecke der Welt die ihnen genehmen Staaten mit den Mitteln ausstatten, die ihnen für die Erfüllung einer regionalen militärischen Aufgabe dienlich sind, floriert nicht nur das Kriegsgeschäft; die Möglichkeiten des internationalen Waffenhandels, der die Nationen unterschiedlichster Bedeutung in der Weltwirtschaftsordnung mit Gewaltmitteln versieht, werden von deren Politikern auch immer für die besonderen Vorhaben genutzt, die sie für ihre Nation als zuträglich erachten.
1. Argentinien, ein Staat, der an den Idealen der Demokratie gemessen der westlichen Welt kaum zur Ehre gereicht, hat nicht nur als nützlicher Handelspartner das dauerhafte Interesse der NATO-Mächte auf seiner Seite gehabt. Die USA haben die regierenden Militärs auch für wert befunden, mehr zu sein als ein Staat mit Export und Import, Schulden und Inflation, eine Anlagesphäre mit ganz viel Ordnung im Innern, was so manchen Oppositionellen das Leben gekostet hat. Im Zuge der antikommunistischen Formierung der Staaten, die vom freien Westen als ‚Entwicklungsländer‘ gehandelt werden, hat die ‚Waffenhilfe‘ Vorrang vor der ‚Kapitalhilfe‘ erhalten - und Argentinien wurde zu einem Bollwerk gegen die ‚kommunistische Subversion‘ in Lateinamerika ausersehen. Die argentinische Regierung hat diesen Auftrag wahrgenommen und sich auch prompt für die Beilegung der zu Carters Zeiten angezettelten Menschenrechtsvorbehalte erkenntlich gezeigt. Mit der Ausbildung und militärischen Unterstützung salvadorianischer Regierungstruppen wie nicaraguanischer Regierungsgegner hat sie die ihr zuerkannte weltpolitische ' Nützlichkeit wahrgenommen und die Rolle einer südamerikanischen Ordnungsmacht übernommen. Als solche hat das argentinische Militär die Freiheiten des internationalen Waffenhandels über . die Bedürfnisse der Bekämpfung innerer Feinde und der ‚Sicherung der Grenzen‘ hinaus für sich zu nutzen gewußt - und, im Sinne seiner offensichtlichen Bedeutung in der maßgeblichen Staatenwelt, einen Krieg angezettelt. Den alten nationalen Anspruch auf die Malvinas haben die Staatslenker Argentiniens zu einem Recht erhoben, indem sie Gewalt einsetzten; freilich nicht ohne auf die Duldung und die Anerkennung der militärisch gesetzten Fakten durch die USA zu spekulieren. Sollte sich eine den USA treu verbündete Macht nicht auch einmal das herausnehmen dürfen, was anderen Nationen zugestanden wird: die Bündnisverpflichtungen als Garantie für die selbstbestimmte Größe der eigenen Nation behandeln?
Das Pech Argentiniens bei seiner Aktion bestand allerdings bei dieser Kalkulation darin, daß es nicht, wie etwa Israel oder Südafrika oder die traditionellen 'Westmächte bei den meisten ihrer kriegerischen Unternehmungen, auf einen Kontrahenten gestoßen ist, der NATO-offiziell schon halb oder ganz zum Feind der Freiheit gestempelt war. Mit England stand ihm eine NATO-Großmacht gegenüber, die in ganz anderen strategischen Größen ihre nationalen Interessen in der atlantischen Gemeinschaft verwirklicht. Ein solcher Staat läßt seine Souveränität, sein Hoheitsrecht nicht einfach in Frage stellen, sondern setzt sich mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln zur Wehr. Wie es sich in der heutigen Diplomatie gehört, vollzogen britische Soldaten einen Akt der Wiederherstellung gebrochenen Völkerrechts, als sie dafür sorgten, daß auf den Falkland-Inseln wieder die britische Flagge weht. In bezug auf diese hohe Aufgabe ist auch kein Wort der Kritik laut geworden; denn das Prinzip des Respekts gegenüber den Interessen einer Nation, des dazugehörigen Rechts, diese Interessen zu verteidigen, und des Einsatzes von militärischer Gewalt hierfür ist sakrosankt. Daß dieses Prinzip von politischen Führern sämtlicher Staaten, je nach den Interessen, die sie zu verteidigen haben, in die Tat umgesetzt wird und Krieg bedeutet - das wollte allerdings die demokratische Öffentlichkeit dem ‚Konflikt‘ nicht entnehmen. Vielmehr verstieg sie sich in allerlei fachmännisch-bedenklichen Kommentaren zu der Mutmaßung, daß dieser Krieg jetzt und aus diesem Anlaß einerseits ‚unnötig‘ und deswegen andererseits auch ein Beleg für das ‚Versagen der Politik‘ sei. Diese seltsame Manier, ein offensichtliches Werk politischer Entscheidungen für die mißlungene ‚Suche nach Lösungen‘ anzusehen, gerät um so mehr zur Rechtfertigung, je mehr Argumente für die ‚Distanzierung‘ vom Geschehen zusammengetragen werden.
Da wollten die kundigen Beobachter der Szene die argentinische Besetzung der Inseln mit der Not der Regierung erklären, von ‚innenpolitischen Schwierigkeiten‘ abzulenken. Man wagt gar nicht zu fragen, welche Sorte ‚Unzufriedenheit‘ oder gar ‚Opposition‘ da vorliegt, wenn sie ein Militärregime dadurch beschwichtigen kann, daß es seinem Volk einen Krieg oder- in den ersten Tagen - die Eroberung eines Fleckens Territorium beschert! Doch der demokratisch geschulten Interpretationskunst scheint in einem Punkt Genüge getan zu sein - die Vorstellung aus demokratisch regierten Breiten, die Herrschaften in der Regierung müßten sich an den Ansprüchen ihrer Untertanen orientieren oder gar beschränken, war ausgeplaudert und auf ein Militärregime übertragen, das sich gerade ein paar Monate lang in der blutigen Niederschlagung jedes alternativen Nationalismus bewährt hatte.
Kaum war die britische Flotte in Marsch gesetzt, setzte bei denselben Leuten die Frage nach dem Nutzen erneut ein, diesmal mit Blick auf England. Und siehe da, das ‚öde Eiland‘ wurde nicht für wert befunden, Krieg zu führen. Für ‚sinnvolle Kriege‘ sieht der friedenspolitische Sachverstand lohnende Objekte vor! Deshalb eröffnete sich die Entdeckung, daß es bei der britannischen Heerfahrt ‚nur‘ um die ‚Ehre der Nation‘ gehen könne, nicht aber - ganz als ob das einen Krieg so richtig ‚sinnvoll‘ mache - um materiellen Gewinn. Politiker und Journalisten, die ansonsten auf die intakte Handlungsfreiheit einer Regierung nichts kommen lassen, weil sie in ihr die Bedingung für die Betätigung aller ihnen heiligen Interessen ‚der‘ Gesellschaft feiern, vermissen plötzlich einen in Pfund und Dollar zu beziffernden ökonomischen Dienst, wenn geschossen wird! Daß sich in der ‚Ehre der Nation‘ sämtliche Interessen zusammenfassen, für die eine souveräne Gewalt den Weg bereitet, die sie ‚verteidigt‘ und auf deren ‚Sicherheit‘ sie ihre Untertanen verpflichtet, wird da glatt vergessen! Wo die Staatsgewalt für die ‚Ehre der Nation‘ eintritt und ein Ereignis zum Grund erklärt, sie zu ‚retten‘ oder ‚wiederherzustellen‘, emanzipiert sie sich eben von den Nutzenkalkülen, die im übrigen von den Kritikern bei den Kosten der Bundeswehr auch nicht eröffnet werden! Und das nicht, weil der höchsten Gewalt dieses Kriterium für das gesellschaftlich Nützliche fremd wäre, sondern gerade umgekehrt:
Weil sie diesem Kriterium Gültigkeit verschaffen, dem geschäftsmäßigen Nutzenkalkül der eigenen nationalen ‚Wirtschaftssubjekte‘ zum Erfolg verhelfen will und dafür sich selber als Bedingung weiß und erweisen will, deswegen läßt sie die entsprechenden Rechnungen für sich nicht gelten. Als Voraussetzung und Sachwalter jedes Materialismus, so wie ihre Gesellschaft ihn kennt und wie sie ihn anerkennt, beansprucht und praktiziert eine moderne souveräne Staatsgewalt einen Materialismus, der nicht von der bestimmten und begrenzten Natur ist wie die geläufigen Geschäftsinteressen, sondern schrankenlos - und das auf sehr zweckmäßige Weise. Im Inneren geht einer solchen Staatsgewalt nichts über ihr Gewaltmonopol; dessen Respektierung fordert sie, dessen Verletzung ahndet sie ganz jenseits jeder Rentabilität; gerade so behauptet sie ihre ‚Hoheit‘, d. h. ihre schrankenlose Zuständigkeit und damit den nötigen ‚Freiraum‘ fürs Geschäftemachen. Nach außen sorgt ein rechtsstaatlicher Souverän sich ebensowenig um das Ergattern von Reichtümern; vulgärmaterialistische Kalkulationen, die einem modernen Staat einen Krieg um Öl zutrauen und deswegen einen Krieg um öde Felsen für nicht lohnend und deswegen unverständlich befinden, gehen da fehl. Das Recht auf Gebiete, Personen, Interessen etc., das ist der harte Inhalt von Souveränität; und die leistet ihren Dienst für die herrschenden Interessen ihrer Gesellschaft im Verkehr mit auswärtigen Partnern gerade durch die Unbedingtheit, durch die um die Bedeutung eines strittigen Gegenstandes unbekümmerte Radikalität, mit der sie ihre Rechtstitel verficht. Was hätte die britische Staatsgewalt denn in ihrem zähen ‚Kleinkrieg‘ in Nordirland zu gewinnen? Oder, um näherliegende Beispiele zu nennen: Wofür lohnt sich der Aufwand einer deutsch-deutschen Grenzkommission, die ihren Auftrag, zu entscheiden, wo in der Elbe der ‚Eiserne Vorhang‘ verläuft, erstens als Friedenstat größeren Kalibers feiert und zweitens zur Dauerbeschäftigung ausbaut - und inwiefern wäre dieses Problem anders beschaffen als die iranisch-irakische Streitfrage um die Aufteilung des Schatt-el-Arab? Welchen Gewinn zieht die Bundesrepublik aus der - in der NATO-Aufrechnung gerechterweise als ‚Verteidigungslast‘ aufgelisteten - kostspieligen Subventionierung West-Berlins - außer eben genau dem, einen Rechtstitel ihrer Souveränität, einen ganz prinzipiellen imperialistischen Anspruch ganz jenseits aller Kriterien von Gewinn und Verlust, aufrechtzuerhalten? Für Zwecke dieser An hat dann auch ohne Wenn und Aber der Reichtum der Nation einzustehen, dem die Staatsgewalt so und nur so dient; dafür ist er dann auch da und wird in der großzügigsten Weise verpulvert. Denn es gilt ja: Was wäre das schönste Geschäft, wenn die Gewalt, ohne die es nie zustande käme und dem Privateigentum Früchte tragen könnte, sich nicht bedingungslos Respekt verschafft?! Klar ist andererseits, daß nationaler Reichtum erst einmal in gehöriger Masse da sein muß, damit die staatliche Gewalt sich in ihrem Agieren von deren Gesetzen so emanzipieren kann, daß sie sich absolut setzt und damit den Erfolg des nationalen Geschäftslebens wiederum bestmöglich fördert. So bedingen Souveränität und Reichtum sich wechselseitig -.jene ist so frei, wie dieser erfolgreich, und dessen Erfolg so sicher, wie jene davon unabhängig. Und so groß wie beides ist - die ‚Ehre der Nation‘
Freilich wurde auch das Geheimnis der ‚Verständnislosigkeit‘ offen ausgeplaudert: nachdem der Nutzen nicht so recht ermittelt werden konnte, erhob sich prompt die Frage, wer denn dann der Nutznießer des Krieges sei. Wenn zwei der NATO verbundene Staaten ihre Soldaten einen Krieg führen und ihn von ihrem Volk bezahlen lassen, dann muß ja der lachende Dritte Iwan heißen. Also waren mitten im Krieg weniger Kritik, dafür aber sehr viel Sorge um den Weltfrieden und Verdächtigungen aller Art angebracht. Ob denn die britischen Verbündeten mit ihrer Flotte nichts Besseres zu tun hätten, als sie aus ihrem eigentlichen Aufgabenbereich innerhalb der gemeinsamen Strategie gegen den Osten abzuziehen? Die Sowjetunion wurde höchstpersönlich davor gewarnt, ‚mehr Einfluß‘ auf Lateinamerika und auf die Gewässer der Nordsee auszuüben. Und je mehr Leichen zu vermelden waren, desto beruhigter wurde die ‚Gefahr‘ einer Ausweitung zum weltweiten Konfliktfall verworfen, nachdem man sie immer wieder beschworen hatte. So sicher ist man sich in NATO-Kreisen über die unvermeidliche Antwort, die man den Russen bei einem ‚Fehlverhalten‘ erteilen würde. So selbstverständlich ist demokratischen Strategen die ‚Nichteinmischungspflicht‘ der anderen Weltmacht während eines Krieges, den befreundete Parteien gerade abwickeln. So unverfroren erteilen die Anwälte und Richter von ‚Frieden in Freiheit‘ Erlaubnisse und Verbote in Sachen Weltpolitik!
Eines jedoch garantieren die während eines echten Krieges in Umlauf gebrachten interessierten Betrachtungen dieser Art: daß die täglich gemeldeten Beschlüsse der direkt Beteiligten, weil ‚Verantwortlichen‘, ebenso wie die der befreundeten Regierungen immerzu eine verbindliche Deutung zugeordnet bekommen, eine Interpretation, welche die Rechtschaffenheit der Subjekte der Weltgeschichte in vollem Licht erstrahlen läßt. Zuerst war das Ganze ein ‚Konflikt‘, dieser entwickelte dann seine ‚Eigengesetzlichkeit‘, schlug bisweilen ins ‚Tragische‘ um. Das Militär ‚verselbständigte‘ sich gegenüber der Politik, welche darüber vor lauter Unschuld glänzte und in Hunderten von Gesprächen und Kommuniqués mitten in die Kämpfe hinein um eine ‚friedliche Lösung‘ bemüht war. So konnte sich jeder lesende und fernsehende Untertan ständig davon überzeugen, daß Diplomatie und Gewalt ungefähr das Gegenteil voneinander sind - also auch davon, daß diesen Krieg niemand gewollt und zu verantworten hat außer dem Verlierer, daß Waffen für den Frieden da sind, daß die ‚Theorie‘ der Abschreckung und des Gleichgewichts nach wie vor gilt. Nur das eine brauchte niemand zu lernen: daß justament nach diesem Muster Kriege ablaufen, daß auch der Ost-West-Gegensatz nichts anderes darstellt als einen Streit zwischen Staaten und ihren Bündnissen um Rechte, den Einfluß wie die Interessen, die sie sich anmaßen und mit Hilfe von rücksichtslosem Einsatz von Geld und Gewalt ‚erworben‘ haben. Wobei allerdings nicht zu übersehen ist, daß sich auf der Seite des freien Westens viel mehr Rechte angehäuft haben, beansprucht werden und sehr ultimativ an die Adresse des Ostblocks formuliert werden.
2. Mit der Aufforderung an die Sowjetunion, sich samt dem ihm befreundeten Syrien herauszuhalten, wurde auch ein weiterer Krieg einer freiheitlichen Nation eingeleitet. Kaum waren israelische Soldaten in den Libanon aufgebrochen, um die Losung ‚Frieden für Galiläa‘ auf ihre Weise wahrzumachen, erging der diplomatische Rat an den weltpolitischen Gegner. Gewissermaßen als Test auf die unter Dauerverdacht stehende ‚Friedensliebe‘ des Kreml wurde verkündet, wie wenig sich die Weltmacht Nr. 2 herauszunehmen hat im Nahen Osten, wenn der freie Westen oder eine ihm zugetane Macht eine ‚Lösung‘ anstrebt.
Während die Zurückhaltung Syriens fast nach Wunsch ausfiel - ganz konnte der frühzeitig ausgehandelte separate Waffenstillstand die Erledigung einiger Raketenstellungen und etlicher Flugzeuge nebst Besatzung bei den kurzen Kämpfen im Bekaa-Tal nicht verhindern -, während die Sowjetunion weder militärisch drohte noch Ernst machte, sondern Washington ersuchte, seinen Schützling Israel zu bremsen, erlaubte sich dieser Staat Israel die blutige Demonstration seiner ‚Lösung des Nah-Ost-Problems‘. Auf den Falkland-Inseln, wo das argentinische Militär den Versuch unternommen hatte, durch die Besetzung ‚neue Fakten‘ zu schaffen, deren Anerkennung die des argentinischen Anspruchs auf die Inseln gewesen wäre, zeigte sich die Diplomatie ‚außerstande‘, eine ‚Vermittlung‘ zur Verhinderung des Krieges zuwege zu bringen. Nach einer Woche kriegerischer Großtaten Israels und ebenfalls ‚gescheiterter diplomatischer Bemühungen‚durfte man einem ARD-Kommentar folgende tröstliche Weisheit entnehmen: Der Krieg bietet die Chance für eine Neuordnung der Verhältnisse im Nahen Osten. Dadurch wird das israelische Vorgehen nicht gerechtfertigt. Aber die arabischen Staaten werden mit den geschaffenen Realitäten leben müssen.
Seltsam, wie in einem Fall eine ‚Verletzung des Völkerrechts‘ nicht hingenommen werden kann und die ‚geschaffenen Realitäten‘ durch einen Krieg revidiert werden müssen — und wie das Zerstörungswerk Israels im Libanon in den Rang einer Chance für ‚eine Neuordnung‘ erhoben wird! Daß seit der Gründung des Staates Israel dieser das Recht hat, sich zu verteidigen, und daß dieses Recht den militärischen Vormarsch einschließt, bildet die feste Grundlage für die westliche Beurteilung noch jeder Kriegshandlung im Nahen Osten. Daß Israel ‚von Feinden umgeben‘ ist, die seine territoriale Integrität und das Leben seiner Bürger ständig bedrohen, ist über drei Jahrzehnte hinweg Konsens geblieben - auch wenn dieser Staat während der Geschichte seiner dauernden Infragestellung um einiges größer geworden ist. Jede von Israel definierte Bedrohung ist zwar kurze Zeit nach ihrer offiziellen Bekanntgabe durch mehr oder minder ‚blitzartige‘ Einsätze beseitigt worden, aber das prinzipiell zugestandene Recht auf die freie Wahl sämtlicher militärischer Mittel hat ebensowenig wie die Bereitstellung dieser Mittel je eine Infragestellung erleiden müssen. Über sämtliche militärischen Aktionen hinweg hat sich ein Interesse des westlichen Auslands am Staate Israel erhalten, das wie in keinem anderen Fall mit den Anliegen des Staates Israel zusammenfällt. Und die bundesdeutsche Variante, von einer objektiven Beurteilung schon allein wegen der Judenverfolgung im ‚Dritten Reich‘ Abstand zu nehmen - nach dem Motto; ‚auch wenn es etwas zu kritisieren gäbe, sind >wir< dazu nicht befugt!‘ -, krönt nur die theoretische wie praktische Parteinahme für das ‚Lebensrecht‘ dieses Staates, das in so offensichtlicher Weise mit seiner Expansion exekutiert wird.
Unter dem Titel ‚Noch immer keine Nah-Ost-Lösung‘ werden sämtliche Erfolge Israels begutachtet, und der damit angedeutete ‚Mißerfolg‘ in bezug auf ein irgendwie geartetes friedliches Miteinander der Staaten im Nahen Osten einer eigenartigen Kritik unterzogen: In der näheren und weiteren Umgebung, auch ‚arabische Welt‘ genannt, gibt es immer noch Staaten und Völker, die sich nicht als Partner und Freunde Israels verstehen; allen voran die Palästinenser! Zwar weiß jedermann, daß aus diesem Volk mit der Gründung von Israel nach dem Zweiten Weltkrieg schlicht und einfach Vertriebene gemacht worden sind, Flüchtlinge, die seitdem in aller Nah-Ost-Herren Länder unter Bedingungen zu leben haben, die wohl selbst einem wohlsituierten und problembewußten Journalisten der Süddeutschen Zeitung den Gebrauch von Gewalt zum Zwecke ,des Überlebens ratsam erscheinen ließen. Zwar könnte jedermann wissen, daß der Anspruch der Israelis auf jenen Flecken Heimat mit gar nicht feinen Methoden — nicht nur Menachem Begin bekennt sich zu seiner Vergangenheit als Terrorist - geltend gemacht wurde, als die Gegend noch Protektorat war; daß das ‚Argument‘ der historischen Herkunft aus dem Lande Jesu manchen Germanen zur Revision sämtlicher Ergebnisse der Völkerwanderung ‚berechtigen‘ würde; daß die Staatsgründung eben auch keine Sache des Rechts, sondern der Gewalt gewesen ist, an der die westlichen Siegermächte des Weltkriegs eben Interesse hatten - die Sowjetunion anerkannte Israel übrigens ziemlich schnell. Aber dergleichen zählt nicht, wenn es darum geht, im Namen eines ‚Rechts auf Heimat‘ den Staat der Juden sehr grundsätzlich für gut und zu jeder Kriegserklärung berechtigt zu erklären.
Daß Israel dazu berechtigt ist und auch über die Mittel verfügt, liegt allerdings nicht an Repräsentanten der freiheitlich-demokratischen Öffentlichkeit, die, wie die Süddeutsche Zeitung Mitte Juni, als in Beirut noch einige Rechnungen offen waren, wieder einmal gewisse Halbheiten im israelischen Vorgehen festzustellen vermochten:
Israels militärische Brillanz wird jedoch durch seine politische Kurzsichtigkeit bei weitem aufgewogen. Noch bevor Syrien durch seine Verluste in eine ausweglose Position geraten konnte, drängte Moskau auf beiden Seiten auf eine Beendigung des Konflikts: Mit politischen Drohungen bewog es die USA, von Israel die Einstellung der Kämpfe zu verlangen. Gleichzeitig zwang es den Bündnispartner in Damaskus, auf eine schnelle Feuereinstellung einzugehen und dazu die Hinnähme der israelischen Bedingungen in Aussicht zu stellen...
Auch wenn Verteidigungsminister Sharon nach dem Eintritt der Waffenruhe am Freitag behauptete, daß Israel alle seine militärischen Ziele erreicht habe, so dürfte ihm doch das Kriegsende zu schnell gekommen sein... Der Sieg reicht zur Einrührung der angestrebten >neuen Ordnung< im Libanon nicht aus... Auch die beabsichtigte >militärische Lösung< des Palästinenserproblems ist mißlungen... Vor allem konnte die PLO-Führung trotz Fortsetzung des Bombardements von Beirut am Samstag und Sonntag nicht >eliminiert< werden. (Süddeutsche Zeitung, 14. 6. 82)
Wie ein Vergleich mit den inzwischen ‚geschaffenen Realitäten‘ zeigt, muß dem guten Mann mit seinen kaum mehr zu überbietenden Bedenken (‚Endlösung gescheitert!‘) acht Wochen später ein Stein vom Herzen gefallen sein. Er hat nämlich, guten Willen vorausgesetzt, einiges lernen können, was er bis dahin und in den Nahost-Kriegen vergangener Tage versäumt hat: Erstens hat sich Israels ‚militärische Brillanz‘ noch reichlich an der Stadt Beirut bewähren dürfen, ohne Behelligung durch eine Erpressung der USA, die ihrerseits auf ‚Drängen Moskaus‘ ihrem Schützling vor Ort irgend etwas hätten abverlangen müssen. Zweitens hat sich Damaskus zwar zur ‚Hinnähme der israelischen Bedingungen‘ bequemen lassen, was aber ebenfalls die Produktion von libanesischen und palästinensischen Opfern keineswegs behindert hat. Drittens durfte Verteidiger Sharon Wochen später, angesichts von Resten Überlebender in West-Beirut - denen nach Belieben Granaten serviert und das Wasser abgesperrt wurde -, verkünden, daß die ‚Palästinenser aus Beirut verschwinden, so oder so‘. Und die von keinerlei praktischen Schritten gestörten diplomatischen Äußerungen des Präsidenten Reagan, er werde ‚ungeduldig‘, wurden zwar von Herrn Habib in das ‚Krisengebiet‘ übermittelt, aber von Begin fristgemäß mit der frohen Losung beantwortet, daß ‚Juden ihre Knie nur vor Gott beugen‘ - was niemand anders verstand, als es gemeint war: die ‚militärische Lösung‘ wird zu Ende gebracht! Viertens gibt es natürlich eine ‚neue Ordnung‘ im Libanon, und zwar unter reger Anteilnahme israelischer Truppen, die schon wissen werden, warum ein Dutzend Feuerpausen nichts zur Schonung auch nur eines Palästinensers beigetragen hat. Fünftens waren die Vorschläge zum ‚freiwilligen Abzug‘ der Eingekesselten allesamt darauf berechnet, daß entweder die Betroffenen oder ihre möglichen ‚Gastgeber‘ nein sagen würden - zumal bei letzteren in der Mehrzahl längst ein freundschaftliches Verhältnis zum Westen mehr zählt als die Unterstützung der PLO-Kämpfer.
Erst auf amerikanischen Druck wurde der Wille zum Abtransport waffenfähiger Palästinenser als vorhanden erkannt - und deren nach den letzten Bombardierungen Beiruts rasch ausgeführte Verschiffung wurde als politisch-moralischer Erfolg der PLO verbucht. Ganz als ob das Mitleid und die fälligen Gespräche mit Arafat & Co eine einzige Aufwertung der Opfer Israels, also auch seiner Gegner wären! Sechstens sorgte ein anschließendes Massaker in nunmehr unverteidigten palästinensischen Flüchtlingslagern, über dessen ‚Duldung‘ durch die israelische Regierung hinterher eine rege demokratische Kommissions- und Gutachtertätigkeit einsetzte, dafür, daß auch wirklich keine der zuvor von der israelischen Armee den Nachbarn erteilten ‚Lektionen‘ in Vergessenheit geriet.
Denn soviel hat mancher arabische Staat in vergangenen Auseinandersetzungen mit Israel erfahren müssen: daß es sich für ihn nicht lohnt, ein Feind Israels und damit des geballten Wirtschaftsund Kriegspotentials des freien Westens zu sein, die Palästinenser zu unterstützen gegen diesen ihren Feind - mit der Gastfreundschaft in den Flüchtlingslagern war ohnehin nie übermäßig viel los - und sie als Vorkämpfer einer Panarabischen Sache mit Hilfe Moskaus zu allerlei Anschlägen zu ermutigen. Einer nach dem anderen dieser Potentaten hat sich in seinem eigenen Interesse von der ‚arabischen Solidarität‘ und von Moskau verabschiedet und damit dokumentiert, wie berechnend die Liebe zum ‚palästinensischen Brudervolk‘ gewesen ist. Solange noch Hoffnung bestand, durch die Ermutigung - finanziell wie militärisch zehrte ja die Logistik der Palästinenser immer von der Versorgung durch die ‚Ölstaaten‘ - der Palästinenser zum Kampf gegen Israel eine ständige Vorhut für das Programm, ‚die Juden ins Meer zu jagen‘, zu erhalten; solange also die Benützung der Not, ums Überleben kämpfen zu müssen, für das Ideal einer arabischen Großmacht nützlich und erfolgversprechend erschien, galt es als arabische Staatstugend, offiziell als Feind Israels aufzutreten. Mit den Lektionen in Sachen öl und der einschlägigen ‚Abhängigkeit‘, unmittelbar jedoch aufgrund ihrer ‚Kriegserfahrungen‘ haben diese Anwälte der arabischen Sache ihren Kurs in Richtung Friedensnobelpreis, Awacs und westeuropäische Friedenswaffen geändert - und in einen Krieg wegen der Palästinenser tritt heute nicht einmal mehr Syrien oder Libyen ein.
Insofern treibt dieser Staat Israel tatsächlich die ‚Nah-Ost-Lösung‘ voran, die in den schönfärberischen Reden von ‚Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes‘ versus ‚Anerkennung des Existenzrechts Israels‘ immer für so ungemein schwierig befunden wird. Denn das läßt sich kaum übersehen, daß der Staat Israel ‚existiert‘ und manches Recht genießt, andererseits den Palästinensern das Überleben nicht gestattet wird und ihre Bemühungen um einen eigenen Staat prinzipiell dem ‚Terrorismus‘ zugeschlagen werden. Dem Gebrauch von Gewalt, die an/Anerkennung als politische Souveränität berechnet ist und von Arafat ausgerechnet bei den Schutzmächten Israels als eine unheimlich gerechte Sache vertreten wird, widerfährt die Verurteilung seitens der maßgeblichen Weltsortierer, die nur und immerzu den Maßstab des eigenen und etablierten Interesses in Anschlag bringen: ‚Israel in Notwehr begriffen, Palästinenser Terroristen!‘
Dieser Maßstab heißt, praktisch angewandt, einiges mehr als moralische Parteinahme für Israel. Dieser Staat wäre, auf sich gestellt, kaum in der Lage, einer ‚feindlichen Umwelt‘ zu trotzen. Er entbehrt nicht nur einer wirtschaftlichen Basis, der Grundlage einer Produktion von Reichtum, die ihm die Mittel dafür sicherstellen würde, als dauernde Kriegserklärung an seine arabischen Nachbarstaaten und vor allen Dingen als Verfolger und Richter der mit seiner Gründung zu Heimatvertriebenen abgestempelten Palästinenser auftreten zu können. Nicht einmal beabsichtigt war je dergleichen, auch wenn findige Intellektuelle in den Kibbuzim bisweilen ‚Sozialismus‘ und im Zwangskollektivismus der Wehrdörfer ein fröhliches und zukunftsweisendes Gemeinschaftsleben ausmachen. Der Staat Israel nimmt sich mit dem ihm zugestandenen Recht, als Anwalt des freien Westens in einer ‚ostblockverdächtigen‘ arabischen Welt auf seine Durchsetzung achten zu dürfen, seit seinem Bestehen auch die großzügig gewährten finanziellen und militärischen Mittel - und tut darin seine Pflicht. Daß er im Gebrauch der ihm eröffneten Freiheit bisweilen so rücksichtslos verfährt, daß die Tagesordnung westlicher Nahost-Diplomatie etwas durcheinandergerät, hat noch nie dazu geführt, daß Israel im Stich gelassen wurde. Denn die von seinem Militär ‚geschaffenen Realitäten‘ haben per saldo stets eine neue und verbesserte Tagesordnung ergeben. Die ‚Verstimmungen‘ und berechneten diplomatischen Heucheleien laufen gewöhnlich auch zur selben Stunde wie der Nachschub an Gerät nach Tel Aviv aus.
Im Falle Israels freilich ist eines auffällig. Da geht ein Staat nicht dazu über, mitten im NATO-gesicherten Weltfrieden seine Sonderinteressen auch einmal - gewissermaßen bei einer ‚günstigen Gelegenheit‘ - vor die wohlerworbenen Rechte und Pflichten der imperialistischen Arbeitsteilung zu stellen. Hier fällt die pure Selbstbehauptung, gegen jeden auch nur möglichen Feind in der Nachbarschaft, seit der konzessionierten Staatsgründung mit dem Willen des freien Westens zusammen, in der nahöstlichen Weltgegend keine Politik zuzulassen, es sei denn, sie wäre eine zur Freiheit bekehrte. Mit dem ‚Recht‘ der Juden, nicht verfolgt zu werden und in ‚ihrer angestammten Heimat‘ einem friedlichen und gottgefälligen Tagwerk nachzugehen, hat dieser Staat herzlich wenig zu tun — immerhin ist auch in Israel für die Führung des Kriegs der Einsatz des Volkes notwendig! Aus der Tatsache, daß die Juden im Dritten Reich zu Millionen umgebracht wurden, können nur Zyniker einen Freibrief für ‚ihren‘ Staat verfertigen, selbst wie im Sommer '82 einen Völkermord ins Programm zu nehmen. Sollte das der nachträgliche ‚Sinn‘ des so erzbürgerlichen Antisemitismus sein, daß er - über den Umweg des Glaubens der Juden, ein ‚auserwähltes Volk‘ zu sein und deshalb besonders (selbstgerecht in der unbefangenen Anwendung von Gewalt - einen weltpolitisch funktionalisierten Zionismus der Kritik entzieht?
3. Die hohe Kunst der Weltpolitik wird von denen, die sie betreiben, auch mitten im Krieg als eine einzige Anstrengung, ‚den Frieden zu sichern‘, ausgegeben. Wo Staaten ihre ökonomischen Interessen und den politischen Einfluß an allen Ecken der Welt als ihr unveräußerliches Recht deklarieren, wo sie für dessen Durchsetzung von ihrer Gewalt rücksichtslosen Gebrauch machen, hat die auf Vertrauen berechnete Sprachregelung Konjunktur. Aus jedem Waffengang wird ein ‚Konflikt‘, dem die souveränen Staatenlenker ohnmächtig gegenüberstehen; jedes Gemetzel ist ein Beleg für das ‚Scheitern" einer ‚politischen Lösung‘, für das Versagen von Bemühungen, die allesamt auf das Gegenteil dessen zielen, was geschieht, weil es angeordnet ward. Die Politiker ringen immerzu um die Bewältigung von ‚Problemen‘ - von denen, die sie ihren Untertanen anschaffen, ist nie die Rede. Stets liegen sie, rast- und ruhelos, im Kampf mit der ‚Vernunft‘ anderer.
In jeder dieser Entschuldigungen liegt freilich auch eine Beschuldigung - und dies nicht nur von ‚Umständen‘, sondern auch von Souveränen anderer Staaten. Eben der Staaten, die dem Interesse der eigenen Nation in die Quere kommen, deren Recht auf ihre Durchsetzung behindern. Insofern sind die Interpretationen, die Politiker von ihren Taten geben und in den Medien verbreiten lassen, nicht nur Verbrämungen der Zwecke, die da verfolgt werden, sondern auch hemmungslos ehrlich: Wer sich ständig über ‚Mißerfolge‘ und ‚Krisen‘, ‚Gefahren‘ und ‚Beschränkungen‘ seiner besseren Vorhaben beschwert, hält seinen Einfluß für zu gering. Er huldigt dem Ideal des Kolonialismus, der Unterordnung auswärtiger Mächte, in einer Staatenwelt, die sich durch die Konkurrenz von souveränen, sich über die wechselseitige Anerkennung benützenden und schädigenden Nationen und Blöcken auszeichnet. Und er sieht sich mit der ‚Notwendigkeit‘ konfrontiert, jede Beschränkung seiner Handlungsfreiheit dieser Welt als das ‚Problem‘ aufzumachen, das seiner ‚Lösung‘ harrt. Das Verhandeln, nach dem Wort eines Bundeskanzlers besser als das Schießen, gerät da natürlich zu dessen Ersatz - und nicht erst die ‚begrenzten Kriege‘ des Sommers '82 zeigen, wie in der ‚längsten Friedenszeit‘ seit Menschengedenken, die ‚uns‘ das ‚Bündnis‘ geschenkt hat, die ‚militärische‘ Lösung den Vorzug erhält. Dann drehen sich die Verhandlungen um die Kapitulationsbedingungen, und die Wirkung der eingesetzten Waffen wird zum Argument für - den Frieden.
4. Die BRD: Entwicklungen eines Frontstaats
1. In der Nachkriegszeit gehörte sich für Deutsche ‚politische Zurückhaltung‘. Angehörige und selbst Vertreter der Nation hatten sich durch bescheidenes Auftreten auszuzeichnen. Schließlich waren sie als Deutsche die Erben des Dritten Reiches, das seine Interessen mit Waffengewalt hatte durchsetzen wollen und - dabei gescheitert war. So sahen sie sich nun dem Verdacht ausgesetzt, bei jeder Äußerung nationaler Ansprüche Anwälte des alten oder Vorboten eines neuen Nationalismus zu sein. Dem Vorbehalt, unter dem die westlichen Siegermächte die BRD gegründet hatten, entsprachen die westdeutschen Politiker der ersten Generation: der ‚-ismus‘ war geächtet, und für die neue Nation und ihre Interessen durfte man sich erstens nur mit dem Bekenntnis starkmachen, nie und nimmer gegen andere freiheitliche Nationen und ihre Bürger eingestellt zu sein; und zweitens war der von den westlichen Schutzmächten gebotene Antikommunismus nicht mehr im Namen Deutschlands, sondern in dem der Freiheit abzuwickeln. Bei aller demonstrativ zur Schau getragenen Bescheidenheit war damit freilich westdeutschen Volksvertretern auch einiges erlaubt. Immerhin ließ die Zugehörigkeit zum freien Westen den Anspruch zu, eigentlich alle Deutsche zu vertreten. Immerhin gestattete die mit dem Ergebnis des Krieges vollzogene ‚Selbstkritik‘ nicht nur die klare Distanzierung vom unfreiheitlichen anderen Teil der Nation, sondern beinhaltete auch das Recht auf Wiedervereinigung, selbstverständlich gemäß den Bedürfnissen des eigenen Lagers. Kaum hatte der Wiederaufbau, jene legendäre Kombination aus einem amerikanisch kreditierten Geldwesen (Währungsreform!) und deutscher Wertarbeit (das Volk hat keine Gelegenheit gehabt, seine im Unrechtsstaat des Führers erworbenen Untertanentugenden zu verlernen!), die ersten Früchte getragen, hörte man schon von der Hallstein-Doktrin. So sicher waren sich westdeutsche Politiker schon kurz nach der Stunde Null in bezug auf ihre Bedeutung in der neuen Weltordnung, daß sie anderen Staaten die Nichtanerkennung der DDR als Bedingung dafür aufmachten, in den Genuß bundesrepublikanischen Wohlwollens zu gelangen. Inzwischen ist aus der BRD eine Wirtschaftsmacht geworden.
Überholt sind die diplomatischen Streitereien um einen bundesrepublikanischen Alleinvertretungsanspruch, der zwar nicht aufgegeben, aber längst in ein viel umfassenderes Konzept bestimmender Mitwirkung an der Weltpolitik aufgenommen worden ist. Aus den Ansprüchen von einst sind deutsche Interessen geworden, aus der politischen Forderung nach der besonderen Berücksichtigung eines ‚deutschen Problems‘ hat sich der ‚Einfluß der Bundesrepublik weltweit entwickelt. Die deutsche Geschäftswelt bedient sich aller Herren Länder als Anlagesphäre, der Handel blüht und gedeiht, auch der mit Waffen - und unter so schlichten Sätzen wie ‚Wir sind eine Exportnation‘ künden deutsche Politiker von der Unverzichtbarkeit westdeutschen Geschäftserfolgs allüberall:
Auch bei den ungeliebten Partnern im östlichen Reich der Unfreiheit, die nicht nur im Falle Polen zu spüren kriegen, was es heißt, sich den Maßstäben des Kapitals und seinen Wünschen in Sachen Kreditvergabe anzubequemen. Es gehört zu den guten Gepflogenheiten des bundesrepublikanischen Diplomatengeschicks, nicht nur die Bedingungen für die Fortsetzung wirtschaftlicher Beziehungen zu setzen und auch einmal für Abbruch zu votieren, wo die Vorteile der anderen Seite für zu gravierend erachtet werden, als daß man sie des eigenen Gewinns wegen zulassen könnte. Die Verlierernation des letzten Weltkrieges nimmt an Weltwirtschaftsgipfeln teil, auf denen die mächtigsten Nationen darüber befinden, wie sich Wachstum und Armut auf dem von ihnen dominierten Weltmarkt zu verteilen haben.
Deswegen ist aus der BRD auch eine Militärmacht geworden. Eine an den gar nicht bescheidenen Zielsetzungen des freiheitlichen Bündnisses entscheidend beteiligte Macht, deren Vertreter auf ‚Nachrüstung dringen und nach dem Ausbau der Bundeswehr zum Zwecke der ‚Vorwärtsverteidigung‘ durchaus in der ,; Lage sind, gegenüber der Sowjetunion sämtliche Grundsätze der ‚Politik der Stärke‘ geltend zu machen. Die berühmte Entdeckung des Bundeskanzlers Schmidt, zum Status eines vollwertigen Mitmachers der westlichen Politik fehlten der BRD eigentlich noch t atomare Waffen, ist der logische End- und Höhepunkt des Erfolgsweges dieser Republik. Wenn ein deutscher Politiker so tut, als müßte die Sowjetunion von jedem ihrer untereinander verbündeten Gegner extra mit letzter Konsequenz ‚abgeschreckt‘ werden, so denkt er ganz bestimmt nicht an den beredt beschworenen ‚Schutz‘ von Land und Leuten. Worum es geht, ist die Möglichkeit, den NATO-Zweck von Westeuropa aus allein schon voll durchsetzen zu können, und die dadurch gesteigerte ‚Sicherheit‘, den USA ein so wichtiger und gewichtiger Partner zu sein, daß das Bündnis, also die Weltmacht Nr. 1, um ‚uns‘ nicht mehr herumkommt.
So äußert sich die Bescheidenheit einer Nation, deren Regierende wissen, was sie von der Beteiligung an der Weltwirtschaftsordnung haben und was sie aus der Beteiligung am Weltfrieden machen können. Zur Anschauung gebracht wurde die Weltgeltung westdeutschen Engagements während des Besuchs des obersten Sowjetmenschen in Bonn im Herbst 81 - eines Menschen, vor dem Angst zu haben jedem Bundesbürger geraten wird. Nichts sonst ist an dem gesamten Besuch öffentlich beredet und gefeiert worden als die selbst noch in den Tischreden an den Tag gelegte ‚Standhaftigkeit‘ des Kanzlers, insbesondere in Abrüstungsfragen: Zu Recht seien die Vorschläge Breschnews für ein ‚Aufrüstungsmoratorium‘, notfalls zunächst sogar ein einseitiges sowjetisches, als perfider Anschlag auf Einheit und Sicherheit des westlichen Bündnisses kompromißlos zurückgewiesen worden; endlich hätten die Sowjets einsehen müssen, wie ernst der Westen die ‚Null-Lösung‘ für die sowjetischen Mittelstreckenraketen meint und wie wenig hier auf eine Verhandlungsbereitschaft, auch bei den doch so entspannungsfreudigen Westdeutschen, zu rechnen ist. Und keiner aus der Garde der Parteiführer hat es sich nach seiner Unterredung mit dem Chef der KPdSU nehmen lassen, vor den Fernsehkameras sein Wohlgefallen an der Intransigenz heraushängen zu lassen, mit der er auf der ‚Lösung‘ des ‚SS 20-Problems‘ bestanden hätte, und so öffentlichkeitswirksam die eigene Lüge zu dementieren, Westeuropas Staatenlenker würden oder wären schon durch diese ‚Wunderwaffe‘ wer weiß wie erpreßbar.
Die vielbeschworene Tugend solcher deutscher Friedensdiplomatie ist nicht aus der Not geboren, sich einer ‚sowjetischen Bedrohung‘ zu erwehren, und schon gar nicht aus dem Zwang, sich im Kielwasser amerikanischer Großmachtpolitik bewähren zu müssen. Der ‚Zwang‘ löst sich unmißverständlich in die dankbar ergriffene Erlaubnis auf, die Sache der Freiheit auf deutsch und mit schwarz-rot-goldenem Sonderanspruch zu ‚verdolmetschen‘.
2. Die Fortschritte der deutschen Einflußnahme auf die Geschäfte des Weltmarktes sind wie die Zunahme des politischen und militärischen ‚Gewichts‘ der BRD mit allerlei ‚guten Gründen‘ legitimiert worden. Wie es sich für eine Demokratie gehört, in der jede staatliche Entscheidung und Maßnahme mit dem Schein der Notwendigkeit versehen wird, der sich die maßgeblichen Instanzen beugen, anbequemen und in ‚unser aller‘ Interesse verschreiben, ist jede Abteilung der Politik mit einem historischen Ehrentitel, gewissermaßen mit einem echt deutschen Markenzeichen versehen worden.
Die sehr bereitwillige Übernahme des Bündnisauftrags, als gutgerüsteter NATO-Partner für den von Anfang an eingeplanten Kriegsschauplatz Europa die nötigen arbeitsteiligen Dienste zu verrichten, liest sich auf gut deutsch sehr schlicht: ‚Unsere Interessen liegen an der Seite der USA.‘ Oder: ‚Die USA garantieren unsere Sicherheit; Einigkeit und Recht und Freiheit, kurz alles, was das Leben lebenswert macht, sind ohne die sehr kostspielige Treue zum Bündnis nicht zu haben.‘ Außenpolitische Kontroversen zwischen den Parteien, die in der BRD um die Macht konkurrieren, verliefen über Jahrzehnte hinweg nach dem öden Grundmuster: Souveränität oder Unterordnung? - und endeten in schöner Regelmäßigkeit bei der tiefen Einsicht, daß erstens eine westdeutsche Souveränität ohne Unterordnung unter die Gebote der bewaffneten Freiheit nicht denkbar sei, zweitens aber Mitmachen noch allemal ‚unsere Stärke‘ garantiert. In Anlehnung an die Bescheidenheitsrituale der frühen Jahre gefielen sich auch spätere Führergenerationen darin, die unausweichliche Beteiligung am Jahrhundertunternehmen eines NATO-geordneten Weltmarkts herunterzuspielen. So eindeutig wie die Parteinahme bei jedem der zahlreichen Kriege ausfiel, so unübersehbar sich unter dem Schutz der Bündnisgewalt die westdeutschen Zuständigkeiten überall auf dem Globus erweiterten, so beflissen gingen deutsche Politiker mit ihrer Selbstdarstellung als der besseren und unschuldigen Hälfte des freien Westens zu Werke. Mittlerweile treten sie bei jeder Affäre der Weltpolitik, ob die Konkurrenz zwischen Nationen nun mit oder ohne Waffen ausgetragen wird, als selbstlose und unverdächtige Vermittler auf. Sie schlagen ‚Lösungen‘ vor, deren Nutzen für die Republik und ihre Geschäftswelt zwar nicht zu übersehen ist, aber durch die Brille eines verantwortlichen Nationalisten gesehen eben nur den gerechten Lohn für weise Zurückhaltung darstellt. Westdeutsche Politiker können tun und mitmachen, was sie wollen, - es ist Friedenspolitik.
Kaum haben sich die USA unter dem Druck der sowjetischen Nachrüstung (die diesen Namen allerdings nie erhielt) dazu bereit gefunden, den diplomatischen und geschäftlichen Verkehr mit der Sowjetunion für bedingt zulässig zu erklären, und ihn auch selbst gepflegt, da hat ein westdeutscher Kanzler eine exklusiv westdeutsche Aufgabe entdeckt. ‚Aussöhnung‘ mit dem Osten stand auf dem Programm, symbolisiert in einem friedensnobelpreisträchtigen Kniefall und exekutiert als Riesengeschäft. Der westdeutschrussische diplomatische Deal hieß: Bedingte Anerkennung der europäischen Machtsphäre der Sowjetunion, ja sogar - vorbehaltlich aller verfassungsrechtlicher Vorbehalte - der DDR und der polnischen Westgrenze gegen die sowjetische Bereitschaft, die BRD als gleichrangigen und gleichberechtigten weltpolitischen Kontrahenten zu berücksichtigen. Mit einem höheren Preis konnte die Sowjetunion den keineswegs prosowjetisch gemeinten Abschied der BRD vom ‚Revanchismus‘ wahrhaftig nicht honorieren. Sie hat einem westdeutschen Anspruch stattgegeben, der ihr umgekehrt von der Weltmacht Nr. i stets abschlägig beschieden wird. Und billiger war für die Bundesrepublik der Einstieg ins Ostgeschäft nicht zu haben, ein Einstieg, der mittlerweile die Früchte eines jahrzehntelangen friedlichen Handels hat reifen lassen. Was ein Fünfjahresplan taugt, fällt zu einem Gutteil in die Kompetenzen risikobewußter deutscher Banken, hängt von den positiven Bilanzen deutscher Aktiengesellschaften ab - und diese Geschäftspanner sind der Freiheit so sehr verpflichtet, daß sie sogar den Umgang östlicher Regierungen mit Dissidenten, Auslandsdeutschen und anderen Weltbürgern zum Argument gegen eine Unterschrift machen. Das Ganze lief im demokratischen Machtkampf als Streit um erlaubtes oder ungebührliches Entgegenkommen gegenüber den Moderatoren von Völkergefängnissen; da es aufgrund der unabweisbaren Vorteile stattfinden ‚mußte‘, entschloß sich der westdeutsche Duden zur Aufnahme der Vokabel Entspannungspolitik‘, damit auch diese Ideologie in den nationalen Sprachschatz festen Eingang fand. Daß westdeutsche Politiker durch ihren Erfolg auch berechtigt sind, ihren östlichen Partnern die Bedingungen der Entspannung zu diktieren und auf europäischen Sicherheitskonferenzen vorzubuchstabieren, was Menschenrechte und politisches Wohlverhalten bedeuten, ist ebenso selbstverständlich wie die Tatsache, daß der Todestag eines erschossenen Gewerkschafters in Deutschland West nichts für einen 17. Juni in Deutschland Ost herzugeben hat.
An Gewalt und Not fehlt es weder in den zivilisierten Staaten Europas, für die Führer der BRD so verbindlich das Wort ergreifen, noch in den Ländern, die deutsche Außenminister stolz ‚unsere Partner in der Dritten Welt‘ nennen. Zur ideologischen Einordnung der Taten, mit denen die BRD zum Fortschritt von Wachstum und Armut beiträgt, leistet die selbstgerechte Nachkriegsbescheidenheit freilich gute Dienste. Die Bemühungen, aus Europa eine Anlagesphäre deutschen Kapitals zu machen und ‚die Gemeinschaft‘ zu einem Bollwerk deutschen Protektionismus und Freihandels auszugestalten, gelten nicht nur als Aussöhnung der im letzten Krieg tragisch gegeneinander aufgebrachten Völker, sondern als ehrenhafter Kampf gegen nationale Egoismen und für eine freie Weltwirtschaftsordnung. Was den zweckmäßigen Einsatz von Völkern der dritten Garnitur und die Freundschaft mit deren Befehlshabern angeht, pflegt die Bundesrepublik zufrieden darauf zu verweisen, daß ihr weder Kolonialismus noch das Beharren auf Privilegien in bezug auf Ex-Kolonien zur Last gelegt werden können. Ein untrüglicher Beweis für den Hilfscharakter, der deutsches Kapital und deutsche Waffen in aller Welt auszeichnet. Die BRD leistet nur Kapital- und Waffen-, also Entwicklungshilfe. Für die gebührt ihr jedes Mitspracherecht.
3. Den Klartext in bezug auf die Zielsetzungen und Wirkungen westdeutscher Politik hat in der fast vierzigjährigen Geschichte der BRD keine machtvolle Oppositionsbewegung in Umlauf gebracht. öffentlich bekanntgemacht wird er von oben, durch die berufenen Führer der Geschicke eines Volkes, das zu spürbaren Einwänden, zu praktischer Kritik sich nicht veranlaßt sah. Der offizielle Antikommunismus der Adenauer-Ära ist von den Wünschen der Bürger ebenso unbehelligt betrieben worden wie die Benützung und Schädigung, wie die Aufweichung des Ostblocks während der ‚Entspannungsphase‘. Daß an den Interessen der eigenen Nation, also auch immer an denen der NATO, die Welt zu messen ist, war und ist Hauptbestandteil des demokratischen Konsens in der BRD - über alle Gemetzel hinweg, aus denen sich die ‚kritische Weltlage‘ erahnen ließ. Stets ist es der jeweiligen Bundesregierung gelungen, ihre Werke als unabdingbare Reaktion auf die ‚Schwierigkeiten‘ glaubhaft zu machen, die ihr andere - von den schwachen europäischen Partnern über die Ölscheichs bis zu dem auf allerlei Umsturz erpichten Kreml - bereitet haben. Die ‚Wende‘ der deutschen Politik seit Beginn der achtziger Jahre ist auch keine Reaktion auf ein massiv vorgebrachtes Volksbegehren; der selbstkritische Charakter, den die Befürworter dieser Wende (die allesamt in Bonn ihren zweiten Wohnsitz haben) ihr zuschreiben, bezieht sich ausdrücklich auf den Erfolg der deutschen Beteiligung an der NATO, an Europa, am ‚Nord-Süd-Dialog‘, an der ‚Entspannung‘ und vielem anderen mehr. Deutsche Politik in den achtziger Jahren beruft sich auf die Tatsache, daß ‚wir wieder wer sind‘ und deshalb ‚Verantwortung zu tragen‘ haben, ja die ganze Welt unter dem Gesichtspunkt ‚unserer Sicherheitsinteressen‘ zu behandeln haben. Die bundesdeutsche Debatte um die Frage: ‚Ist die Friedens-, Entspannungs-, Entwicklungs-, Bündnispolitik gescheitert?‘ lebt von der Gewißheit, daß neue und höhere Aufgaben anstehen und alte und tiefere Werte wieder zu beleben sind. In dem öffentlich inszenierten Streit, wieweit man vom erreichten Stand westlicher Weltregelung und Feindschaftserklärungen gegen Osten aus die bisherigen Fortschritte als gefährliches Versagen und Nachgeben gegenüber östlichen Drohungen interpretieren soll, sind sachliche Differenzen über Ziele und Mittel deutscher Politik kaum auszumachen. Da wird mit aller Freiheit um die Selbstdarstellung als fähige Verwalter deutscher Notwendigkeiten gefeilscht und dabei den Titeln Freiheit, Entspannung, Frieden der zeitgemäße Inhalt verpaßt. Nachdem die Werke der NATO- und BRD-Politik übereinstimmend als Antwort auf eine von sonstwo (d. h. letztlich immer von drüben) ausgehende Gefahr für Frieden, Freiheit, Weltwirtschaft und Selbstbestimmungsrecht der Völker ausgemacht sind, streiten sich Regierung und Opposition darüber, ob die Politik der Rüstungs- und Erpressungsdiplomatie unter dem Titel ‚Rettung der Entspannung‘ durch deutsche Politik im Bündnis oder unter dem Titel ‚Wiederherstellung eines stabilen Gleichgewichts‘ durch eine Politik der Stärke an der Seite der USA verkauft werden soll. ‚Sicherung des Friedens‘ heißt es beidemal, laut SPD durch die ‚leider‘ notwendige ‚Nach-‘ und sonstige Rüstung samt Osthandelsverschärfungen, laut Christenpartei durch eine endlich konsequent durchzusetzende ‚Nach-‘ und sonstige Rüstung samt Verschärfungen im Osthandel.
In seltener Eintracht streiten sich die maßgeblichen Parteien um die Sache der Freiheit. Einerseits läßt schon der weltpolitische Rundblick keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es um die Freiheit der Nation geht, daß sich das westdeutsche Staatswesen ziemlich beschränkt vorkommt, wenn es in sämtlichen Weltgegenden durch seine berufenen Sprecher seinen höchsten Wert in Gefahr sieht. Das unbedingte Recht auf ‚unsere‘ Zuständigkeit wird da proklamiert, und immerzu kommen Sachen vor, die ‚wir‘ nicht hinnehmen können, so daß diplomatischer, ökonomischer oder auch militärischer Druck erforderlich ist - und die Warnung an auswärtige Adressen, sich nicht einzumischen. Andererseits wird mit schonungsloser Offenheit ausgesprochen, daß eben diese Freiheit mit Wohltaten oder Genüssen der Bundesbürger herzlich wenig zu tun hat. Im Gegenteil: Alle Führerpersönlichkeiten wissen zu sagen, daß Opfer für die Freiheit in jeder Größenordnung fällig sind. Materielle Vorteile werden nie aufgezählt, wenn es um das höchste aller Güter geht; umgekehrt gebietet die Freiheit, in der man leben darf, das willige Hinnehmen der ‚schweren Zeiten‘. Offenbar verträgt sich die Freiheit nicht nur sehr gut mit Gewalt, sondern auch mit Not: Bescheidenheit und die Bereitschaft zur bedingungslosen Unterstützung des Staates, der für sie da ist, werden als der ganz selbstverständliche Preis der Freiheit gefordert. 4. Diese Unbescheidenheit gegenüber ihrem Volk vertreten westdeutsche Politiker nach guter demokratischer Sitte so, daß sie jede ihrer Maßnahmen als unausweichliche Reaktion auf äußere und innere ‚Schwierigkeiten‘ darstellen, die sie vorfinden. Gestritten wird zwischen den Konkurrenten um die Macht darum, wer zur Erledigung der Notwendigkeiten berufen und befugt ist - und dieser Streit hat den Regierten eine ‚Wende‘ beschert. Dabei sind zwar sämtliche Zielsetzungen bundesdeutscher Politik zur Sprache gekommen in den kärglich unterschiedenen Lesarten des Auftrags, wie die Nation zu retten sei - die Aufmerksamkeit der professionellen und massenwirksamen Kritik des politischen Geschehens wurde jedoch von der Technik des Machtwechsels weitgehend in Beschlag genommen. Der Koalitionswechsel der FDP erfreute sich nebst den Erfolgsperspektiven der für die Macht in Frage kommenden Parteien der herzlichsten Anteilnahme, und der ‚Glaubwürdigkeit‘ der Beteiligten wie der ‚Regierbarkeit‘ des Landes galten die meisten Sorgen. Die Einleitung des Wahlkampfs durch ein neuartiges Mißtrauensvotum, dessen berechnete Inszenierung für niemanden ein Geheimnis war, wurde zeitweise das Problem Nr. 1 der Nation, so daß über den ‚Geist der Verfassung‘ sowie Stil- und Methodenfragen aller Art so ausgiebig gerechtet werden durfte, daß die längst vollzogenen Übergänge in Sachen politische Ökonomie zum bloßen und selbstverständlichen ‚Hintergrund‘ herabsanken, die Zwecke der Nation endgültig nicht mehr ‚zur Diskussion‘ standen. Damit ist keineswegs gemeint, daß sie in der BRD nicht zur Sprache kommen. Wenn demokratische Parteien um ihre Ermächtigung werben und dabei mit dem Selbstlob hausieren gehen, sie wären noch nie so geschlossen wie auf ihrem letzten keimfreien Parteitag dafür eingetreten, die Opfer durchzusetzen und sich darin auch von niemandem stören zu lassen; wenn sie in ihrer Propaganda mit sämtlichen sozialkundlichen Vorurteilen aufräumen, die der Demokratie den Vorzug zuerkennen, die Regierenden würden sich an den Wünschen ihrer Untertanen beschränken oder auch nur orientieren, dann künden sie auch von den 'Zielen, die sie aufgrund der ‚Lage‘ für fällig erachten.
Diese ‚Lage‘ heißt spätestens seit 1982 schlicht und endlich Krise:
Erstens befand sich das Kapital dank seiner jahrelangen Geschäftserfolge tatsächlich in der Krise, weil es seine Akkumulation über die Schranken des Marktes hinausgetrieben hatte und nun mit der leidigen Tatsache konfrontiert war, daß sich die Produktion und deren Erweiterung nach seinem Maßstab nicht mehr machen ließ; die rentablen Anlagesphären waren dezimiert, nachdem über Jahre hinweg der durch Staat und Geschäftsbanken ständig verfügbare Kredit für recht erfolgreiche Geschäfte ausgenutzt worden war. Die Benützung der herrlichen und nach wie vor vorhandenen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, der ‚Kapazitäten‘, lohnte sich nicht mehr, und das schöne ‚Wachstum‘ kam zum Erliegen. Zweitens galt diese Störung des höchsten ökonomischen Anliegens, das das bürgerliche Gemeinwesen kennt und dem es sich mit seinen ganzen faux frais verpflichtet weiß, als untrügliches Zeichen dafür, daß der Staat und die Menschheit insgesamt in einer Krise seien, was seitdem an den Finanzen des Staates und am deutschen Wald ebenso nachgewiesen wird wie an den vergammelten Jugendlichen und an den Arbeitslosen. ‚Krise‘ wurde zum Synonym nicht nur für fehlenden Profit, für das Erlahmen des Stachels im kapitalistischen Geschäft, sondern auch für sämtliche ‚Probleme‘, die Staat und Kapital für die Regierten und Benutzten geschaffen hatten - und, nicht zuletzt, für die ‚Probleme‘, die sich die politische Verwaltung nun als Programm zurechtdefinierte.
Noch unter der sozialliberalen Koalition lief unter dem Titel ‚Sparprogramm‘ die staatliche Krisenbewältigung der 8oer Jahre an, die unter Berufung auf die Opfer der bisherigen Konjunktur ein ‚Haushaltsloch‘ zum Mißstand erklärte. Die ‚Rettung des Sozialstaats‘ kam auf die Tagesordnung. Der bürgerliche Staat, der mit seinem System von Zwangsversicherungen mit einem festen Bestand an ‚sozial Schwachen‘ rechnet, deren Auskommen die freie Marktwirtschaft nicht garantiert und deshalb ein gesetzlich verordnetes Sparen der Betroffenen ermöglichen soll, hat befunden, daß er dieser ‚seiner Leistung‘ nicht mehr nachzukommen in der Lage sei. Solange diese ‚Leistungen‘ nur von einer verschwindenden Minderheit in Anspruch genommen wurden, dienten die Zwangsbeiträge als Posten in seinem Haushalt - als eine seiner Geldquellen. Kaum haben Millionen die ‚Sozialleistungen‘ nötig, befindet der Staat sie für unmöglich - weil sie ihn ‚belasten‘. Die sozialdemokratisch propagierte ‚Rettung des sozialen Netzes‘ nahm ihren Lauf; daß das Volk ‚über seine Verhältnisse gelebt‘ hatte, war den regierenden Machern nun klar; und unter Verweis auf die bereits erzielten Opfer wurde ‚Solidarität‘ verordnet, wurden die Beiträge angehoben und die ‚Leistungen‘ in allen Abteilungen des Sozialwesens gemindert. Der für ‚notleidend‘ erklärte Staat wußte sich berechtigt, unter täglich vierundzwanzigmaliger Beschwörung des Problems Nr.1, ‚Arbeitslosigkeit‘, Armut und Not zu stiften - üblich ist seitdem der vielsagende Verweis auf die noch fortgeschritteneren Maßstäbe in den USA, wo dasselbe Programm millionenfachen und in Reportagen goutierten Pauperismus hergestellt hat.
Auf der anderen Seite ist - ebenfalls noch unter der alten Regierung - die Dezimierung der Staatsschulden zwar immerzu zum fälligen Hauptanliegen hochgeredet, aber nie vorgenommen worden. Dies jedoch nicht etwa, um per staatlichen Kredit ein ‚Beschäftigungsprogramm‘ welcher Art auch immer in Gang zu bringen. Sondern mit dem ausdrücklichen Beschluß, daß dergleichen heute nicht machbar sei. Da kannten sich die Macher sofort aus: staatlicher Zwang und öffentliche Hilfe konnten die Geschäftsbedingungen des Kapitals nicht ‚ersetzen‘ - und die waren nun einmal nicht gegeben. So wurden an jeder spektakulären Pleite die Prinzipien der ‚freien Wirtschaft‘ und die gebotene Ohnmacht des Staates gebührend besprochen. Freilich nicht ohne den für die Glaubwürdigkeit eines ordentlichen Gemeinwesens so unerläßlichen Hinweis auf die auch noch vorhandene Macht, die zur Bereinigung der Schuldfrage in Sachen ‚Krise‘ eingesetzt gehört. Der Mißerfolg von Teilen der nationalen Geschäftswelt hat sich nach offizieller Lesart nämlich nur wegen der unziemlichen Praktiken der ausländischen Konkurrenz eingestellt — und zu deren Domestizierung will eine deutsche Regierung selbstverständlich alles Nötige unternehmen. Die einschlägigen Mittel der ‚Abhängigkeit‘, die ja sehr fordernd ‚beklagt‘ werden, sind vorhanden, so daß bundesdeutsche Diplomatie seit der Krise zu einem Gutteil aus Erpressungsmanövern in der alten Frage ‚Schutzzoll und Freihandel‘ sowie deren Abwandlungen besteht. Dies wird für um so dringlicher erachtet, als eine Schädigung der Wucht, die der schwarz-rot-golden eingefärbte Kredit und seine Währung auf dem Weltmarkt entwickelt haben, nicht in Frage kommt. Das wäre nämlich durchaus das ökonomische Gebot der Krise, daß als Kapital zirkulierende Eigentumstitel, Wertpapiere wie Konten, die einer Vermehrung gar nicht mehr fähig sind, verfallen. Der Idealismus, untauglich gewordene Geschäftsmittel dennoch als solche zu behandeln, ist gerade in Krisen nicht Sache des Kapitals; wenn freilich die Geschäftswelt diesen Idealismus durch die Gewalt des Staates, der den Kredit beaufsichtigt und sein Funktionieren wie Vorhandensein garantiert, als Pflicht zum Geschenk gemacht bekommt, verhält sie sich nicht anders als unter der gar nicht freien Marktwirtschaft des ‚Dritten Reiches‘. Sie akzeptiert dankend und sieht ein, daß eine Entwertung des national garantierten Kredits und seiner Ausläufer unter ‚heutigen Bedingungen‘ eine Fortsetzung der Krise wäre, die die BRD sich nicht leisten kann. Gegen die Kontraktion des Marktes lassen sich ja auch in Japan, Europa und Afrika recht wirksame Vorstöße machen; eine Kontraktion des Kredits -die Reduktion fiktiven Kapitals, das die Konten der Bundesbank wie der großen Geldinstitute bevölkert und schließlich das Geschäftsmittel der Nation darstellt - kommt eben deswegen aber gerade nicht in Frage. Das wäre ja gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die weltweite ökonomische Präsenz der Nation; eine Weltwirtschaftsmacht würde so eingestehen, mit ihrer inneren Größe und äußeren Pracht, den Unterhalt Dutzender auswärtiger Souveräne eingeschlossen, ‚über ihre Verhältnisse‘ gelebt zu haben. Ein Eingeständnis, das umgekehrt alle kapitalistischen Brüder zu einem gleichartigen Offenbarungseid zwingen müßte - und deswegen unterbleibt, freilich nicht aus Bündnistreue. Die politischen Subjekte der Weltwirtschaft haben sich j a nicht dazu einen weltweiten Kreditüberbau für ihre konkurrierenden Geschäftswelten wie für ihre eigene Ausstattung mit Machtmitteln wie schließlich für ihre Außenpolitik geschaffen, um dann doch ‚bloß noch‘ für dessen einheimischen Ausgangspunkt einzustehen: So haben sie sich ja die Macht zugelegt, die wiederum die Glaubwürdigkeit ihres nationalen Kredits garantiert. Diese Garantie hat ja keineswegs den idealistischen Inhalt oder gar den bloß metaphorischen Sinn, daß die ökonomischen Erträge der Nation, womöglich in Gebrauchswerten gemessen, so etwas wie die Deckung der Guthaben und Verbindlichkeiten darzustellen hätten. Gedeckt und garantiert ist in ‚Weltwährungsfragen‘ dieser Art die diplomatische Überzeugungskraft von Nationen, deren ökonomischen Mitteln sich nur allzu viele Staaten nicht entziehen können, weil ihnen das Rechtsmittel fehlt, das ihnen Widerspruch einzulegen gestatten würde. Dieses Rechtsmittel heißt Gewalt; und die ist allemal dort am besten ausgestattet, wo sie die Erzeugung von Reichtum erfolgreich geboten hat. Deren Untertanen haben daher auch ein unwidersprechliches - weil von ihrer Obrigkeit ihnen beigelegtes - ‚Recht‘ darauf, daß ihr Staat auch und erst recht in einer Weltwirtschaftskrise zu allerletzt fiktiven Reichtum streicht; und den schönsten Anspruch auf die Fortführung der internationalen Konkurrenz unter den härteren Bedingungen eines längst krisenträchtig gewordenen Kreditüberbaus haben selbstredend deren erste Opfer: die Millionen aus Geschäftsgründen Entlassenen.
Daß bei diesem Typ der Krisenbewältigung die Arbeitslosenzahlen sinken, will allerdings kein maßgeblicher Politiker behaupten -im Gegenteil. Vorsorglich werden Hochrechnungen auf Jahre voraus veranstaltet, die ein schönes kontinuierliches Steigen verheißen. Gute Dienste tun die im und für den guten Geschäftsgang Entlassenen wie die durch Pleiten überflüssig Gemachten eben nur als Opfer, die sich für den Anspruch der Nation auf Erfolg zitieren lassen; den Beweis, daß ihr Wohlstand sich mit der Durchsetzung der Republik einstellt, mag kein Politiker antreten. Beliebt ist dagegen der Verweis auf die Jahre nach dem Krieg, in denen das Volk gezeigt hat, was es verträgt. Der Krisenfanatismus der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wird von ihren Volksvertretern ausgiebig mit der Botschaft versorgt, daß alle dauerhaft unter den neuen Geboten der staatlichen Notwendigkeiten zu laborieren haben - weil dies allein dem Staat die Freiheit garantiert, die er braucht.
Die ständige Erhöhung der Staatsschulden darf dabei von niemandem als Indiz dafür gewertet werden, daß das ‚Gemeinwesen‘ offenbar gar nicht daran denkt zu sparen. Schließlich ist die Behandlung der Mehrheit als Kostenfaktor für den ökonomischen Behauptungsdrang der Republik selbst nicht mehr und nicht weniger als ein Stück Sicherheitspolitik. Genauso wichtig, ja eigentlich viel gravierender - weil die Voraussetzung einer gelungenen Abwicklung jeder Phase der Konjunktur - ist der Kampf gegen die Gefährdung der politisch-militärischen Sicherheit. Ohne nachdrückliches Bestehen der NATO darauf, daß die ganze Weh Geschäfts- und Einflußsphäre der ‚Industrienationen‘ bleibt, wären ja die Opfer der arbeitenden Menschheit glatt ‚sinnlos‘, und insofern ist die Unterordnung der Lebensansprüche unter das Ziel ‚Wachstum‘ gerade in der Krise zwar unerläßlich, aber nicht hinreichend. Das zweite Charakteristikum der ‚Lage‘ lautet nämlich auch in aller Öffentlichkeit schon seit langem: es fehlt an allen Ekken und Enden bei der Verteidigung. Und vor dem Programm einer endgültige ‚Sicherheit‘ in militärischen Dingen stiftenden ‚Null-Lösung‘, die auf ganz andere Resultate berechnet ist als auf den Abbau von ein paar russischen Raketen - daß die SS 20 nicht Anlaß der ‚Nachrüstung‘ war, weil es sie bei ihrem Beschluß noch gar nicht gab, wird 1983 ebenso offen heraus verkündet wie der Beschluß, höchstens einmal propagandistisch ‚neue‘ Kompromißbereitschaft in Genf anzusagen, die ein Entgegenkommen nicht vorsieht -, haben sich die ‚Ansprüche‘ von wohlstandsverwöhnten Deutschen schon gleich zu relativieren.
Dennoch ist das ‚politische Leben‘ im Frontstaat auch in den 8oer Jahren nicht ohne ‚Bewegung‘ geblieben. Sowohl die Unterwerfung der Lohnabhängigen unter die Bedürfnisse des Kapitals und seine Konjunktur wie die Verpflichtung derselben Leute als Staatsbürger auf den Nationalismus, der sich ‚im Bündnis‘ gegen den Osten bewähren will, ist bislang erfolgreich abgewickelt worden - und deshalb auch das Mittel für die Wende‘. In einer funktionierenden Demokratie wie der bundesrepublikanischen gibt es eben wie Konkurrenz um die Macht, in der sich politische Parteien die Akklamation des offiziellen Nationalismus zunutze machen. Alle Erfolge der gerade im Amt befindlichen Regierung, und vor allem die Ideologien, mit denen diese ihren Untertanen die Maßnahmen deutet, die sie ihnen aufherrscht, geraten da zum Hebel für Kritik: die ausgemalte ‚Not‘ der sozialliberalen Regierung, welche sie angeblich zu ihren Entscheidungen zwang, wurde in den Einwänden der christlichen Konkurrenz zu einem stattlichen Sündenregister; Staatsverschuldung, Arbeitslose und Pleiten wurden Beweise für die Zerrüttung der Nation, die nun der ‚Rettung‘ bedurfte. Sollizitiert wurde die einzige demokratisch erlaubte Form des ‚Ungehorsams‘: der Stimmzettel, durch den die vorhandene Unzufriedenheit eine andere Mannschaft ermächtigt, die noch nicht einmal darauf angewiesen ist, die Beseitigung eines einzigen Anlasses für Unzufriedenheit als ihr Vorhaben vorzuspiegeln. Sie bringt ‚Deutschland in Ordnung‘, fordert neue Opfer und hetzt bei der Fortsetzung des Vorkriegsprogramms auf die ‚Erblast‘, die jede ‚Härte‘ rechtfertigt. ‚Im Interesse Deutschlands‘ kalkuliert die alte Regierungspartei auf die schlechten Erfahrungen des ‚Wählers‘ mit den ändern im Amt, so daß schon in der Wahlkampfagitation der Nationalismus des totalen Wählers und sonst nichts zum Zuge kommt - jener Nationalismus, der die Untertanen allemal teuer zu stehen kommt, wenn er unter Berufung auf die ausgezählten Stimmen an ihnen exekutiert wird.
Auf diese Weise ergänzen sich in der deutschen Demokratie der 8oer Jahre - vor wie nach Wahlen, mit oder ohne außerordentliche Urnengänge, unter dem Gebot der einen wie der anderen Volkspartei - öffentliche Rekrutenvereidigungen im Fackelschein mit der gezielten Schaffung eines modernen Pauperismus, steuersparende Parteifinanzierungsskandälchen mit Lohnsenkungen jeder An und eine ungehinderte Aufrüstung mit ebenso neuen wie befreienden Richtlinien für den Waffenexport.
Eine Beschränkung der Souveränität - etwas, das der Demokratie zumindest in Sozialkundebüchern zum Lob gereichen soll - ist dabei auch nicht von einer Seite üblich, die sich so viel als die institutionalisierte Opposition der Lohnabhängigen in der Demokratie zugute hält. Der DGB bringt es nun schon seit Jahrzehnten fertig, die Opfer seiner Mitglieder als ‚Aufbau‘ der Bundesrepublik zu feiern. Alle Klagen über die nicht zu übersehenden Kosten, die Kapital und Staat dem Geldbeutel und der Gesundheit der gewerkschaftlich Vertretenen aufherrschen, will ein Arbeiterfunktionär von heute weder als Versäumnis seiner Organisation noch als Auftrag an sie verstanden wissen. Höchstens als ihr Recht, mit zu beraten und mit zu bestimmen, wie sich der ‚soziale Frieden‘ am gedeihlichsten zum Wohle der Nation ausnützen läßt. In Sachen Krise ergehen sich sämtliche Organe der Gewerkschaften in der Propaganda der Ideologien, die Politiker und ihnen geistig kongeniale Wissenschaftler in die Welt setzen. Unternehmer sind prinzipiell ‚Arbeitgeber‘, für deren florierende Geschäfte ‚vernünftige Lohnabschlüsse‘ immer zu tätigen sind. Höchstens der Vorwurf, sie würden - entgegen einer höheren nationalen Verpflichtung -Geld behalten statt Arbeiter arbeiten zu lassen, wird da noch laut. Und in der nationalen Kritik am Ausland sind sie sich allemal mit den Regierenden einig: von den einmal modischen Einwänden gegen Ölscheichs über die Vorwürfe gegen ‚die Japaner‘ bis zu den obligatorischen Wiederholungen der tiefen Erkenntnis, daß deutsche Arbeiter unter der SS 20 ganz besonders zu leiden und für die entsprechenden ‚Gegenmittel‘ geradezustehen haben, verstehen sie sich auf jede aktuelle Ideologie zur ‚Erziehung‘ von Proleten zu Nationalisten. Alles, was der bundesrepublikanische Staat seinen arbeitenden Bürgern ‚vorenthält‘, trifft auf Verständnis bei dieser Gewerkschaft - die mitten in der Vorkriegswirtschaft auf Demonstrationen ganz erlesener Art viel mehr Wert legt als auf den Einsatz für Korrekturen am Preis der Arbeit. In Veranstaltungen zur ‚Rettung des Sozialstaats‘, die bewußt nicht als Kampfansagen organisiert sind, läßt sie sämtliche Rechte der Arbeiter hochleben -als ihr Verdienst; lobt die Tüchtigkeit und Opferbereitschaft ihrer Mitglieder - preist also die Pflichterfüllung. Daß ‚Gerechtigkeit‘ kein Kampfprogramm mehr ist - was sie in den ersten Tagen der Arbeiterbewegung war -, sondern das schiere Ideal einer Zwangsgemeinschaft, zu der jeder in seinem Stande die ihm auferlegten und gemäßen Opfer beizusteuern hat, führt der DGB nach allen Regeln der staatsbürgerlichen Moral Monat für Monat vor - vor allem in Tarifrunden. Die ‚Wende‘ hat er pflichtgetreu mit Feiern absolviert: zum 50. Jahrestag der faschistischen Machtübernahme ist ihm die Unerträglichkeit eines Staatswesens am Herzen gelegen, das Gewerkschaften nur als Beauftragte der Nation wirken lassen wollte. Einen Widerspruch zu den gleichzeitig veröffentlichten ‚Wahlprüfsteinen‘, in denen dem Arbeiter empfohlen wird, sich ganz gewissenhaft der Anliegen der BRD in ‚schweren Zeiten‘ anzunehmen, haben nur wenige Gewerkschafter bemerkt. Die sind freilich in dieser Organisation, die den Part einer freiwilligen Staatsgewerkschaft spielt, nicht gerne gesehen. Ihnen ist nämlich jene ‚Vernunft‘ fremd, die den fliegenden Wechsel zwischen Gewerkschafts- und Politikerkarrieren in der BRD-Demokratie so selbstverständlich macht. In diesem Staat ist es offenbar dasselbe, Arbeitervertreter zu spielen oder Minister zu sein.
5. Immerhin blieb das Bild der nationalen Einheit eine Zeitlang getrübt - und zwar nicht durch Freunde des Klassenkampfes, die gegen die Freiheit von Kapital und Staat einigermaßen wirksam Einspruch erhoben, sondern durch Freunde des Friedens. Der gar nicht schwierige Schluß auf den Zweck einer Politik, die in der Vermehrung ihres militärischen Potentials ihr aktuell wichtigstes Mittel hat, ist allerdings selbst von den Bürgern nicht gezogen worden, die in erheblicher Anzahl Zweifel angemeldet haben -daran, ob ihre Regierung den richtigen Weg geht, wenn sie sich an der Sicherung des Friedens zu schaffen macht. Die Friedensbewegung hat sich nämlich der offiziellen Doktrin angeschlossen, daß Politik, die deutsche vor allem, zur Verhinderung von Kriegen veranstaltet wird; und vom Glauben an diese Lüge, die noch stets in Zeiten der Kriegsvorbereitung ihre Konjunktur bekommt, zehrt die in Demonstrationen vorgetragene kritische Haltung zu den einschlägigen Entscheidungen der amtierenden Regierung. Umgekehrt haben sich die als Sicherheitsbeauftragte der Nation angesprochenen Politiker samt ihren amerikanischen Kollegen in kaum zu überbietendem Zynismus dieses Glaubens bedient und den Protest zurückgewiesen.
Auf das öffentlich wiederholt abgelegte Bekenntnis ‚Wir haben Angst!‘ reagierte der alte Kanzler im Brustton der Entrüstung und mit der Versicherung, daß man ihm genauso unterstellen müsse, mit Angst und Sorge erfüllt zu sein. Seinen Willen zur Aufrüstung hätte man eben aus dieser seiner Besorgnis heraus zu würdigen und als Wahrnehmung seiner höheren und damit einzig gültigen Verantwortung zu billigen. Sekundiert wurde er von christlichen Kollegen in Bonn und von amerikanischen ‚Verantwortlichen‘, die noch eindeutiger klarstellten, daß einem Bundesbürger zwar Angst vor der SS 20, nicht aber vor den Waffen der freiheitlichen ‚Politik der Stärke‘ ansteht. Die Herrschaften im NATO-Hauptquartier haben zu diesem Behuf den Spruch ‚Lieber rot als tot!‘ ausgegraben und ihn als Ausweis einer mit der Freiheit und ihrem Schutz unvereinbaren Haltung gebrandmarkt. Ganz nebenbei ist ihnen auch noch die Unverschämtheit eingefallen, daß Gerät und Soldaten der NATO-Streitkräfte nicht zuletzt dafür ersonnen worden wären, daß Friedensdemonstrationen möglich bleiben.
Über öffentliche Auseinandersetzungen dieser Art ist man zwischen Regierung, Opposition und Friedensbewegung dahin übereingekommen, sich keinesfalls mehr wechselseitig den ‚Friedenswillen abzusprechen. Die Redensart von der ‚Friedensfähigkeit‘ machte die Runde - und die Vorstellungen der streitenden Parteien unterzogen sich gegenseitig einer Überprüfung in bezug auf ihren Realismus. Ausgehend von der auch noch als tröstlich empfundenen Vorstellung ‚Krieg lohnt sich nicht!‘ - mit der moderne Bürger von den nüchternen Gesetzen der kapitalistischen Welt immerhin soviel mitbekommen haben wollen, daß es in ihr um Geschäfte geht und ein zerbombtes Land nebst Millionen Leichen unmöglich dem ansonsten üblichen Materialismus selbst ihrer Staatsmänner und Wirtschaftsmanager eine Geschäftsgrundlage bietet —, gelangten die Diskutanten der anonymen ‚Kriegsgefahr‘ zu einem gemeinsamen Fehlschluß: ‚Krieg kann also niemand ernstlich wollen!‘ Mit Ausnahme einer Minderheit, die in den Gewinnen von Rüstungsmonopolen doch noch ein materialistisches Motiv für Kriege entdeckte, das zum üblichen Geschäftsinteresse ‚paßt‘, fanden sich so die Zuständigen und Betroffenen zu einer nationalen Suche nach dem Weg zur Erhaltung des Friedens zusammen. Der Unterschied zwischen den beiden Lagern ist allerdings kaum zu übersehen: Während die Zuständigen, darin keineswegs (bestochene) Knechte der Rüstungsindustrie, sondern deren Auftraggeber, in der Herstellung der Kriegsbereitschaft den ‚realistischen‘ Kurs praktizieren, gestatten sich die Betroffenen und in Zweifel Gestürzten die theoretische Eröffnung von Alternativen. Ob aus christlicher Weltanschauung oder aufgrund der Perspektiven, die sie der veröffentlichten Rüstungsdiplomatie und Strategie entnehmen, zu Skeptikern des Bonner und Washingtoner Kurses geworden - keine Beschwerde und kein Appell versäumt es, die verantwortliche Regierung bei ihrer ‚Verantwortung für den Frieden zu ‚packen‘.
Längst sind die Friedensdemonstranten dazu übergegangen, das Bekenntnis abzulegen, das man von höherer Stelle eingefordert hatte. ‚Einseitig‘ wollen sie nicht sein, also auch nicht zwischen den Urhebern und den Adressaten der aktuellen und so ominös zutage getretenen ‚Kriegsgefahr‘ unterscheiden. Selbst die ‚linken‘ und als ‚moskaufreundlich‘ denunzierten Anhängsel der Friedensbewegung sind angesichts beschlossener und täglich abgewickelter Aufrüstung ganz brav für ‚Abrüstung in Ost und West‘! Während der Kanzler für das Bedürfnis nach Frieden auch einmal tiefes menschliches Verständnis äußert, um sich Kritik an seiner praktischen Friedenspolitik zu verbitten, während christliche Politiker den mit der Bergpredigt bittenden Friedensfreunden auf Kirchentagen und sonstwo ihr ‚Mißverständnis‘ zurechtrücken (die moralischen Maßstäbe ihres Glaubens haben für die Erduldung von Gewalt, für Gehorsam zu dienen, nie und nimmer jedoch für eine Rechtfertigung von Auflehnung gegen unangenehme strategische Vorhaben und Kalkulationen der Obrigkeit mit ihrem Volk), ergeht sich die Friedensbewegung in ‚Vorschlägen‘ zum Verzicht auf die gerade per Militärhaushalt georderten Waffen. Aber nicht in der veröffentlichten Absicht, nach der geeigneten Form des Kampfes Ausschau zu halten, die es den rüstungsbeflissenen Ministern und Parlamentariern unmöglich macht, sich auf Kosten der arbeitenden und wählenden Mehrheit ihre Raketenpolitik zu genehmigen. Vielmehr im Zutrauen auf das Gehör, das die Alternative zur offiziellen Friedenspolitik bei den Machern der beklagten Aufrüstung zu finden wünscht. War der alten Ostermarschbewegung bei ihrem Protest gegen die atomare Bewaffnung die ‚Theorie der Abschreckung‘ präsentiert worden, so beruft sich die heutige Friedensbewegung auf den Segen der ‚Abschreckung‘, auf die Lüge von der ‚stabilisierenden Wirkung‘ von Kriegsmaterial für den Frieden - zählt Raketen und sortiert sie nach ‚ausreichend‘, ‚überflüssig‘ und ‚zu viele‘. Leute, die erschrocken sein wollen über die kaltschnäuzigen Berechnungen ihrer Strategen, legen ohne weiteres den Maßstab der Kriegsverhinderung an den Ausbau der Streitkräfte an; und wenn sie dann nach reiflicher Berechnung des gleichgewichtsdienlichen Arsenals zu der betrüblichen Feststellung kommen, daß ihre politischen Führer anderen Kalkulationen folgen, monieren sie keineswegs deren Verlogenheit oder suchen nach den Kriterien, denen die NATO-Regierungen sich verschrieben haben. Lieber warnen sie Gott und die Welt nochmals eindringlich vor der ‚Gefahr‘, die von den Mitteln der Kriegsführung ausgeht, geben zu bedenken, daß ‚zu viele‘ Tötungsmaschinen herumstehen - nämlich genug, um die feindliche Bevölkerung jedes Lagers gleich mehrmals um die Ecke zu bringen -, und verraten damit gleich zweierlei; Erstens, daß sie auf Einsichten in kriegstechnische Kalkulationen ihrer Gegner gar nicht scharf sind, also gar nichts wissen wollen von der Kalkulation mit einem Sieg, für den die Vernichtung von Menschenleben eine Selbstverständlichkeit ist und der mehr erforderlich macht als das zum Umbringen von Menschen nötige Sprengstoffquantum; zweitens, daß sie bei ihrer von oben so verteufelten Protestbewegung weniger die Glaubwürdigkeit der hohen Herren für sich und andere in Abrede stellen wollen als ihre eigene Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen.
Diese Glaubwürdigkeit steht und fällt mit der Einhaltung der Gebote, welche von den Zuständigen der bundesdeutschen Demokratie seit den ersten Tagen erlassen werden. Dabei genügt es nicht, mitten in Kriegszeiten - im Sommer 82 wurde ja an mehreren Stellen des Erdballs manches Gefecht ausgetragen, bei nicht zu knapper Beteiligung von NATO-Staaten, NATO-Waffen und Freunden der BRD! — den Fehler zu begehen, für ‚den Frieden‘ zu sein und darin die Phrasen der großen Politik von unten zu wiederholen. Das Absehen von den Gegensätzen der Weltpolitik, die immer wieder einen Waffengang für die Macher der ‚Probleme‘ und ‚Krisenherde‘ nötig erscheinen lassen, darf zwar als Sorge um das rechte Gelingen der ‚Friedenspolitik‘ vorgetragen werden, jedoch nicht als Gegnerschaft zu ihr. Der Verdacht, mit dem rührseligen Ruf nach Frieden das Vertrauen aufzukündigen, die eigenen Herrschaften beim Regieren und Aufrüsten stören, sie also bekämpfen zu wollen, muß entkräftet werden! Die deutsche Friedensbewegung hat sich diese Aufgabe in einer Weise zu Herzen genommen, die jeden Anschein von Opposition zerstreut. Und auch von ‚Opportunismus‘, von um des Anklangs bei zu werbenden Teilen der Bevölkerung willen eingegangenen ‚Kompromissen‘ bei der Formulierung ihrer Kritiken und programmatischen Aufrufe, kann kaum die Rede sein. Vom Stolz auf die Vielfalt ihrer Unterabteilungen, vom beständigen Hinweis darauf, daß jeder Deutsche gleich welcher politischen Gesinnung in ihr Platz habe, ist der Übergang zum streitbaren Ausschluß von Leuten mit der verkehrten Auffassung schnell zu haben. Der Aufruf zur Toleranz untereinander wird da gleich zur Achtung ‚Andersdenkender‘ erweitert, unter die dann die Politiker fallen, die jenes gefürchtete Kriegsgerät bestellen, um es von ihren Untertanen bezahlen und bedienen zu lassen. Die Sorge um ‚den Frieden‘ gerät da unversehens zum Bemühen um die Erhaltung des ‚inneren Friedens‘, zum Ausschluß von Gegnern der Kriegsvorbereitung, die den Verdacht eben nicht entkräften wollen, daß sie den autorisierten Veranstaltern von Geschäft und Gewalt das Vertrauen und den Dienst aufzukündigen angetreten sind. Selbst ‚Linke‘, die diesen Verdacht um der Zugehörigkeit zu einer solch breiten Bewegung willen ausräumen möchten, können sich der sehr prinzipiellen ‚Fahndung‘ nach ‚einseitigen‘ Kritikern, die zwar auch ‚Frieden‘ sagen, aber nicht mit den ‚guten Deutschen‘ gegen Moskau sind, nicht entziehen. Bundesdeutsche Linke pflegen ihren Nationalismus ‚daher‘ durch die konsequente Unterlassung von Kritik an und in der Friedensbewegung - sie hoffen auf sie. Sie sind sich sogar - wenn sie nicht wie die DKP den Verzicht auf die Stichworte ‚Afghanistan‘ oder ‚Polen‘ in irgendeiner Resolution für den Fortschritt der Friedensbewegung in Richtung ‚wirklicher Friedenspolitik‘ halten - mit den alternativen Verteidigern ‚unserer‘ Freiheit darin einig, daß der geistige Zusammenschluß mit einer staatlich gemaßregelten ‚Friedensbewegung Ost‘ ein ganz unverdächtiges gesamtdeutsch-nationales Anliegen ist und daß Solidarität mit Solidarnosc gegen den russischen Unfreiheitsdogmatismus sich für einen kritisch-verantwortlichen Staatsbürger gehört, obwohl und gerade weil die NATO-Politiker dort ein ‚Argument‘ für ihren Rüstungskurs entdeckt und nach Kräften praktisch gegen den Ostblock geltend gemacht haben. Für einen Grund zur westlichen Einmischung halten sie das allemal, und die praktizieren sie dann auch - ganz moralisch - friedlich und unter geflissentlicher Absehung davon, daß die regierenden Politiker diese nationalen Freiheitsideologien längst aus ganz anderen praktischen Gegnerschaftserwägungen mit genau den grundlegenden und letzten Mitteln ihrer Staatsgewalt, den Waffen und der Drohung mit ihrem Einsatz, in die Tat umsetzen. Hier wie anderswo profiliert sich die friedensbewegte Bürgerschaft als sauberer Anwalt nationaler Freiheitsanliegen und macht das Ideal eines besseren Imperialismus - Gegnerschaft gegen Osten eingeschlossen — ohne seine militärischen Gewaltmittel praktisch. Dabei fehlt ihnen nicht einmal der Realismus, sich mit der tagtäglich vorgeführten Tatsache abzufinden, daß ihre Vorstellung von einem Deutschland, einem Europa, einem Westen, kurz einem Imperialismus ohne Kriegs- und Weltkriegskalkulationen, nur ein Wunschtraum von Bürgern ist, der nur diese letzte, aber unerbittliche Konsequenz der mit Geschäft und Gewalt geregelten Weltordnung kritisiert. Angesichts des ständig wachsenden Waffenpotentials und seiner beständig zunehmenden Drohung gegen die Sowjetunion demonstrieren die Repräsentanten der Friedensbewegung an all den beständig aufgemachten Entscheidungspunkten für die ‚Verteidigung der Freiheit‘, ob sie nun Afghanistan, Polen, SS 20, Pershing, El Salvador oder Türkei heißen, daß sie eine friedlichere und angeblich erfolgreichere Alternative anzubieten hätten, und daß sie sogar selber noch all die Entschuldigungsgründe in Form von angeblichen ‚Schwierigkeiten‘ speziell deutscher Politiker dafür zu liefern bereit sind, daß ihren Vorschlägen kein Gehör geschenkt wird. Der linke Anhang der Friedensbewegung hält dies nicht für einen Fortschritt auf dem Weg zur ‚Einsicht‘ in -wenn es dann soweit sein sollte -, ‚leider unabweisliche Notwendigkeiten‘ oder auch ‚tragische Verstrickungen‘ der Politik, sondern leistet sich ungerührt die Interpretation, dieser immer friedlicher werdende Bürgerprotest sei irgendwie schon auf dem besten Weg zum Sozialismus. So bestätigen Fortschrittsmenschen ihren Übergang zu einer Vorstellung von Sozialismus, der mit dem Ideal des Friedens zusammenfällt. Für den Klassenkampf scheint ihnen das ‚Modell‘ bzw. der ‚Kriegsschauplatz Deutschland‘ keine Gründe mehr zu liefern.
Von der allzu fordernd klingenden, weil noch Mißtrauen enthaltenden Parole ‚Frieden durch Politik‘ ist die Friedensbewegung abgekommen - auf ihrer großen Demonstration im Sommer '82 hat sie ‚Frieden statt Politik‘ zur Schau getragen. Während in den Bonner Amtsgebäuden die NATO-Führer Zeugnis davon ablegten, was sie unter ‚Friedenssicherung‘ verstehen - Falkland war gerade abgewickelt, Israel traf gerade die Vorbereitungen zur Invasion im Libanon -, nämlich die Vorkriegs-Konkurrenz der Waffen in Richtung auf einen Sieg fortzusetzen, gefielen sich 250000 Demonstranten in der Zurschaustellung ihrer Harmlosigkeit. Ganz bewußt verwarfen sie Parolen und Argumente gegen den in der bundesdeutschen Hauptstadt anwesenden Kriegsrat - und waren wieder einmal ganz einfach für ‚den Frieden‘. Mit diesem ‚menschlichen‘ und alle ‚häßlichen Töne‘ vermeidenden Auftreten erniedrigt sich die bundesdeutsche Friedensbewegung wie ihre Vorläufer in vergangenen Vorkriegszeiten zur Begleitmusik der Kriegsvorbereitung - und im Kabinett wird die Freiheit des Regierens nach den selbstgewählten ‚Sachzwängen‘ in vollen Zügen genossen, unbeeinträchtigt durch den Kampf um die Macht, der in der Demokratie zu den guten, weil institutionalisierten Sitten gehört.
Eine Schranke findet die politische Gewalt der BRD also höchstens in ihrer Geschäftsgrundlage, im amerikanisch buchstabierten NATO-Vorbehalt, der im verstandenen Auftrag zur Beteiligung am Aufrüstungsprogramm des Westens, der zweiten Heimat jedes guten Deutschen, nur halb erfüllt ist. Die andere Abteilung des Vorbehalts erstreckt sich auf die Bewegungsfreiheit der deutschen Wirtschaft, die in Sachen Erdgas-Röhren, Stahl und EG-Markt den Akkumulationsbedürfnissen der USA sowie deren politischen Zielsetzungen nun immer öfter in die Quere kommt. Die einschlägigen Klarstellungen des Erlaubten und Verbotenen erinnern deutsche Politiker zwar wieder nachdrücklich daran, wem sie - wie damals in Nachkriegszeiten - ihre Souveränität zu danken haben. Nun - in Vorkriegszeiten - an ihre Rolle erinnert zu werden, daß sie einen am Imperialismus beteiligten Frontstaat regieren dürfen, wird sie aber nicht aus der Fassung bringen. Wie man sieht, sind sie gewillt und mittels der inzwischen errungenen Stellung in der Welt der Finanzen, Diplomatie und Waffen auch in der Lage, ihr Volk zur ‚Bewältigung der Schwierigkeiten‘ und ‚Lösung der Probleme‘ rücksichtslos heranzuziehen. Not, Gewalt und Moral stehen in der BRD also auf der Tagesordnung, demokratisch verordnet.
Die ‚guten Gründe‘ fürs Mit-Machen, die schon immer Ideologien für Opfer waren, sollten daher nicht nur der theoretischen Kritik anheimfallen...